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Kharkiv: Stadt der russischen Saboteure

Kharkiv – Sonne und Kaffee

Junge Menschen kaufen sich Cappuccino mit süßem Sirup, den Kindern ein Eis. Der Souvenirverkäufer bietet auf englisch seine Ware an. Die „Brücke der Liebenden“ könnte dem Foto nach in jeder touristischen Gegend der Welt liegen. Doch sie liegt in Kharkiv, einer wichtigen Universitätsstadt in der Ukraine, nahe der russischen Grenze.

Das Foto kann den Stress und die Angst im Kopf der Menschen nicht wiedergeben. Nächtelange Luftalarme lassen einen nicht schlafen. Wochenlang hört man das Einschlagen der Artillerie oder der Raketen. In der gesamten Stadt sind Fenster zersplittert, Gebäude zerstört oder niedergebrannt. Doch neben den großen Kriegswaffen gibt es auch Menschen in der Stadt, die im Auftrag der russischen Armee Sabotageakte verüben.

Auf der Kühltruhe sind Souvenirs. Sie zeigen: Kharkiv, den Sprengstoff Suchhhund Patron und Soldaten

Ich traf einen Kommandanten der Territorial Defence, also der Freiwilligen, welche zusammen mit den regulären Soldaten die Ukraine gegen die russische Armee und deren Schergen verteidigen. Der Kommandant berichtet, dass Kharkiv von einzelnen russischen Saboteuren und Mördern unterwandert wird. Doch den Menschen im Westen den Unterschied zwischen gezielten Mordanschlägen und Artilleriefeuer zu erklären, scheint schwierig: „Die Menschen bei euch verstehen den Unterschied nicht. Für die ist einfach irgendwie Krieg und da sterben halt Leute. Es gibt hier Saboteure, Sniper, Sprengstoffanschläge. Die Russen versuchen Politiker, Soldaten und wichtige Persönlichkeiten auszuschalten. Also die Macher, die meinungsbildenden Menschen. Wenn diese tot sind, kann man sie durch pro-russische Marionetten ersetzen und auch auf diese Art versuchen den Widerstand in Kharkiv zu brechen. Eigentlich wäre es Aufgabe des SBU (Nachrichtendienst) so etwas zu verhindern. Aber da gab es einige, die unfähig oder unwillig waren, der Lage Herr zu werden. Schon vor dem Krieg waren sie keine Hilfe. Auch heute vertrauen wir ihnen nicht wirklich.“

Streetfood in Kharkiv

Und mit einem Blick auf meine schußsichere Weste fragt er: „Was trägst Du da?“ – „VPAM 6“ antwortete ich. Also eine Schutzklasse, welche vor Sturmgewehren schützt, aber nicht vor Scharfschützen. Er nickt. „Ja, heute benutzen die russischen Scharfschützen eh keine Dragunov mehr. Eher .338 um auf Nummer sicher zu gehen, das halten auch die dicken Westen nicht mehr“.

Was nach Kriegs-Fachsimpelei klingen mag, ist in Wirklichkeit eine sehr wichtige und relevante Information. Er erklärt, dass die russischen Scharfschützen nicht mehr die Waffen nutzen, gegen die man sich früher mit stärkeren schusssicheren Westen geschützt hat. Heute benutzen sie richtig große Kaliber, welche jede schußsichere Weste und jeden Helm durchschlagen und deren Projektile auch gepanzerte Fahrzeuge durchschlagen können. Das heisst: Man ist nicht mehr sicher vor ihnen. Und es soll eine Warnung für unsere Fahrt an die Front sein.

Zerbombte Tankstelle

Die Front befindet sich nördlich, südlich und östlich von Kharkiv. Nur wenige Kilometer trennen die Stadt und die Kampflinie. Der Weg dorthin führt über kaputte Straßen und durch zerstörte Dörfer. Tankstellen, Brücken, Verwaltungsgebäude und Produktionsstandorte wurden offensichtlich besonders gezielt beschossen.

Fidelis Cloer zeigt der russischen Luftwaffe die Mittelfinger

Die Orte sind voller Metallzäunen und Mauern, welche von Schrapnellen und Projektilen zersiebt wurden. Auf den Straßen gibt es Löcher, welche von allen Arten von Explosionen zeugen. Teilweise liegen Überreste von abgeschossenen Panzern, Waffen und anderem Gerät herum. In Sichtweite explodieren Dinge und die daraus resultierenden Rauchsäulen sind gut sichtbar. Zunächst ist unklar, ob es die eingehende oder ausgehende Artillerie war. Dann wird klar, dass es ein russischer Luftschlag, nur zwei Kilometer weiter, war.

Die Ukrainischen Soldatinnen und Soldaten an der Front sind freundlich, aber zurückhaltend. Viele möchten nicht fotografiert werden und sie wollen nicht, dass Stellungen oder militärisches Gerät fotografiert wird, da jedes Detail der russischen Armee helfen könnte ein lohnenswertes Ziel anzugreifen. Sich an solche Absprachen zu halten ist Teil der Presseakkreditierung, welche einem fast uneingeschränkten Zugang zur Armee gewährt. „Loose lips sink Ships“ nannten es die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg. Sinngemäß: Eine unbedachte Äußerung gegenüber der falschen Person kann ein ganzes Schiff sinken lassen. Die Soldaten vor Ort bestätigen das, was wir bereits gesehen haben: Ein Großteil der zerstörten Gebäude sind keine militärischen, sondern zivile Einrichtungen. Die russische Armee versucht das normale Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer zu zerstören, den Alltag, die Arbeitsplätze, Supermärkte, Tankstellen. Daher werden die Menschen in den besetzten Gebieten auch gedemütigt, gefoltert, vergewaltigt und erst dann ermordet. So war es in vielen Gebieten. Traurige und beklemmende Berühmtheit erlangte der Ort Bucha.

Bucha und Kharkiv trennen auf der Karte fünfhundert Kilometer. Die Route führt einen durch viele Orte, welche alle die gleiche Geschichte erzählen. Zerstörung, Tod, Leid. Bucha kennt zurecht
jeder – doch unzählige andere Orte, deren Name niemand kennt, haben das gleiche durchlitten. Vor mehr als drei Monaten führte mich der Weg an Bucha vorbei durch Leichen und deren Teile. Heute ist alles aufgeräumt, es befinden sich viele Menschen auf der Straße. Und mittendrin sind Mengen von zerstörten Gebäuden und Einschußlöcher.

Eine bizarre Kombination von Normalität und Kriegsschäden. Hinter einem ausgebrannten Transporter, neben einer ausgebrannten Mall, steht eine Neue. Von den Appartementtrümmern nebenan blickt man auf beides. Im Nachbarort Dmytrivka stehen neben der Straße mehrere abgeschossene Panzer und andere Armeefahrzeuge. Familien halten hier, machen Fotos und schauen sich mit den Kindern das zerstörte Gerät an, bevor sie mit ihrem Wocheneinkauf nach Hause fahren.

Manche Häuser stehen scheinbar unbeschädigt, während die daneben zerstört sind. „Wen es erwischt hat und wen nicht… wenn es nur irgend einen Sinn ergeben würde“ übersetzt eine junge Frau die Worte ihrer Mutter. „Unser Haus hatte ein paar zerstörte Scheiben – wo unsere Nachbarn sind, wissen wir nicht. Ihr Haus steht nicht mehr. Das mag jetzt merkwürdig klingen, aber mit den Kindern die Panzer hier angucken ist unsere Art darüber nachzudenken, ohne die Kinder zu sehr damit zu belasten. Aber die Kinder wollen sich das nicht lange ansehen. Die Panzer sind kaputt – langweilig. Sie wollen Spass haben, Action sehen, ins Kino. Die zieht es nach Kyiv“.

Was die Mutter gemeint hat, sieht man gut in Kyiv. Hier ist seit Wochen Normalität eingekehrt. Junge Menschen sitzen in bunten Klamotten in den Straßencafes, gehen auf Parties oder gehen in die Beach Bar und fahren Wakeboard oder spielen Volleyball. „Das ist doch, was die Russen zerstören wollen. Unser Leben, Spaß, Partys, hübsche Frauen kennenlernen. Das lassen wir uns aber nicht nehmen! Wir kämpfen gegen sie, wir haben Spaß und wir gewinnen am Ende“, fasst es ein junger Soldat zusammen, während er mit seiner Frau im Sonnenuntergang an der Dniepr Cocktails trinkt.

Wakeboard und Cocktails in Kyiv

Die Lage in der Ukraine ist weiterhin schwierig. Derzeit erobert die russische Armee wieder Territorien im Donbas – in Deutschland übernehmen wieder andere Themen die Titelseiten der Zeitungen. Komplizierte Sachverhalte, wie die Sabotageakte, finden kaum Beachtung. Doch diese Entwicklung kann gefährlich sein. Die Ukraine sollte im Focus des Westens bleiben.

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