Mit Kaka Hama durch Kurdistan

Ich habe erneut die Autonome Region Kurdistan (kurz: Kurdistan) im Norden des Irak besucht. Hier wird in einem aufstrebenden kleinen (fast) Land die ISIS bekämpft, während in weiten Teilen des Landes das ganz normale Leben weiter geht. Weder fliegen einem in den großen Städten Bomben um die Ohren, noch gibt es an der Front Dauerbeschuss, wie im ersten Weltkrieg. Krieg verläuft insgesamt anders, als man es aus den Actionfilmen kennt. 

In der Vergangenheit habe ich mir einfach das schöne Land angesehen, habe mich auf Flüchtlingscamps oder bestimmte Orte oder Teile der Peschmerga, also der Armee, konzentriert. Ich habe dabei mit den Politikern der großen Parteien PdK und PUK gesprochen und mir vom normalen Soldaten bis zu den Spezialeinheiten und Generälen alles angesehen. Die Frage, die sich dabei immer stellt ist: Wie können die Leute schon so lange kämpfen, erst gegen Saddam und nun gegen die ISIS, und immer noch am Wochenende lachend im Freizeitpark stehen?

Aber fangen wir erst mal chronologisch an: Wie kommt man hier hin? Ganz einfach mit dem Flugzeug z.B. ab Düsseldorf, Frankfurt, Berlin. Nach vier Stunden landet man in einem modernen Flughafen und kann schon beim Warten auf den Koffer eine Simkarte oder einen LTE-Router erwerben. In den großen Städten gibt es mobiles Internet so schnell wie in Deutschland, auf dem Land nur das langsame EDGE. Aber Netz gibt es selbst in der letzten Ecke. Diesmal schraubte sich die Maschine im Landeanflug wie auf einer Achterbahn runter. Wenn es nicht ein ziviler Flug wäre, hätte man es für „Combat Landig“ halten können. Aber die Gegend hier ist sicher und man muss ein ganzen Stück fahren, um in den gefährlichen Frontbereich zu kommen.

Unterwegs mit Kaka Hama

Ich habe gelernt, dass man vor einem Flug nach Kurdistan keine Pläne macht. Man fliegt hin und sieht, was sich ergibt. Ich hatte durch meine vergangenen Besuche einen Kontakt zu Muhammad Haji Mahmoud bekommen, besser bekannt als „Kaka Hama“ oder auch „der sozialistische Panzer“. Er nahm mich für meinen Besuch bei sich auf und ließ mich an seinem Leben teilhaben.

Er kämpft seit den 70er Jahren bis heute an vorderster Front – und das wirklich. Vor ihm ist oft nur das unaufgeklärte Land und dann der Feind. Um zu verstehen, wen er bei den Einsätzen führt, muss ich kurz ausholen:

Die Peschmerga bestehen im großen und ganzen aus drei Teilen, die zu Parteien gehören. Aus deutscher Sicht klingt das komisch, historisch ist das aber total einfach zu erklären: Erst hat man militärisch gegen Saddam gekämpft, dann kamen die politischen Parteien. Diese sind aus verschiedenen Armeen entstanden, die jeweils von Kurden mit leicht verschiedenen Ansichten geleitet wurden. Die Soldaten folgen ihrem jeweiligen militärischen Führer, auch wenn es auf einmal politische Parteien gibt. Die Armeen und die Parteien sind also eng verknüpft, verfolgen aber das gleiche Ziel: Ein friedliches Leben für die Kurden. Kein Soldat möchte plötzlich unter der Führung einer anderen Partei stehen, ähnlich, wie es in Deutschland mit dem Föderalismus der Bundesländer ist. Alle arbeiten zusammen, aber kein Bundesland möchte sich dem anderen anschließen. Somit gibt es die zahlenmäßig große Einheit der Peschmerga der PDK (auch „Barzani Peschmerga“ genannt) und die der PUK. Einen kleineren Teil machen die der Sozialistischen Partei (Kurdistan Socialist Democratic Party, KSDP) aus – diese hat Kaka Hama gegründet und die Peschmerga der KSDP führt er. Sie sind dafür bekannt, die furchtlosen Ersten zu sein. Ich hörte mehrfach die Geschichten, dass Soldaten von Saddam weg rannten, wenn sie Kaka Hama nur sahen. Sie wussten, dass sie nur verlieren können.

Kaka Hama hat auch jetzt immer sein Scharfschützengewehr dabei und macht den Eindruck, als würde er nicht zögern, es sofort einzusetzen, wenn er die ISIS sieht. Aber er ist kein Militärfanatiker, kein Menschenjäger und kein Hardliner. Er übernahm oft diplomatische Aufgaben im In- und Ausland. Er stellt unbequeme Fragen, kritisiert die politische und militärische Führung, wird aber von allen respektiert. Man kann ihn kaum in einem Satz oder auch nur einem Absatz beschreiben. Ich lernte ihn kennen als strengen militärischen Leiter, geschickten Diplomaten, liebevollen Vater, nachdenklichen Grübler, bohrenden Journalisten, arbeitenden Landwirt und lustigen Menschen.

Die sozialistische Partei Kurdistans gründete er 1976. Sie war nie Regierungspartei und hatte nie richtig hohe Wahlergebnisse, aber hat ihren festen Platz in der politischen Landschaft. Zu der Zeit schloss er sich auch dem bewaffneten Kampf gegen Saddam an und begann schnell eigene Leute zu führen.

Im Leben wurde er oft verletzt, er hat Einschusslöcher in Armen und Beinen und einen Streifschuss am Kopf. „Wenn Allah mich holen möchte, dann tut er das auch. Damals war es noch zu früh.“. An seiner Seite starben in den vergangenen vierzig Jahren rund 1.000 Menschen – 56 davon waren Verwandte. Dass das Militär für ihn aber kein Selbstzweck ist, sondern nur die letzte Möglichkeit, wenn man politisch nichts mehr machen kann, merkt man schnell. Er fragt mich, wie ich zum 5+1 Vertrag stehe und wie ich die langfristigen Folgen für verschiedene Regionen der Welt einschätze. Komplizierte Frage nach einem langen Reisetag und beim Abendessen, aber auch eine sehr spannende. Ich muss gestehen, dass ich mir bis zu dem Abend noch gar keine großen Gedanken dazu gemacht hatte, er aber schon. Immer, wenn wir in einem Gespräch an so einen Punkt kommen, erklärt er mir umfangreich, aber auf den Punkt gebracht, den gesamten politischen Kontext der verschiedenen Entscheidungen. Ich bin immer wieder überrascht, wo er überall Leute kennt.

Die Themen, mit denen ich mich hier befasse, springen permanent hin und her: Wie ist die Lage in Deutschland? Wie hier? Was passiert gerade politisch, was militärisch in Kurdistan, Syrien, der Türkei, dem Iran? Wie geht es der Familie und weißt du wie man Gurken erntet? Da auch nur annähernd die wichtigen Punkte der Gespräche im Kopf zu behalten ohne die ganze Zeit zu stenografieren, ist kaum machbar. Und immer wieder frage ich mich: Wie sind wir eigentlich zum aktuellen Gesprächsthema gekommen?

Aber um zwei Themen dreht es sich im Kern: Kampf gegen Saddam und Kampf gegen die ISIS. Was ist gleich, was ist anders?

Gleich ist, dass Menschen auf grausame Weise und total unsinnig sterben. Familien werden auseinandergerissen, Millionen vertrieben. Gleich ist auch, dass die Kurden mit wenig internationaler Unterstützung einen übermächtigen Feind besiegen müssen. Anders ist, dass Sie einige Zeit Ruhe dazwischen hatten. Ob das gut oder schlecht ist, kommt auf die Perspektive an. Militärisch ist es teilweise ein Problem. Da seit 20 Jahren nicht mehr so schlimm gekämpft wurde, sind die jüngeren Peschmerga, also die unter 40, keinen Krieg gewohnt. Sie kennen die Angst des Kampfes nicht, wissen nicht, wie Häuserkampf geht oder wie man sich im Terrain richtig bewegt. Daher müssen die Teams gut gemischt werden und daher sind Leute wie Kaka Hama immer noch sehr gefragt. Seine Ruhe im Gefecht überträgt sich auf die anderen. Er läuft ganz entspannt und ohne Schutzweste oder Helm durch die Kampfzone. Solche Bilder kennt man sonst nur aus Actionfilmen und hält sie für arg unrealistisch.

Anders ist auch, dass die Kurden diesmal nicht fliehen, sondern Flüchtlinge aufnehmen. Aktueller Stand: Zwei Millionen (bei vier Millionen eigener Bevölkerung). Dennoch sind die Geschichten damals und heute voller Grauen – aber in anderer Art grausam. Zum Ausgleich geht Kaka Hama der Landwirtschaft nach.

Wir verbrachten Stunden auf den Feldern und Plantagen, in denen er sich gerne aufhält. Pfirsiche, Tomaten, Granatäpfel, Gurken, Paprika sowie gut schmeckende Feldfrüchte, die ich nicht kenne. Erdbeeren und Auberginen soweit man gucken kann. Mitten drin eine Baustelle für ein kleines Tagungsgebäude inklusive Pool, auch für die Kinder. Hier sollen mal Treffen der Partei stattfinden können. Aber ich soll nicht nur gucken, ich soll mitmachen. Obst probieren, Gemüse ernten und wieder überrascht werden: Hier leben auch Strauße, eine Art kleiner Rehe und Gänse. Mit allem kennt er sich aus, zu allem gibt es eine Geschichte. Hier kann man die Seele baumeln lassen und ist nur eine Steinwurf weit weg von Halabja. Der Ort erlangte 1988 traurige Berühmtheit, als Saddam diese und andere Städte mit Giftgas bombardierte. Die anderen Orte kennt heute kaum jemand mehr, von ihnen gab es keine Fotos in den Zeitungen. Tausende starben sofort, zehntausende wurden verletzt oder leiden an Spätfolgen. Schon zehn Jahre vorher kämpften die ersten Frauen bei den Peschmerga. Aber es waren sehr wenige, wie man mit sagt, vielleicht ein Dutzend. Seine Frau gehörte dazu, sie ist vermutlich die erste Peschmergarin. Eine Freundin, die mit uns unterwegs ist, kam kurz nach ihr zum bewaffneten Kampf. Ihre Kinder können nun ein einfacheres Leben führen, studieren, arbeiten, Frieden haben. Das ist der große Lohn für das Lebenswerk. Geld gab und gibt es dafür nicht. Nichtmal eine nachträgliche Rente oder ähnliches. Ich führe mit allen Leuten vor Ort Interviews zu ihrer Zeit im Einsatz, dabei sitzen wir unter einem Dach von Weintrauben und essen frische Granatäpfel. Vom Bild her könnte es eine Terrasse in Spanien sein.

Wir gehen Berge von Fotos durch und ich höre die vielen traurigen Geschichten dazu. Oft leben die Menschen auf den Bildern nicht mehr oder sie werden seitdem vermisst. Bei einem der Bilder erzählt man mir diese Geschichte:

Als noch gegen Saddam gekämpft wurde, kam ein Mann aus den Bergen mit einem Baby auf dem Arm in ein nahe gelegenes Dorf. Er fragte, ob jemand was zu trinken hat. Er hatte alles verloren: Frau, Kinder, alles Hab und Gut – außer dem Baby in seinem Arm. Er hatte nicht mal Essen und Trinken, wusste nicht, wie er das Baby über den Tag bringen sollte. Ihm wurde geholfen und eine Frau bot an, sich ab jetzt um sein Baby zu kümmern. Er ging weiter, um wieder zu kämpfen und drehte sich immer wieder um, als er ging. Er wollte einen letzten Blick auf sein letztes Familienmitglied werfen. Was aus ihm oder dem Baby wurde, weiß niemand zu berichten.

Solche Geschichten sind in den 80er und Anfang der 90er Alltag gewesen. Jede Familie kann hier so etwas erzählen. Das ist nur so lange her, wie bei uns der Mauerfall.

Bei den Kakai

In Kurdistan leben viele Religionen friedlich zusammen. Verschiedene Moslems, verschiedene Christen und die Jesiden kannte ich bereits. Diesmal fuhren wir an die Front zu Männern mit dicken Schnurrbärte und einem Glauben, den ich noch nicht kannte.

Für mich ist es immer wichtig, die letzten Meter bis zur ISIS zu sehen. Dann versteht man, wie schlimm oder sicher die Lage derzeit ist. Die Peshmerga sind der Meinung, dass das viel zu wenige Leute tun, die über die Region berichten oder Entscheidungen zu Waffenlieferungen fällen. Es gibt auch immer viele Dinge vorzubereiten und abzuwägen: Welche Fahrzeuge, welche Kleidung und welche Gegend? Gepanzerte Fahrzeuge sind schwerfälliger und man kann die Scheibe beschießen und dem Fahrer die Sicht nehmen – aber an sich ist man besser geschützt. Oder einen großen Konvoi mit vielen Soldaten und viel Munition? Fällt aber mehr auf. Wie kleidet man sich? Blaue Weste und „PRESS“ Schilder? Oder eher dezent? Das alles hängt von sehr vielen Faktoren ab. Da mich Kaka Hamas zweiter Sohn Erin begleitet, ist es einfacher. In der Familie kennt man sich mit solchen Fragen gut aus. Da sich die ISIS weder an Genfer Konventionen noch an ungeschriebene Gesetze hält und die Gegend um die Front herum weiterhin unsicher sein kann, sollte man nicht zu sehr auffallen. Ich bekomme traditionelle kurdische Kleidung, nehme kein großes Equipment am Körper mit und beschränke mich auf das wesentliche: Eine Kamera, zwei Objektive, schusssichere Weste, Helm und eine Flasche Wasser. Aus der Nähe falle ich sofort auf, aber auf die Distanz bin ich in einer Gruppe Peschmerga unauffällig. Wir nehmen ein eher unauffälliges Fahrzeug, aber einen Geländewagen mit Geschützturm. Ganz ohne geht es dann doch nicht. Dazu noch ein Fahrzeug mit weiteren Soldaten, die im Notfall eingreifen können. So etwas gilt als eher kleiner Konvoi und sollte keine Probleme machen. Dennoch fällt der Geschützturm im Straßenbild auf und wir müssen zügig fahren, gerade bei den Checkpoints. Diese gibt es auf den Landstraßen und vor den Ortseinfahrten. Dort werden Fahrzeuge stichprobenartig kontrolliert. Wir dürfen zwar immer durch, sollen aber nicht lange in der Schlange stehen und müssen uns irgendwie vorbei schieben – notfalls durch den Gegenverkehr.

Wir fahren durch Kirkuk weiter nach Süden und folgen der Straße Richtung Bagdad. Die Straßen werden leerer, die Schlangen an den Checkpoints aber immer länger. Die ehemalige Grenze zwischen Kurdistan und dem Irak haben wir lange hinter uns gelassen. Statt der irakischen Flaggen wehen am Checkpoint kurdische. Die irakische Armee ist vor der ISIS geflohen, diese wurde dann von den Peschmerga vertrieben. Kilometer für Kilometer fahren wir weiter. Ich bekomme von den Peschmerga im Auto erklärt, welche Gefechte hier wann und wie abliefen. Zwischendurch fragt auch ein Peschmerga, wie weit wir mit dem Atomausstieg in Deutschland sind. Die Gesprächsthemen hier sind immer wieder überraschend. Rund dreißig Kilometer südlich von Kirkuk verläuft die Front – zumindest in diesem Bereich. Die Front läuft so wenig gerade, wie die Berliner Mauer damals. Zunächst fahren wir in den Stützpunkt der Leute, die hier die einzelnen Stellungen besetzen. Der General soll mir vor Ort erklären, wie die Lage ist und alle Fragen beantworten. Zusätzlich ist ein Team eines kurdischen Nachrichtensenders (Jamawar) dabei und soll meinen Besuch an der Front dokumentieren.

In dieser Gegend leben die Kakai (auch: Yaresan, Ahl-e Haqq), eine religiöse Minderheit, die weltweit ca. eine Million Menschen umfasst. Die Männer erkennt man gut an den dicken Schnurrbärten, die zum Teil ihrer Kultur gehören. Nachdem die ISIS im Shingalgebirge den 74. Genozid an den Jesiden verübte, hatten die Kakai Angst, die Nächsten zu sein. Sie haben keine eigene Armee und gelten für die ISIS als Ungläubige. Sie wandten sich an Kaka Hama und baten um Hilfe bzw. um Vermittlung dieser. Kaka Hama gab die Bitte an den Präsidenten und alten Waffenbruder Massoud Barzani weiter, welcher auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Barzani sandte mehrere hundert Peschmerga zum Schutz der Kakai, welche aber über Kurdistan verteilt leben. Hier, wo wir waren, sollten sie in den 70er Jahren durch Araber vertrieben werden. Saddam siedelte dazu arabische Familien an und hoffte, dass diese die Kakai nach und nach verdrängen würden. Doch ein Teil der Kakai blieb, die Araber auch. Sie leben nun friedlich Haus an Haus.

Nachdem ich mir all dies erklären ließ, erklärte man mir an der Karte, wo sich gerade welche Stellungen befinden und welche Gebiete wir nun abfahren können. Da wir uns in unmittelbarer Sichtweise der ISIS befinden, seitdem wir den Stützpunkt verlassen haben, sollten wir nur mit ein bis zwei Fahrzeugen losfahren und die Köpfe unten halten. Das letzte Gefecht war erst wenige Stunden her und es gibt Schafschützen auf der anderen Seite, für die 200-250 Meter kein unüberwindliches Problem darstellen würde. Schnell konnte ich mit bloßem Auge die ISIS-Flaggen und deren Kämpfer sehen. Als schwarze Silhouetten wanderten sie hinter der flimmernden Luft hin und her. Aus der Hand mit einem langen 500er Teleobjektiv zu filmen hatte ich natürlich nicht geübt, aber ein Stativ aufbauen wäre zu auffällig gewesen. So lag ich hinterm Erdwall und versuchte, in wackelfreie Bilder zu verewigen, was mit dem Auge so leicht zu sehen war. Insgesamt war es extrem ruhig und von außen muss es ein merkwürdiges Bild sein: Mitten im Nichts drücken sich eine Hand voll Leute auf einem alten Teppich an den Boden hinter einen Erdwall, ohne dass irgend etwas passiert. Niemand schießt, niemand ruft, kaum etwas in der Gegend bewegt sich. Aber genau so sieht Krieg an der Front meist aus. Warten. Das Sicherheitsteam ist ruhig, aber man merkt die Anspannung. Wir sollen nicht zu lange aus einer Position filmen, sondern uns hinter der Deckung bewegen und auch bald den Standort wechseln. Die Piste, über die wir weiter fahren, gilt als sicher. Links von uns könnte der Boden vermint sein, dort dürfen wir nicht aussteigen. Auch wenn man alles gut überblicken kann, wird die Bewegung des Konvois per Funk an die nächsten Stellungen weiter gegeben. Sie sollen für uns das Gelände überwachen und müssen genau wissen, mit welchen Fahrzeugen wir uns gerade wo befinden. In der nächsten Stellung sind rund dreißig Peschmerga, die abwechselnd die Gegend beobachten. Nachts ist es am gefährlichsten. Es gibt kaum Strom und wenige Scheinwerfer. Aber mit Scheinwerfern und Lampen gibt man seine Position genau preis, sonst ist man nur ein Schatten. Nachtsichtgeräte haben sie nicht und werden so immer wieder von der ISIS überrascht. „Letztes Mal waren sie so nah, dass wir Ihre ‚Allahu Akbar‘ Rufe hören konnten“ – erklärt mir der Kommandant und zeigt mir ein Video davon auf seinem Handy. Doch bisher konnten sie jeden Angriff abwehren. Wenn der Angriff stärker ist, können sie auch Raketenwerfer oder Luftschläge anfordern. Besser wären aber mehr große Waffen direkt an der Front zu haben, die man sofort einsetzen kann. Es gibt keinen Schichtplan und keinen klaren Tagesablauf. Wer müde ist, geht schlafen. Wer gerade Zeit hat, kocht oder räumt auf. Der Rest guckt in die Landschaft. Und das ist anstrengend. Man muss 12-16 Stunden am Tag ins Nichts starren, aber sofort merken, wenn etwas komisch ist. Ich soll in der Stellung bleiben und nur durch die Schießscharte filmen. Wenn sie mir ein Gebäude zeigen wollen, halte ich die Kamera raus und gucke von drinnen auf das Display. Meist passiert tagsüber nichts, sagen sie, aber besser die Hand verlieren, als den Kopf. Bei Ihnen ist es einfacher: Wenn ihr Gott (bzw. wie es in der jeweiligen Religion heißt) sie zu sich nehmen will, dann tut er das. Ich hatte mit Gott, Allah usw. noch keinen näheren Kontakt. Ich muss auf Kevlar und Keramikplatten vertrauen. Ich überlege immer wieder, ob es nicht einfacher wäre, einer Religion anzugehören und mir die schwere Weste und den Helm zu sparen. Meine Gedanken werden von der Ermahnung unterbrochen, den Kopf einzuziehen. Ich hatte mich zur Seite gedreht und mein Helm gucke über der Mauer raus. Auch hier sind die Leute noch gut gelaunt, freuen sich über den Besuch, geben bereitwillig Auskunft über alles. Sie zeigen mir die Fotos ihrer Familien auf dem Handy und erklären, dass ihre Kinder es mal besser haben sollen. Es ist wie überall auf der Welt. Die Leute wollen eine Familie haben und mit ihr im Frieden leben. In Deutschland haben wir das seit siebzig Jahren. Hier ist es noch ein Traum.

Bevor man geht, muss man immer noch mit allen ein Foto machen. Sie sagen mir, dass noch nie ein Journalist bei ihnen in der Gegend war und sie das ihren Freunden auf Facebook zeigen wollen.

In einer der Stellungen wurde mit einem Bagger ein knapp zehn Meter hoher Berg aufgeschüttet. Von einer Seite kann man über eine Rampe hoch laufen. Oben liegen alte Teppiche und man kann sich hinter dem Erdwall verstecken. Dort interviewe ich den General ausführlich. Wie ist die Lage bei ihm? Was braucht er? Sie fühlen sich relativ sicher, bedanken sich für die Hilfe aus Deutschland. Wie so oft soll ich den deutschen Politikern Grüße und Dank ausrichten. Werde ich wie immer tun. Frank-Walter Steinmeier sowie Ursula von der Leyen hat es letzte Mal zwar überrascht, aber beide haben sich sehr gefreut. So direktes Feedback von vor Ort bekommen sie sonst selten. Für Angela Merkel habe ich eine Liste angelegt, da ich sie bisher nicht gesehen habe.
Ich frage die arabischen Nachbarn, wie es ihnen hier geht: Nicht besser oder schlechter als den anderen. Aber sie sind froh, dass die ISIS auf der anderen Seite ist. Ich frage sie, ob sie Probleme mit den Kakai oder Kurden haben: Auch das nicht. Man lebt halt nebeneinander und hat nicht viel mit einander zu tun, aber auch keine Probleme miteinander. Da in Deutschland berichtet wurde, die Peschmerga sprengten die Häuser der Araber in die Luft, frage ich, ob sie davon gehört haben. Sie verstehen nicht. Es geht hin und her und sie sagen: ISIS? Peschmerga? Sie denken, ich habe das was durcheinander gebracht. Die ISIS sprengt Häuser, die Peschmerga helfen ihnen. Das wollen sie klar stellen. Von den gesprengten Häusern oder ähnlichem haben sie auch in den Nachbardörfern nichts gehört und gucken mich an, als stimmte etwas nicht mit mir, dass ich so komische Fragen stelle. Diese Nachfragen beziehen sich auf einen ausführliche Sendung des Deutschlandfunks, in der behauptet wird, die Häuser von Araber würden von den Peschmerga gesprengt, auch Foreign Policy brachte diese Anschuldigungen. Die arabischen Bewohner sagten daraufhin, es gäbe vieles an Geschichten im Internet, man müsse halt genauer hinsehen, was man liest.

Wir fahren zurück in den Stützpunkt und besprechen in Ruhe alle Fragen, die bei mir noch aufkamen und machen auch hier die Abschlussfotos. Auf dem Rückweg ist der Fahrer immer etwas aufgeregt, wenn junge Männer alleine am Straßenrand stehen und weit und breit nicht mal ein Fahrrad zu sehen ist. Die Angst vor Selbstmordattentätern ist hier im Grenzbereich zum ISIS-Land ständig vorhanden.

Zuhause angekommen läuft in den Abendnachrichten schon mein Frontbesuch. Es wundert mich, dass das hier ein solches Thema ist. Aber offensichtlich verirren sich nur wenige Europäer mit Kamera zu den Jesiden, Kakai, nach Mossul oder in andere Gegenden, in denen ich war.

Flüchtlinge

In einer Verkehrskontrolle wurde er willkürlich aus dem Auto gezogen und von Assads Leute gefoltert. Der Mann zeigt mir auf einem Handy-Video wie er aussah, nachdem er wieder frei war. Dreizehn Stunden wurde er gefoltert und zusammengeschlagen. Dann kauften ihn Freunde frei. Man sieht gut die lila-schwarzen Flächen überall am Körper. Der Hals zeigt lila-grüne Würgemale von einem Strick. Er hatte in Damaskus gelebt und war Handwerker. Er hat Marmor verarbeitet und Häuser damit verziert. Sein Leben war gut, seine Familie konnte ein normales Leben führen. Zumindest ging es ihnen nicht schlechter, als den anderen. Auch Araber werden vom Regime zum Spaß gefoltert. Dann entschieden sie sich zu fliehen. Mit dem Auto ging es zur Grenze, dann zu Fuß weiter. Sie mussten mit ihrem letzten Hab und Gut 15 Kilometer durch die wüstenartige Steppe laufen. Dann sahen sie die Peschmerga. Diese nahmen sie erstmal auf, wollten aber im Details die Geschichte wissen und prüften, ob ähnliche Leute gesucht werden. Sie kamen erst mal in ein Auffanglager, bis es weiter ans andere Ende des Landes ging. Seit 2013 wohnen sie 30 Kilometer vor der iranischen Grenze in einem Camp. Sie haben ein Haus von etwa 15 qm für die kleine Familie, werden mit dem nötigsten versorgt und dürfen arbeiten. Da er nie wieder zurück in seine Heimat kann, macht er das Beste daraus. Dass Assad jemals gestürzt wird, glaubt er nicht mehr. Er kann zwar immer wieder arbeiten, bekommt aber keine gut bezahlte feste Anstellung, weswegen sie im Camp bleiben. Dort kann man es aushalten und mit dem verdienten Geld den kleinen Luxus wie Handy, Fernseher und Süßigkeiten finanzieren.

Geschichten wie seine hört man hier von allen. Wer Glück hat, der hat noch alle Familienmitglieder. Die anderen reden nicht gerne über ihre Flucht. Hier im Camp sind Kurden und Araber aus allen Teilen Syriens, Jesiden aus Kurdistan und Kurden und Araber aus dem Irak. Jeder Gruppe lebt in einer Ecke des Camps, niemand hat Probleme mit den anderen. Die Araber bemängeln nur, dass die Kurden leichter an Arbeit kommen und dass man gerade bei einzelnen männlichen, jungen Arabern kritisch guckt. Aber sie loben die Menschen in der Nachbarschaft. Wenn man als Flüchtling etwas kauft, bekommt man ohne verhandeln extrem niedrige Preise. Auch die anderen Kunden, die nach langem Verhandeln mehr zahlen, stören sich daran nicht. Man bleibt eben menschlich in dem ganzen Chaos. Wann die ISIS geschlagen ist und wann sie wieder in ihre Heimat können? Nächsten Monat hoffentlich. Es ist immer „nächsten Monat“, schon seit Jahren.

Die Zahl der Flüchtlinge in Kurdistan steigt und steigt. Inzwischen sind es zwei Millionen. Das Land steht vor dem Kollaps. Aber die Grenzen schließen ist hier für niemanden eine Option. Man muss seinen kurdischen „Brüdern“ helfen. Und allen Moslems. Und den Minderheiten. Also so ziemlich allen, die im Umkreis leben. Finanzierbar ist das Ganze schon lange nicht mehr, aber was soll man tun?

Wirtschaftliche Lage und Bagdad

Bagdad ist auf dem Landweg nicht mehr erreichbar. Seit Monaten. Das beschreibt die Lage im Irak ziemlich gut. Die Zentralregierung hat die Kontrolle verloren und das Land versinkt im Chaos. Die Wahlen in diesem Jahr spielen eigentlich keine Rolle mehr. Man regiert einen Teil Bagdads, denn selbst die „green zone“ ist nicht mehr sicher. Kurdistan hält seinen Teil sicher, braucht aber mehr Geld von der Zentralregierung. Diese ist fast pleite und zahlt die kurdischen Beamten und die Peschmerga einfach nicht oder mit Monaten Verzögerung. Das Druckmittel Kurdistans ist das Öl. Große Teile der Ölfelder liegen hier. Es gab einen Streit über die Verteilung des Geldes. Kurdistan begann die Zahlungen zu seinen Gunsten zu ändern. Bagdad zahlte darauf die Gehälter nicht mehr. Kurdische Firmen begannen ihre Steuern nach Bagdad nicht mehr zu zahlen und Bagdad beschwerte sich in den Medien. Mehr konnten sie nicht mehr tun. Die Lage spitze sich zu. Als BP im vergangenen Monat am Ölhafen sein vom Irak gekauftes Öl abholen wollte, gab es lange Gesichter: Die Tanks waren leer. Kurdistan hatte sie nicht befüllt, sonder das Öl selber verkauft. BP tobte, Bagdad auch, passiert ist nichts. Seit dem 01.07.2015 arbeitet Kurdistan beim Ölexport nicht mehr mit der Zentralregierung zusammen. Alles Öl wird auf eigene Rechnung verkauft. Der rechtliche Status dieses Vorgehens ist unklar, aber wer soll drüber richten? Zusätzlich leiht sich die kurdische Regionalregierung (KRG) Geld von türkischen und deutschen Banken.

Dadurch bessert sich die wirtschaftliche Lage derzeit etwas, aber eine stabile politische Lage ist das nicht. Der nächste Punkt auf der Agenda ist daher ein unabhängiger kurdischer Staat in den aktuellen Grenzen der Autonomen Region Kurdistan. Aber wo liegen diese Grenzen? Das ist mal mehr mal weniger klar. Es fehlt auch noch eine Verfassung und das Referendum, welches positiv ausfallen dürfte. Mir wurde gesagt, dass man bis 2020 unabhängig sein möchte. Man hat dann keinen Streit mehr mit Bagdad, keine Probleme legal an Waffen zu kommen und eine stabile politische Lage.

Nun ist es Freitag Mittag, in dieser Gegend wie der Sonntag bei uns. Da das ganze Land still steht, nutze ich die Zeit in Kaka Hamas Büro meinen Bericht fertig zu schreiben. Sein Entgegenkommen sehe ich als sehr gross an und möchte mich unentwegt bedanken. Aber er winkt ab: so sei das in Kurdistan nun mal. Man ist einfach freundlich zu seinen Gästen.

Nächtliche Luftangriffe

In der Nacht zum 25.07.2015 griff vermutlich jemand jemanden mit Kampfjets an – so in etwa war die Nachrichtenlage am Morgen. Entweder hat die iranische oder die türkische Luftwaffe bei Dohuk oder im Kandil-Gebirge die PKK oder die Peschmerga angegriffen. Nach und nach klärte es sich. Mein aktueller Stand ist, dass die türkische Luftwaffe mit zwei oder vier F-16 Kampfjets von der Türkei aus ins Kandil-Gebirge geflogen ist, um dort PKK-Stellungen zu bombardieren. Sie flogen einen Angriff und kehrten zurück in die Türkei. Mich erreichten etliche Nachrichten, ob die Türkei oder der Iran nun nach Kurdistan einmarschiert und ob es stimmt, dass Massoud Barzani, der Präsident der Autonomen Region Kurdistan, den Kampf gegen die PKK unterstütze. Das Verhältnis zwischen den Peschmerga und der PKK ist angespannt und polarisiert. Da, wo es nötig ist, kämpft man zusammen. Ansonsten geht man sich aus dem Weg. Vorwürfe macht man sich gegenseitig keine, man respektiert sich. Liest man im Internet, so kommt einem das anders vor. Dort kommentieren meist Leute, die eben nicht zu den kämpfenden Truppen gehören, sondern lieber andere schlecht machen. Das ist sehr nervig, weil man kaum eine gesittete Diskussion über das Verhältnis der verschiedenen kurdischen Truppen führen kann. Den Kampf gegen die PKK unterstützt man aber ganz sicher nicht. Unterm Strich hat man ja das gleiche Ziel.

Da ich nahe der iranischen Grenze war, fuhr ich weiter ran. Weit und breit kein Krieg. Ich fragte Leute entlang der Grenze, die wussten auch nichts davon. Auch im Peschmerga-Ministerium beruhigte man mich: Ein Einsatz in der Nacht, sonst nichts. Eine richtige Reaktion der kurdischen Regionalregierung steht noch aus – auch hier muss man erst mal Klarheit haben wer von wo aus wen warum bombardiert hat.

Treffen der sozialistischen Partei Kurdistans

Eigentlich war ich auf dem Weg zu einem Treffen der sozialistischen Partei Kurdistans. Als Unwissender zu so einem Treffen zu kommen und die Sprache nicht zu sprechen, ist sehr kompliziert. Ich kenne Parteitage, ich kenne militärische Treffen und ich kenne halbwegs Gottesdienste. Nichts davon passte hierauf. Während man in Deutschland entweder Geistlicher oder Politiker oder Militär ist, hat man hier oft 2-3 Funktionen. In Deutschland ist es einfach: vorne, auf der Bühne, sind die wichtigen. Der Rest ist ruhig. Wenn alle aufstehen, tut man das auch und wenn alle gehen, ist das Treffen zu Ende oder es gibt Essen. Und ich kann Leute fragen, die um mich rum sitzen, ohne negativ aufzufallen.

Ich kam in einem Raum in dem reihum Sofas und Sessel standen. Diese gibt es hier in jedem größeren Büro und die Regeln sind relativ einfach: vorne, an der Flagge sitzt der Gastgeber und der wichtigste Gast. Der Rest im Kreis. Auf den Sessel meist eher wichtige Leute, auf dem Sofa eher unwichtige. Aber schon das stimmt nicht immer. Ich purzelte also in den Raum, wurde von Kaka Hama freundlich begrüßt und setze mich erst mal auf einen freien Platz relativ weit vorne. Alle sahen mich an. Hatte ich nun etwas falsch gemacht? Oder nur Interesse? Ein paar der Leute kannte ich bereits. Ich wurde als Journalist aus Deutschland vorgestellt und alle begrüßten mich herzlich auf deutsch und englisch. Es folgte ein islamischer Gesang von drei jüngeren Männern. Mein Nachbar erklärte mir, es sei etwa wie in Deutschland: zwar sei man keine islamische Partei, aber da nun mal fast alle hier Moslems sind, gehört es dazu. So wie man in Deutschland z.B. ein Osterfest der Partei ausrichtet, ohne dass man fundamental-christlich ist.

Schnell fällt auf, dass die Politiker und Geistlichen alle Smartphones haben und diese auch benutzen: Fotos machen, sich gegenseitig Videos zeigen und zwischendrin auf Facebook gucken. Ich erklärte, dass man so etwas von deutschen Politikern jenseits der 60 eher nicht kennt. Kaka Hama erklärt mir, dass das Internet für ihn auch relativ neu sei. Er benutze es seit 1996, damals per Satellit. Als Smartphones in Mode kamen, war es in Kurdistan gerade ruhig und die Menschen hatten Geld, sodass sich die neue Technik schlagartig verbreitete.

Wie immer verlieren wir uns in langen Gespräche über die kulturellen Unterschiede, die Gemeinsamkeiten und warum Kurdistan eigentlich immer noch ein tolles Urlaubsland ist – es aber niemand weiß. Ich verspreche mein Bestes zu tun, die Leute in Deutschland von einem Kurdistanurlaub zu überzeugen und muss mich bereits langsam verabschieden.

Hinter mir liegt eine Woche, in der ich wieder viel über die Region gelernt habe und mit Kaka Hama einen weiteren spannenden Menschen kennen gelernt habe, der mich jeden Tag aufs neue positiv überrascht hat. Ich blicke in den Kalender und überlege, wann ich wieder kommen kann.

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