Kurdistan

Mal eben ein Waisenhaus bauen

Paruar Bako sitzt auf den robusten Holzmöbeln vor einer Holzhütte. Die Sonne scheint, um ihn herum spielen Kinder. Es könnte auf einem der vielen Fake-Oktoberfeste in Deutschland sein. Doch wir sitzen nur eine Woche nach der Wahl des kurdischen Parlaments nahe der drittgrößten Stadt der Region. Hinter uns liegt der Lake Mossul, eine Autostunde weiter fanden vor wenigen Jahren die großen Gefechte mit dem IS statt. Vor uns sehe ich die Zelte des jesidischen Khanke Camps. Vom letzten Zelt bis zur Shoppingmall nach europäischen Standards sind es 15 Minuten. Hier liegen völlig verschiedene Welten so nahe beieinander.

Paruar und ich haben einiges gemeinsam: Ähnliches Alter, maßgeblich in Deutschland groß geworden, politisch interessiert. Wir beide sahen im Fernsehen die Aufnahmen vom 74. Genozid an den Jesiden, der am 3. August 2014 stattfand. Ich war wenige Wochen zuvor in Mossul gewesen und plante meine nächste Kurdistanreise. Paruar kennt die Gegend ebenfalls, plante auch wieder her zu kommen. Aber unsere Beweggründe waren anders: Ich wollte verstehen, was hier vor sich geht. Paruar sah sein Volk, seine Freunde, seine Verwandten sterben. Andere wurden verschleppt, missbraucht oder sind einfach nie wieder aufgetaucht. Was macht das mit einem? Was macht man selber in so einem Moment? Man ist machtlos gegen die größte Terrorgruppe unserer Zeit. Und dennoch wollte Paruar nicht aufgeben. „Man hat immer eine Wahl – irgendeinen Weg muss es geben!“. Paruar entschied sich, nach Kurdistan zurückzukehren und denen eine Zukunft zu geben, die ihre soeben verloren hatten. Er gründete den Verein Ourbridge und baute ein Waisenhaus. Eine so unglaubliche Tat, die in einen so kurzen Satz passt. Er warb überall für Spenden und startete einen Video-Blog, um die Aufmerksamkeit auf sein Projekt zu lenken. Viele Leute, die mit der Region verbunden sind, wurden aufmerksam. Der Rest nicht. Wenn man in Deutschland jemanden nach „Jesiden“ fragt, dann wissen die Leute meist gar nichts darüber. 

Paruar stand allein auf weiter Flur mit einem Projekt, das ihm über den Kopf zu wachsen drohte. Doch auf der anderen Straßenseite beginnt die zweitgrößte jesidische Stadt. Eigentlich ist es keine Stadt, sondern das Flüchtlingscamp „Khanke“. Platz drei der jesidischen Städte belegt das  Camp „Sharya“. Die Jesiden haben sich im Laufe ihrer grausamen Geschichte an traurige Rekorde gewöhnt.

Im Camp Khanke gab es genug gut ausgebildete Menschen, die bei Paruars Projekt helfen konnten und wollten. Schon am ersten Tag gab es genug Personal, Schlafplätze, eine große Küche und bunte Wände. Mehr, als diese Kinder seit langem gesehen hatten. Aber es fehlten Spezialisten für Traumatherapie und Geld, um simple Dinge wie einen Spielplatz zu bauen. Und Paruar wollte etwas viel wichtigeres anbieten: Bildung! Doch eine Schule zu errichten, ist etwas ganz anderes als ein Waisenhaus. Das Geld dafür kam von vielen Kleinspendern sowie dem Gangster-Rapper Xatar und der Barzani Charity Foundation. Durch diese Spenden wurde ein Anbau und ein Umbau ermöglicht. Statt eines Waisenhauses für 100 Kinder ist nun zusätzlich eine Schule für 300 Schüler entstanden. Draußen entstand ein großer, grüner Spielplatz mit Trampolin, Bäumen und einem zum Klettergerüst umgebauten Container. Aber hier enden die Pläne nicht. Die Schule soll ihre Kapazität verdoppeln und es soll ein weiteres Projekt dazu kommen: Umweltschutz!

Menschen wie Paruar zeigen, dass man im Leben immer eine Wahl hat. Man kann sein Schicksal und das von vielen anderen selber in die Hand nehmen und etwas bewegen, wenn man sich nur traut. Immer, wenn ich Paruar sehe, denke ich an die Worte Rupert Neudecks: „Ich will nie wieder feige sein“.

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