Bildungbsn

Sinkender IQ bei immer mehr Einser-Abis – wie kann das sein?

Die Schlagzeilen der vergangenen Jahre vermitteln ein verwirrendes Bild: Einerseits gibt es immer mehr Einser-Abis, andererseits sinkt der IQ. Es gibt viele Arbeitslose bei gleichzeitig vielen unbesetzten Stellen. Der Staat wächst, die Wirtschaft aber nicht. Doch was heißt das am Ende und wie hängt das zusammen – oder tut es das gar nicht? Es ist an der Zeit, sich das Thema einmal anzusehen.

Unsere Gesellschaft steht vor einem scheinbaren Paradoxon: Einerseits weisen Studien darauf hin, dass die gemessene Intelligenz (IQ) der Bevölkerung stagniert oder sogar sinkt. Andererseits verzeichnen die deutschen Schulen, insbesondere beim Abitur, eine beispiellose Zunahme an Bestnoten. Führt diese Entwicklung dazu, dass die Gesellschaft in immer klügere und immer dümmere Gruppen zerfällt? Oder deutet die „Flut an Einser-Abis” vielmehr auf eine Vereinfachung und Entwertung der formalen Abschlüsse hin? Die Quellen legen nahe, dass die Ursachen primär in Letzterem zu suchen sind, während der Rückgang des IQ auf Umweltfaktoren zurückzuführen ist, von denen alle betroffen sind.

IQ und Flynn-Effekt

Lange Zeit, etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts, stiegen die Ergebnisse in IQ-Tests stetig an. Dieser Effekt wird als „Flynn-Effekt“ bezeichnet und ist nach dem neuseeländischen Politologen James R. Flynn benannt. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass der IQ in Punkten steigt. Da der Durchschnitts-IQ per Definition immer auf 100 festgelegt wird, müssen Intelligenztests regelmäßig neu geeicht (neu normiert) werden. Ohne diese Nacheichung würde eine Person, die heute einen IQ von 100 erreicht, in einem vor 50 Jahren geeichten Test möglicherweise einen IQ von über 110 erzielen. Der Anstieg betraf vor allem die fluide Intelligenz, also das abstrakte Denken und das Lösen von Problemen (zum Beispiel Mustererkennung in Matrizentests), während Zuwächse in der kristallinen Intelligenz, zum Beispiel im Wortschatz, oft geringer ausfielen.

Dieser Anstieg, der in Industriestaaten zwischen 5 und 25 Punkten pro Generation betrug, wurde größtenteils auf verbesserte Umweltbedingungen zurückgeführt. Dazu zählen eine verlängerte Schulzeit, eine bessere medizinische Versorgung, eine bessere Ernährung und eine bessere Hygiene.

Stagnation – der Anti-Flynn-Effekt

Doch seit Mitte der 1990er-Jahre ist dieser Aufwärtstrend beendet. Forscher sprechen vom Anti-Flynn-Effekt oder einer Stagnation. Studien aus Dänemark, Australien und Großbritannien belegten sinkende Intelligenzwerte. Die bekannteste Untersuchung stammt aus Oslo (2018): Bei norwegischen Rekruten der Geburtsjahrgänge 1962 bis 1991 wurden sinkende IQ-Werte bei den Jüngeren festgestellt.

Mögliche Erklärungen für diesen Rückgang (oder die Stagnation) sind:

Erreichen des Limits: Es könnte sein, dass die Menschheit an das Maximum dessen gestoßen ist, was an genetisch vorgegebener Intelligenz optimiert werden kann.

Umweltfaktoren und Technologie: Die Veränderungen lassen sich nicht durch genetische Faktoren erklären, sondern müssen durch Umweltfaktoren bedingt sein. Die Lernforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich sieht ein mögliches Problem im Aufwachsen mit Handys und iPads: Wenn kleine Kinder nur noch visuelle Erfahrungen machen, beispielsweise Katzen nur auf dem Bildschirm sehen statt sie zu streicheln, könnte sich das auswirken. James R. Flynn revidierte im Jahr 2017 seine Aussagen und stellte in vielen westlichen Ländern einen Rückgang des IQ fest.

Dies Führte er auch auf „Verschwinden anspruchsvoller Bücher“ sowie eine Zunahme von Computerspielen zurück. Dies wirke sich negativ auf das logische Denken aus. Generell könnte die moderne Technik, da wir durch Apps und KI weniger speichern und logisch schlussfolgern müssen, zum sogenannten Anti-Flynn-Effekt beitragen.

Experten betonen jedoch, dass sich ein allgemeiner negativer Trend noch nicht erkennen lässt und man vor allem bei der jüngeren, technikaffinen Generation genau hinschauen sollte.

Sinkender IQ und besseres Abi?

Parallel zur Stagnation oder dem Rückgang der gemessenen Intelligenz gibt es eine Noteninflation bei den formalen Abschlüssen. So hat sich die Zahl der Einser-Abschlüsse (1,0) seit 20 Jahren stetig erhöht. Besonders eindrücklich sind die Zahlen in Berlin, wo sich die Zahl der Einser-Abschlüsse verzehnfacht hat. Der vermeintliche Widerspruch zwischen sinkendem IQ und steigenden Einser-Abis löst sich auf, wenn man genauer hinsieht.

Die Einführung des Zentralabiturs hat die Entwicklung begünstigt. Die zentral gestellten Aufgaben orientieren sich oft am durchschnittlichen Niveau. Leistungsstarke Schulen oder Profilklassen haben es leichter, besonders gute Noten zu erlangen. Das Gleiche gilt für bilinguale Europaschulen, die Zentralaufgaben bearbeiten müssen, die oft unter ihrem schulischen Niveau liegen.

Veränderte Notenskala: Um eine glatte Eins zu erhalten, reichen inzwischen 90 Prozent einer Aufgabe aus, während es zuvor 95 Prozent waren.

Neue Prüfungsformate und Gewichtung: Neue Prüfungsformate wie die mündliche Präsentationsprüfung (eingeführt 2006) haben zur Verbesserung des Schnitts beigetragen. Die Prüfungsergebnisse in dieser sogenannten fünften Prüfungskomponente liegen laut einem Bericht des Instituts für Schulqualität (ISQ) „deutlich“ über denen der übrigen Prüfungsfächer.

Oberstufe – Die Kursphase: Die in der Kursphase (den zwei Jahren vor den Abiturprüfungen) erworbenen Zensuren machen zwei Drittel der Gesamtnote im Abitur aus. Sie sind daher noch ausschlaggebender für die mangelnde Vergleichbarkeit der Länderleistungen.

Fazit: Vereinfachung statt intellektuelle Spaltung

Die Quellen deuten darauf hin, dass die Gesellschaft momentan nicht intellektuell auseinanderdriftet, sondern die Messlatte des formalen Abschlusses gesunken ist. Die Zunahme der Einser-Abis ist ein Indiz für eine deutliche Entwertung und mangelnde Vergleichbarkeit des Abiturs zwischen den Bundesländern und Schulformen.

Bildungsforscher betonen, wie wichtig es ist, in gute Schulen für alle zu investieren. Nur so kann verhindert werden, dass sich das Rad der Zeit zurückdreht und wieder mehr Menschen ihre Intelligenz nicht voll ausschöpfen können.