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Die verlorenen Kinder von Halabja

Ganz am Ende der autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak befindet sich der kleine Ort Halabja. Umgeben von den Bergen, die Karl May in seinem Roman Durchs wilde Kurdistan beschreibt, direkt an der Grenze zum Iran. Zu dieser Jahreszeit ist die gesamte Landschaft in gelb-grauen Sandtönen gehalten. Im Winter schneit es auf den Bergen, im Frühling sieht es aus wie in den Alpen. Der Name Halabja steht wie kein anderer für die Anfal-Operation Saddam Husseins, also den Völkermord an den Kurden im Irak. Während des Iran-Irak-Krieges war der Ort lange unter iranischer Kontrolle.

Als die Kampfjets kamen

Am Morgen des 16. März 1988 flogen irakische Kampfjets Luftangriffe mit Napalm und Sprengbomben, um die Türen und Fenster der Häuser zu zerstören. Ziel dieser ersten Welle war es, den Ort für den nächsten Schritt vorzubereiten. Ein Brautpaar, welches gerade auf dem Weg zur Trauung war, geriet in den Angriff. Der Bräutigam starb, die Braut wollte ihn aber beerdigen, bevor sie ihre Heimat verlässt. Die Beerdigung fand nur wenige Stunden später statt.

Sie hatten den Leichnam in ein weißes Tuch gewickelt und befanden sich auf dem Weg zum Friedhof, als die irakischen Kampfjets französischer Bauart wiederkamen. Hubschrauber lotsten die Jets in die richtige Position, dann warfen sie das Giftgas ab. Die charakteristischen gelben Rauchsäulen stiegen ca. 50 Meter in die Höhe. Die Bomben wurden in das Ortszentrum und kreisförmig um den Ort geworfen, damit niemand entkommen konnte. Durch die erste Angriffswelle waren die Häuser beschädigt und das Giftgas konnte ungehindert eindringen. 

Fast keine Überlebenden

Die Hochzeitsgesellschaft starb, so wie die meisten Menschen in diesem Ort. Neben Halabja wurden dutzende weitere Orte angegriffen, deren Namen kaum ein Mensch je gehört hat. In den folgenden Tagen flog die iranische Armee westliche und lokale Journalisten nach Halabja, wodurch dieser Ort so bekannt wurde. Während die Journalisten sich ihren Weg durch diese Hölle bahnten, fanden sie immer wieder Überlebende, oft Kinder. Sie versuchten, diese zur iranischen Armee zu bringen, um sie versorgen zu lassen. Meistens starben sie noch in ihren Armen. Viele der Journalisten haben den Tag bis heute nicht richtig verkraftet. Die Überlebenden wurden in den Iran, oft nach Teheran, geflogen. Dort wurden sie behandelt. Dort gibt es auch einen Friedhof für die Menschen, die nicht gerettet werden konnten. 

Unter den Geretteten befand sich ein drei Monate alter Junge. Wer ihn wie gerettet hat, weiß niemand mehr. Als er in Teheran ankam, erhielt er einen Namen und wurde versorgt. Niemand wusste, ob er noch eine Familie hat oder nicht. Für die irakischen Kurden war der Kampf gegen Saddam noch lange nicht zu Ende. Sie mussten schwer verletzt fliehen und wussten nicht, ob sie gerade ihre Kinder zurückgelassen oder verloren hatten. Eine ganze Generation gebrochener Menschen bewegte sich traumatisiert durch die kargen Berge. Das einzige, was sie noch antrieb, war der Wille, irgendwie zu überleben. 

Die verlorenen Kinder

Der Junge entwickelte sich gut und kam in eine Adoptivfamilie nahe der afghanischen Grenze. Dort wuchs er fernab der großen weiten Welt auf. Er wusste kaum etwas von der Anfal-Operation und von der Geschichte seines Volkes. Er war ein normaler Iraner in einem Dorf am Ende der Welt. Als er siebzehn Jahre alt war, starb seine neue Mutter. Er musste überlegen, was er nun mit seinem Leben anfängt und recherchierte zu seiner Vergangenheit. Er fand schnell heraus, dass er kein Einzelfall war, sondern dass es tausende wie ihn gab. Man nennt sie die verlorenen Kinder von Halabja. Er wollte in seine Heimat zurückkehren und seine Familie suchen, aber er hatte keine Ausweisdokumente. Er hatte auch keine Staatsangehörigkeit und nicht mal eine richtige Identität. Weder kannte er seinen richtigen Namen, noch sein Geburtsdatum. 

Einem staatenlosen anonymen Niemand hilft niemand auf der Welt. Er war verloren irgendwo in einem kleinen Dorf. Aber er gab nicht auf. Er nahm Kontakt zum Tehran Peace Museum auf, welches schon häufiger in solchen Fällen vermittelt hatte. Dieses konnte ihm Dokumente besorgen, welche ihm den Grenzübertritt nach Kurdistan (Irak) über den Grenzübergang Halabja erlaubten. So kehrte er 2005 in seine fremde Heimat zurück. Er wurde in der Gemeinschaft aufgenommen und man half ihm. Hier gibt es eine Kartei von vermissten Eltern und Kindern und erfahrene Menschen, die potentielle Kandidaten zusammenbringen. Für ihn kamen fünf Familien in Frage. Als die Möglichkeit bestand, DNA-Tests zu machen, rückte der Tag der Gewissheit näher. Im Alter von 22 Jahren wusste er endlich, wer er war. Und er konnte zum ersten Mal seit 1988 seine Mutter in den Arm nehmen, die den Völkermord überlebt hatte. Seine vier Brüder, seine Schwester und sein Vater waren jedoch von Saddams Leuten ermordet worden. 

Zurück in Halabja

Unter Tränen erzählte er uns im Halabja-Monument seine Lebensgeschichte und wie er den Weg zurück in seine Heimat und zu seiner Familie fand. Dort arbeitet er heute als einer der jüngsten Menschen, die den Völkermord überlebt haben. Er ist sechs Jahre jünger als ich und musste so viel mehr in seinem Leben durchstehen.

Wir unterhalten uns lange über die deutsche Beteiligung an Saddams Waffenprogrammen. Was ist mit den westlichen Unternehmen geschehen, die an Saddam verkauft haben? Dassault, Züblin, ABB, Kolb, Klöckner, Mannesmann und BASF … bis heute große Namen der jeweiligen Branche und bis heute unangetastet. In Deutschland hat es schließlich gute Tradition, Unternehmen in Ruhe zu lassen, die beim Völkermord helfen.

„Für die Leute in Deutschland ist Giftgas eine ganz furchtbare Sache, Kunden im
Ausland stört das nicht“ – sagte Dieter Backfisch, Sprecher der Kolb-Pilot Plant etwa eine Jahr nach den Angriffen.

Karl Kolb erhielt ein Bundesverdienstkreuz. Die Opfer erhielten nichts. 

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