Ukraine: Motiviert – aber ohne Munition
„Wir wollen loslegen. Aber wir haben nicht genug Munition“, erklärt mir der ukrainische Panzerkommandant nur einen Kilometer von der russischen Armee entfernt, während wir auf seinem Panzer sitzen. „Wir hatten Munition aus dem Iran, aber die waren scheiße“, fährt er fort. „Aus dem Iran?“ frage ich zurück. „Ja, die haben die Amerikaner auf dem Seeweg beschlagnahmt und uns gegeben.“ Auch nach zehn Jahren Krieg gegen Russland sind er und seine Kameraden noch motiviert. Aber sie würden sich über mehr internationale Hilfe freuen.

Der Weg zur Front
Zwei Stunden zuvor saßen wir noch in einem schönen Hotel beim Frühstück und planten den Weg zur Front. Wobei „Front“ schwer zu definieren ist. Aus Sicht vieler Deutscher beginnt sie wohl an der polnisch-ukrainischen Grenze. Aus Sicht der Ukrainer an der Grenze ist sie aber zwei Tage Autofahrt weiter im Donbas, bei Cherson oder in Kursk. In der Ukraine ist es die Front, wenn man russische Soldaten sieht.
Alles unnötige Gepäck wird ausgeladen und bleibt im Hotel. Wir ziehen weniger auffällige Kleidung und Stiefel an, packen Schutzausrüstung, Erste Hilfe, Satelliteninternet und dergleichen ein und machen uns auf den Weg. Nach einer Stunde erreichen wir den letzten relevanten Checkpoint der ukrainischen Armee. Hier wird unsere Sondergenehmigung kontrolliert und überprüft, ob wir wirklich vor Ort erwartet werden. Niemand hat Lust, ein paar fehlgeleitete Europäer aus irgendeiner blöden Situation zu retten, weil sie zum Spaß an der Front rumfahren. Alles in Ordnung, wir können weiterfahren.
Gleich dahinter ist eine verlassene Tankstelle, an der schon andere Leute stehen und sich auf die letzten Kilometer vorbereiten: Schutzweste und Helm anziehen, alle Fenster runterkurbeln, nicht mehr anschnallen, Drohnen-Detektor einschalten. Die Fenster sind offen, damit sie bei einer nahen Explosion nicht zersplittern. Nicht anschnallen, um schnell aussteigen zu können. Der Drohnen-Detektor warnt, wenn er auffällige Funkwellen wahrnimmt – aber er kann nicht sagen, was er genau sieht. Wie ein Hund, der anschlägt. Man weiß, da kommt was. Aber was es ist, muss man selbst sehen.
Ein Kilometer bis zu den russischen Soldaten

Dann geht es über immer kleinere Straßen. Am Ende nur noch über Felder. Immer wieder hört man in der Ferne das Knallen der Artillerie. Dann erreichen wir die erste Verabredung, den eingangs erwähnten Panzerfahrer. „Wir sind den USA und der EU wirklich dankbar für all die Hilfe, die kommt – aber Russland hat einfach fünf- bis zehnmal so viel Munition wie wir. Das ist das Einzige, was uns fehlt. Mit allem anderen kommen wir gut zurecht und können den Job machen. Aber das ist einfach eine unfaire Verteilung der Ressourcen auf dem Schlachtfeld.“
Noch während wir mit ihm sprechen, fliegen mehrere ukrainische Kampfhubschrauber dicht über uns hinweg. „Okay, wenn die zurück sind, ist es Zeit für euch zu gehen. Bleibt nicht zu lange, es ist wirklich gefährlich hier“, sagt er. Nach einer Minute hören wir die Hubschrauber schießen. Dann explodiert etwas. Wir können die Druckwelle noch leicht wahr nehmen. Nach zwei Minuten sind sie wieder auf auf dem Rückweg und fliegen in drei Metern Höhe an uns vorbei. Wir steigen ein und fahren weiter.
Die Drohnenpiloten
Man muss schnell fahren, aber man will keinen Unfall, keinen Platten, keine Probleme. Eine Gratwanderung. Wir nähern uns einem anderen Frontabschnitt, einem anderen Checkpoint, einer anderen Einheit. Die Drohnenpiloten. Sie schauen mitleidig auf den Drohnen-Detektor. „Okay, dann piepst er eben noch zweimal, bevor es dich erwischt“, sagen sie. Und die funkgesteuerten Drohnen werden nach und nach durch solche ersetzt, die per Glasfaser gesteuert werden. Keine Funkwellen mehr, die man aufspüren oder einfach stören könnte. „Die Russen haben mit den neuen Dingern so eine Reichweite von 10 bis 15 Kilometern. Die Glasfaser ist in einer Art Colaflasche unter der Drohne und fällt beim Fliegen einfach nach hinten raus. Dann parken sie die Drohne neben der Straße und schonen so den Akku. Wenn Du vorbeifährst, fliegt sie dir in die Seite. Zack, das war’s.“ Hier im Kommandostand laufen alle Informationen und Videostreams vieler Drohnen-Teams zusammen. Einige Drohnen beobachten aus großer Entfernung das gesamte Geschehen, andere greifen russische Panzer und Tanklaster an, wieder andere sind ganz nah bei den eigenen Soldaten und klären für sie auf. Die Menge der Drohnen und die Geschwindigkeit der Kommunikation ist unglaublich. Auch hier spürt man die Anspannung unserer Gastgeber. Einerseits wollen sie uns zeigen, was wir sehen wollen. Andererseits ist es gefährlich. Daher verabschieden wir uns bald und fahren weiter. „Kennt ihr noch den Rückweg?“ – „Ja klar!“ antworten wir beide und steigen ein.
Wo die Straßen keine Namen haben
Nur fünf Minuten später wissen wir nicht mehr genau, wo der Weg zurück ist. Das GPS wird hier gestört. Wir stehen in einer Senke an einer Kreuzung und sehen das nächste Dorf nicht. Also öffnen wir die vorbereitete Karte auf dem Tablet: Alles klar. Immer geradeaus. Ein Pickup mit Soldaten kommt. Zur Sicherheit fragen wir sie nach dem Weg. „Ja, immer geradeaus und dann links am Café-Moped vorbei! Es mag skurril klingen, aber keine zehn Minuten weiter, in einem wenig belebten Dorf, steht ein Café-Moped. Es verkauft unter anderem Latte Macchiato mit Vanillesirup und man kann mit allen erdenklichen Kreditkarten bezahlen. So schnell, wie sich die Zivilisation am Morgen in Front verwandelt hat, so schnell verwandelt sie sich wieder zurück. Eine weitere Viertelstunde weiter treffen wir schon wieder auf Zivilisten beim Einkaufen.
Nach dreißig Minuten erreichen wir einen der Checkpoints und fragen, ob es hier wieder sicher sei. „Ja, natürlich. Und ab hier bitte wieder normal fahren“. Damit ist gemeint, dass man nicht mehr mit 150 Stundenkilometern über die Landstraßen rast, in der Hoffnung, den Drohnen besser zu entgehen. Also hinter dem Checkpoint anhalten, Weste und Helm ausziehen, Fenster hochkurbeln, anschnallen. Eine Stunde später sitzen wir im nächsten Cafè und genießen ein vorzügliches Mittagessen, als wäre nichts gewesen.