KurdistanKurdistan-FeatureTerrorismus

Into the fire

Mitten in der Nacht klopfte es an meiner Tür. „Spettro“ kam rein, in voller Montur. An seiner Seite hing das M4 Sturmgewehr, an der Brust eine Glock und daneben sechs Magazine für das M4. Am Helm konnte ich im Gegenlicht das Nachtsichtgerät erkennen. „Bro! We‘re going into the fire. Your chance“ („Kollege! Wir gehen ins Feuer. Deine Chance“). Wenn einem der Ausbilder der Spezialeinheit in Hörweite der IS-Front so etwas sagt fragt man sich: Die Chance auf was? Auf die beste Story im Leben? Oder auf die letzte?

Auf der anderen Seite schläft man nicht in einem zusammengefallenen Haus in Raketenreichweite des IS, wenn man ein Problem damit hat. In dieser Gegend schlief ich eh mit der dicken Klasse vier-Weste neben mir, den Helm darüber. Im besten Fall kann man sich auf die Weste rollen, die über den Kopf klappen und den Helm aufsetzen. Und genau das tat ich. Die Kamera mit dem lichtstarken Objektiv lag daneben, zwei Akkus waren in der Gürteltasche. Am Gürtel war auch ein Liter Wasser und das Medikit, um im Notfall eine Schussverletzung an mit selber versorgen zu können. Dinge, die man blind trainiert, in der Hoffnung, sie nie zu brauchen. Ich hatte da auch nie Sorge drum, bis zu dieser Nacht. An sich war der IS doch vertrieben. An sich sollte hier nichts los sein. Aber in der Praxis sah das anders aus. 

Zwei Minuten später saßen wir im gepanzerten Humvee, der ein paar Inhaber hinter sich hatte: Die Amerikaner haben sie im letzten Golfkrieg her gebracht und der irakischen Armee überlassen. Diese hat sie in Mossul zurück gelassen. Dort hat sie der IS erbeutet und umlackiert. Anschließend haben die Peschmerga sie erbeutet. Die haben das Geschütz im amerikanischen Kaliber .50 gegen das „Russen .50er“ getauscht und die Wagen weiter benutzt. Sie sind sicher, aber unbequem. Vier enge einfache Sitze, wie auf einem Klappstuhl. Wahnsinnig laut. Zum Glück hatte ich aber Gehörschutz auf, über den ich dem Funk folgen konnte. Neben Sorani (Kurdisch) wurde Englisch von den europäischen Ausbildern gesprochen: „Zehn Minuten bis zum Dorf. Wir holen IS-Geiseln raus“. Neben einer Stadt hatte der IS einige Dörfer überfallen, diese aber nicht gesichert. In größeren Gebäuden hatten sie Menschen zusammengetrieben und erwarteten die Befreiungsversuche. Das heißt Häuserkampf – die übelste Sorte von Kampf. Kurze Distanzen, unübersichtliche Lage. Langsam fragte ich mich, ob das eine gute Idee war. Aber im Wagen bleiben ist auch keine Option. Die werden gerne das Ziel von Granaten- oder Raketenwerfern. Meine Weste hält drei direkte Treffer aus einer AK47, ich habe Material für zwei Schussverletzungen an den Gliedmaßen dabei. Im Kopf bestätigt man sich darin, dass der IS eh schlecht schießt.

 „Dreißig Sekunden!“ – die gut ausgestatteten Ausbilder klappen die Nachtsichtgeräte runter, ich grübele, wie ich am schnellsten die 400kg-Tür aufbekomme. „GO GO GO“. Meine Idee ist, mich einige Meter neben den Wagen flach auf den Boden zu legen – das ist relativ sicher. Da wir bereits bemerkt wurden, ging der Beschuss jedoch direkt los. Man sieht Umrisse von Menschen in dem Sekundenbruchteil, in dem das Mündungsfeuer der Waffe zu sehen ist. Alle rennen in Deckung, hinter die ersten Gebäude. Das Ziel ist eine Schule und so viele Geiseln wie möglich raus zu bekommen. Noch in den ersten Sekunden rennen dutzende bis hunderte Menschen auf unsere Fahrzeuge zu. Die Soldaten müssen in Sekundenbruchteilen entscheiden, was zu tun ist. Einige der Männer haben Waffen dabei, andere tragen schußsichere Westen. Aber es sind auch Frauen und Kinder dabei – also eher kein Angriff. Oder eine Finte? Die Soldaten entscheiden richtig und schießen nicht: Es sind Leute, die sich versteckt hatten und die ihre Chance zur Flucht sehen. Die Männer tragen ihre Kinder vor sich, damit sie mit ihrem Körper die Kugeln des IS abfangen. Einige sterben direkt vor uns. Viele Kinder überleben dadurch, dass die Eltern ihr Leben für das ihrer Kinder eingetauscht haben. Familien rennen auf mich zu, wollen Schutz von mir. In dem Moment gibt es keine Zeit, etwas zu erklären. Die einzige Idee ist: Alle Fahrzeuge quer stellen und einen Schutzwall bilden. Wenn die Projektile auf den gepanzerten Wagen prasseln, während man drin sitzt, ist das, als hätte man Migräne und jemand würde neben einem Schlagzeug spielen. „Fünf Projektile pro Scheibe, bis sie bricht“ geht mir durch den Kopf. Die Wagen sind gedreht. Hunderte werfen sich dahinter in Deckung. Ich denke, dass man die Menschen retten muss, die im Feld liegen und verbluten. Aber meine Ausrüstung reicht bei so Verletzungen gar nicht aus. Nichtmal für einen. Ein Geistlicher kniet mitten im Feuer und erweist einem Freund die letzte Ehre, ohne getroffen zu werden. Der Moment, in dem man beginnt, an Wunder zu denken. 

Um uns herum liegen stark blutende Menschen. Ein Mann, aus dem das Blut pulsierend heraus spritzt, lächelt mich an und spricht vermutlich seine letzten Worte. Sein kleines Kind überlebt. Ob die Mutter lebt oder wo sie ist, weiß niemand. Andere Leute nehmen das Kind und krabbeln weiter. Eine Familie hat eine große Plastiktüte dabei. Jemand zeigt auf die Kamera und mich und zeigt an, dass ich zu ihnen kommen soll. Der Gehörschutz hat Mikrofone außen, damit man sich unterhalten kann. Allerdings gehen diese bei mehr als 85db aus, damit man den Knall der Waffen nicht hört. In dieser Situation völlig unnütz da er dauernd an und aus geht. Also nehme ich ihn ab. Der englischsprachige Mann brüllt mich an und versucht etwas zu erklären von einer Mine, einer Beerdigung und einem Kind. Mir dämmert worum es geht: Ihr Kind ist auf eine Mine getreten. Den zerfetzten Körper haben sie in der Plastiktüte dabei, um ihn zu beerdigen. In der Sekunde wird mir so schlecht, dass ich den Wagen ankotze. Aber dafür habe ich eigentlich gar keine Zeit. Also ziehe ich den Gehörschutz wieder auf und signalisiere ihnen mein Mitgefühl. Sie verstehen, dass ich gerade nichts machen kann.

Von vorne gibt es einen ungeheuren Lärm von den Sturmgewehren. Über uns donnern die Kaliber .50 MGs. Da hilft kein Gehörschutz. Immer wieder hört man den Knall der Granaten. Nach fünfzehn Minuten ist die Operation gelaufen. Man hört noch einzelne Schüsse und das „One clear“ – „two clear“ und so weiter – also die Bestätigung, dass die einzelnen Teams ihren Bereich befreit haben. Alle haben Angst, dass das Gebäude vermint ist. Leichen werden auf die Motorhauben und das Dach unserer Fahrzeuge gestapelt um diese in Sicherheit zu bringen und beerdigen zu können. Die Fahrzeuge fahren so schnell wie möglich wieder los, in der Ferne stehen zwei Reisebusse, die die Menschen aufnehmen sollen.

So schnell, wie dieses Inferno begann, war es auch wieder zu Ende. Die Elitesoldaten steigen, völlig verschwitzt, in die Wagen ein. Hell wach – getränkt von Adrenalin. Alle tasten sich ab und prüfen, wessen Blut sie auf der Kleidung haben. In so Momenten nimmt man Schussverletzungen nicht unbedingt sofort wahr. Einige sind in den Extremitäten getroffen, das lässt sich relativ gut versorgen. Niemand hat einen Treffer auf einen Knochen oder den Kopf bekommen, einige wurden von ihren Westen gerettet.

Nur eine Stunde, nachdem ich geweckt wurde, war ich wieder in einer Kaserne. Mir war nun klar, warum man das „into the fire“ („direkt ins Feuer“) nennt. Die Bilanz: einige verletzte Soldaten, vermutlich 20-30 tote Zivilisten. Die toten Terroristen zählt niemand. „etwa fünf“ Terroristen wurden gefangen genommen und waren auf den Weg zum Nachrichtendienst Asayesh. 

In meinem Kopf rotierte alles. Was war gerade eigentlich passiert!? Und wie kann das für diese Menschen, die Geiseln, die Soldaten und die Terroristen, Alltag sein? Wieso leben wir in der gleichen Sekunde in Europa ganz friedlich und streiten uns auf Twitter über Rechtschreibfehler? Wie kann das der gleiche Planet sein?

Die Soldaten saßen bei einer Wasserpfeife und wenigen Bieren zusammen und gingen schlafen. Ich saß bis zum Morgengrauen auf dem Flachdach des zweistöckigen Gebäudes und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Es funktionierte nicht. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die kann man nicht verstehen. 

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