Kherson, eine strategisch wichtige Hafenstadt im Süden der Ukraine, liegt am Ufer des Dnipro-Flusses und unweit des Schwarzen Meeres. Mit einer Fläche von etwa 135 Quadratkilometern und einer Vorkriegsbevölkerung von fast 300.000 Menschen war Kherson vor dem Krieg ein wichtiges industrielles und wirtschaftliches Zentrum.

Im März 2022 wurde Kherson als erste große Stadt von russischen Truppen eingenommen, nachdem diese die Ukraine überfallen hatten. Die Einnahme der Stadt ermöglichte es Russland, die Kontrolle über einen Großteil des umliegenden Gebiets zu erlangen und eine wichtige Brücke für weitere militärische Operationen zu schaffen. Nach monatelangen heftigen Kämpfen gelang es ukrainischen Streitkräften im November 2022 jedoch, Kherson zurückzuerobern, was einen bedeutenden Wendepunkt im Krieg darstellte. Zeit, sich die Stadt anzusehen.

Bis zur letzten Tankstelle vor dem Ortseingang verläuft die Anfahrt ganz normal. Dann wird es hektisch: Schusssichere Westen und Helme anziehen und ab hier die Fenster herunterrollen, damit einen im Falle einer Explosion die Splitter der Scheibe nicht verletzen können. Und nicht mehr anschnallen. Wenn eine russische FPV-Drohne kommt, möchte man sofort herausspringen können. Im Hintergrund hört man schon die Artillerie feuern, am Horizont sieht man Rauchschwaden. „Das ist das Linke Ufer, wo die Russen sind, alles ok!“ Sagt unser Begleiter und wirkt dabei ganz entspannt.
Die Fahrt durch Kherson gleicht eher einer Achterbahn. Innerorts wird weit über 100 km/h gefahren, die meisten Ampeln sind aus. Man benutzt möglichst nur die Straßen parallel zum Fluss, weil man dann von der anderen Seite des Flusses aus kaum zu sehen ist. Die Straßen, die auf den Fluss zu führen, werden häufiger angegriffen. Teilweise von Scharfschützen, teilweise von Drohnen. „Ich bremse gleich direkt vor dem Haus ab, halte unter dem Baum, dann springt ihr raus und rennt ins Haus.“ Wird mir erklärt. Genau so machen wir es. „Zum Glück ist das hier der sichere Teil der Stadt“, erklärt mir Chris Knickebocker, der schon häufiger hier war. „Da drüben wäre es richtig stressig geworden!“.
Das Haus ist dunkel. Alle Fenster und Glastüren sind mit Holzbrettern verrammelt. Zum einen kann man so schlechter sehen, welches Haus benutzt wird, zum anderen hält es kleine Splitter oder Steine von Explosionen ab. Bei nahen Treffern bringt es natürlich nichts, bei welchen, die weiter weg sind, schon. Mir wird genau erklärt, wie im Falle eines Angriffs unsere Fluchtroute ist und was an unserer aktuellen Position besonders gut und weniger gut ist.
Kherson steht unter permanentem Artillerie- und Drohnenbeschuss. Die Ausgangssperre beginnt bereits um 20 Uhr. Also gehen wir erst mal in den Supermarkt und statten uns aus.

Dort mangelt es an nichts. Von frischen Mangos über Hafermilch bis hin zu lokalem Fisch ist alles zu haben. Mutige Lkw-Fahrer bringen alles weiterhin bis an die Front. Alles andere liefert die fast berüchtigte „Nova Post“, welche völlig unbeeindruckt vom Krieg mit unglaublicher Zuverlässigkeit Pakete zustellt.
Die Stadt wirkt leer. Viel zu wenige Menschen für die Größe der Stadt. Aber es finden Straßenbauarbeiten statt und der Bus fährt. Die Bushaltestellen sind inzwischen jedoch 70 cm dicke Betonbunker, da Russland gezielt die Haltestellen bombardiert hat. So sollte die letzte Bevölkerung vertrieben werden.
Wer noch da ist, hat eine Aufgabe. Sei es Menschen versorgen, evakuieren oder das Land verteidigen. Oder wie wir: Darüber berichten.

Per WhatsApp kommt die Nachricht, dass das Haus einer „Babushka“, einer „Oma“ bombardiert worden ist. Wir fahren hin. Das Dach fehlt. Glas- und Holzsplitter haben die Straße eingedeckt. Aber sie öffnet uns die Tür. Sie war im Gebäude, als die Artillerie nur wenige Meter weiter einschlug. Wie durch ein Wunder ist sie unverletzt. Aber ihrem Hund geht es nicht gut, der sei nun sehr aufgeregt, berichtet sie. Sie strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Es sind bereits Freiwillige da, welche aufräumen und mit Werkzeugen, Holzplatten und Planen alles provisorisch abdichten werden. Das fehlende Dach mit Planen, die fehlenden Scheiben mit Holz. Man ist füreinander da, wenn es eng wird. „Das sollte doch die UN oder so jemand machen“, sagt Chris. „Die haben dahinten mal einen ganzen Lkw mit Dämmmaterial geliefert. Aber die Häuser haben nicht mal mehr Dächer. Deswegen steht immer noch alles herum.“

Diese Einschläge, zerstörte Häuser, verletzte und getötete Menschen gehören hier zum Alltag. Daher sind die Freiwilligen auch gut vernetzt und sofort zur Stelle. Wir fahren weiter, um Soldaten zu treffen und mit diesen über die Lage zu sprechen. „Oh, da können wir nicht parken, da liegen Clusterbomben“, sagt Chris und zeigt auf ein Schild, welches das nicht nur erklärt, sondern auch die schwer erkennbaren kleinen „Bomblets“ zeigt, auf die man nicht treten darf. Also parken wir auf der Straße und bewegen uns nur auf gut sichtbarem, asphaltiertem oder betoniertem Untergrund. Wir tragen permanent unsere schusssicheren Westen und haben Helme dabei.

Vorn an meiner Weste hängt mein Drohnen-Detektor, der aussieht wie ein Funkgerät. Er scannt permanent gängige Drohnenfrequenzen nach Aktivität und meldet diese. Man weiß nicht, welche Drohne wohin fliegt, aber man weiß, dass man aufpassen muss. In der Tasche habe ich ein CryptoPhone, ein verschlüsseltes Handy, welches aber auch das Handynetz auf Sicherheitslücken scannt. Dies meldet sich zum Beispiel, wenn sich ein Abhörgerät als Sendemast ausgibt oder wenn ein gehackter Sendemast meinem Handy anbietet, die Verschlüsselung zwischen Gerät und Handynetz abzuschalten.

Das Handynetz ist sicher, der Luftraum über uns nicht. Der Drohnenscanner vibriert und piept und zeigt 2-3 Drohnen an, die sich vermutlich nähern. Die russischen Drohnen sehen aus wie kleine, ferngesteuerte Hubschrauber mit einer Granate darunter. Die Piloten sehen auf einem kleinen Display, wohin sie fliegen. Sie haben nur 10-20 Minuten Akkulaufzeit und müssen schnell ein lohnenswertes Ziel finden. Wir gehen in den Schatten, dicht an einem Gebäude. Da die Sonne scheint und die Kameras der Drohnen oft nicht gut sind, bietet schon diese einfache Maßnahme etwas Schutz. Die Drohnen fliegen schnell, die Monitore der Piloten sind klein. Wenn man sich nicht bewegt, kann man schlichtweg übersehen werden. Wir hören die Drohne. Das ist der Moment, der sehr unangenehm ist. Zwischen Leben und potenziellem Tod liegen Sekunden. Und man weiß nicht, was gerade passiert oder wie man der Situation jetzt noch sinnvoll entgehen soll. Wir sind zu dicht am Fluss, wir sehen ihn schon, die Frage ist: Wurde die Drohne gezielt auf uns geschickt, weil wir aufgefallen sind, oder ist es Zufall?
In dem Moment biegt eine Fahrschule in die Straße ein. Weniger als tausend Meter von der russischen Armee entfernt. An der Front. Mit einer Drohne in der Luft. Gut – man muss eben Prioritäten setzen. Ein Stück weiter hören wir Kalaschnikowfeuer. Die Drohne muss also dort sein, wo die Soldaten gerade sind. Wir gehen zum Auto und hören einen lauten Knall. Entweder haben sie die Drohne abgeschossen, oder diese ist eingeschlagen. In dem Moment meldet mein Scanner auch: alles ok – keine Drohne mehr. Die unglaubliche Anspannung, die vor 20 Sekunden noch nicht da war, vor zehn Sekunden da war, fällt jetzt wieder ab. Alles gut gegangen. Mal wieder.

Wir fahren weiter und treffen die Soldaten in einer Pizzeria. Es gibt alles, was auf der großen Karte ist. Es läuft Musik. Vereinzelt hört man die Artillerie knallen. Die Soldaten berichten, dass die Lage relativ gut sei. Nicht perfekt. Aber ihre Kameraden sind gut, auch sie haben gute Laune. Sie wünschen sich mehr internationale Unterstützung. Sie können sich nicht so verteidigen, wie sie wollen. Sie würden gerne mehr gegen die russische Armee vorgehen, diese aus ihrem Land jagen. Doch es fehlt Munition und wenige spezielle Waffensysteme aus dem Westen. Und wenn der Krieg vorbei ist, wollen sie auf der Krim am Strand feiern. Das höre ich seit drei Jahren oft. Wenn die Krim wieder in ukrainischer Hand ist, wird vermutlich das ganze Land zu einer mehrtägigen Party dahin aufbrechen.
Einer der Anwesenden führt Evakuierungen aus den umliegenden Gebieten durch. Mit einem ungepanzerten, 20 Jahre alten Wagen. Mit einer einfachen, schusssicheren Weste, die für den Zweck nicht geeignet ist. Aber er meckert nicht. Er macht es gerne. Und er nutzt die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen.
Wir nähern uns der 20-Uhr-Grenze und kehren zum Safehouse zurück. Dieses wurde vor der Invasion von normalen Zivilisten bewohnt. Sie haben es der Armee zur Verfügung gestellt. Es ist alles da: Teller, Tassen, Kleidung im Schrank, Fotoalben. Sehr bizarr. Alle gehen mit der Einrichtung sehr vorsichtig um. Man ist hier nur zu Gast und respektiert die Gastfreundschaft der abwesenden Eigentümer.
Uns stehen zehn Stunden Ausgangssperre bevor. Wir sehen Memes und YouTube Videos an. Und sporadisch spielen wir „Was knallt da so?“ Und versuchen, die Art der Explosion und die Entfernung zu raten. Wir nehmen noch einen Podcast auf und gehen früh schlafen.
Nachts wird man ab und zu von der Artillerie geweckt. Aber man stumpft ab. Wenn das Haus nicht wackelt, ist es weit weg. Wenn das Haus wackelt … dann ist es halt näher. Vor zwei Jahren wurde ein Stück weiter beinahe unser Hotel getroffen und die Fenster flogen auf. Das war der einzige Moment, in dem wir tatsächlich aufgestanden sind. Sonst versucht man einfach weiterzuschlafen. Sonst zermürbt einen der Schlafmangel.
„Wir müssen die Leute hier irgendwie besser ausstatten. Die Helfer evakuieren Leute und haben nicht mal richtige schusssichere Westen“ – Also kommt uns die Idee, einen Shop aufzusetzen, in welchem man eine Weste und einen Helm für Helfer in der Ukraine kaufen kann. Mit wenigen Nachrichten im Chat ist die Ware bestellt, der Shop läuft nach wenigen Stunden.
Am nächsten Morgen packen wir unsere Sachen und fahren weiter. Ich habe alles erledigt, was ich zu erledigen hatte. Ich möchte keine Sekunde länger hier sein. Wenn man in Kherson war, erscheint der Rest der Ukraine sicher. Nach rund einer Stunde sind wir im „sicheren“ Teil. Wir ziehen Weste und Helm aus, schnallen uns wieder an, rollen die Fenster im Wagen hoch und fahren Richtung Polen.
Wenn man die Ukraine verlässt, weiß man die NATO-Geschütze EU sehr zu schätzen.