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Ukrainerinnen berichten vom Kriegsbeginn

„Es ist ein Privileg, ein Zuhause zu haben, in das man zurückkehren kann“ erklärt mir Maria Lukianova in einer Bar in Kyiv, während der Luftalarm losheult. Sie ist neunzehn Jahre alt, Wirtschaftsstudentin und kehrte gerade nach vier Monaten in die Ukraine zurück. 

Maria und Masha

Nachdem die russische Armee die Ukraine 2014 angriff, war es zunächst ruhig im Westen des Landes. Auch in der Hauptstadt Kyiv verlief der Alltag wie gehabt. Der Krieg schien weit weg. Von Kyiv nach Donezk ist es so weit wie von Hannover nach Paris. Und die Front im Donbas bewegte sich lange kaum. Doch in den Morgenstunden des 24. Februar 2022 marschierte die russische Armee mit geballter Kraft in die Ukraine ein. „Ich hatte lange ‚Need for Speed‘ gespielt und mich erst drei Stunden vorher schlafen gelegt. Meine Mutter weckte mich: ‚Der Krieg geht los, die Russen kommen!‘ – Ich wusste erst gar nicht, was ich damit anfangen soll. Machte mich in Ruhe fertig. Dabei fiel mir auf, dass eine Freundin ihren Schirm bei mir vergessen hatte. Rückblickend mag das komisch klingen. Der Krieg geht los und meine Nachricht ist „Dein Schirm ist noch bei mir.“ Aber es dauert, bis man wirklich versteht, was das bedeutet. Wir mussten sofort unsere Sachen packen und sind nach Westen in die sichere Gegend gefahren. Man muss in diesem Moment alles einpacken, was man gegebenenfalls im Rest des Lebens haben muss. In dem Moment wussten wir ja nicht, ob wir je zurückkommen können“, erklärte mir Maria ganz in Ruhe. Eigentlich hatte sie sich hier in der Bar mit ihrer Freundin Masha getroffen, um den Abend im Stadtzentrum zu verbringen.

Mashas Vater kam zur Familie und sagte allen, sie sollen sofort ihre Sachen packen, den nächsten Zug nach Lviv nehmen und dann raus aus der Ukraine. Warum, war ihnen nicht richtig klar. Auch als sie sich von Freunden verabschiedeten, waren diese irritiert. „Wir waren die Ersten, die weg waren. Wir sind am Abend vor dem Krieg von ihm gewarnt worden. Als morgens die ersten Raketen einschlugen, waren wir schon in Lviv und auf dem Weg zur Grenze. Keine Ahnung, woher der das wusste.“

Marias Familie machte eine Pause nach der Grenze. Eine Woche lang warteten sie dort und wohnten in einem Hotelzimmer. „Ganz am Anfang gab es noch Zimmer. Später standen die Leute 2-3 Stunden vor den Hotels an. Es gab Abzocker, die mehr als 1.000 € pro Nacht für ein Zimmer genommen haben. Oder Leute, die schon weg waren und ihre Apartments zu horrenden Preisen an die Fliehenden vermietet haben. Meine Eltern konnten online weiter arbeiten, das war gut. Andere Leute mussten ihren Job aufgeben, um in Sicherheit zu kommen. Und wir hatten immer wieder ein schlechtes Gewissen. Wir hatten einfach das Land verlassen können, andere nicht. Weil wir eines der begehrten Hotelzimmer belegt hielten, das andere unbedingt brauchten, war das ein Grund für uns, weiter nach Ungarn zu gehen.“ Ihr Vater musste in Kyiv bleiben. Für Männer von 18 bis 60 gilt eine allgemeine Ausreisesperre mit Ausnahmen. Ihr Vater bliebt zunächst im Westen des Landes und arbeitete von dort sozusagen im Home Office weiter. Doch ein alleinstehender Mann, mit auswärtigem Kennzeichen, der den ganzen Tag am Computer sitzt, fällt auf. Immer wieder hatten Nachbarn Sorge, es könne sich um einen russischen Saboteur handeln. Von denen gab es viele und niemand wusste so richtig, wie man sie erkennen sollte. 

Mashas Weg dagegen war direkter. Ihre Eltern haben Freunde in Estland. Diese holten sie ab und halfen ihnen, in Estland Fuß zu fassen. Dort kommt man mit russischen Sprachkenntnissen durch den Alltag, und die Menschen sind gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern offen. Aber Masha wollte nicht nach Estland. Ihr ist das Land zu klein, nicht kosmopolitisch genug. Sie reist viel, interessiert sich für Parties, Kunst und andere Kulturen. Also überlegte sie, welches Land zu ihr passen würde. Freundinnen, die in Deutschland waren, sagten ihr, die Menschen seien dort oft distanziert und zurückhaltend – das passte nicht. Spanien und Italien wären interessant, sind derzeit aber nicht für ihre Hilfsbereitschaft bekannt. In Frankreich sind die Menschen offen, es gibt eine große Kunst und Kulturszene und sie kannte das Land von vorangegangenen Reisen. Also ging sie nach Paris. Das Leben dort gefiel ihr gut, dennoch ist es nicht die Heimat. Es fehlen Freunde, Familie und die gewohnte Umgebung. Daher kam sie nun auch zurück nach Kyiv.

Beide erzählen, dass die Unis aufgrund der Covid-Pandemie sowie des Krieges nicht mehr in Präsenz stattfand und sie daher ihre Studien einfach online fortsetzen konnten.

Beide fragen mich, was ich vom Krieg halte, von meiner Regierung, von Putin, von den Gas und Öllieferungen. Ich habe die Toten vor Bucha gesehen, zerstörte Orte bei Kharkiv und einen Raketenangriff auf Kyiv miterlebt. Ich verstehe nicht, warum unsere Regierung kein Kriegsverbrechertribunal fordert, sondern weiter Deals mit Putin macht.

Im Laufe des Abends sind immer mehr Freunde und Bekannte zu uns gestoßen, die berichteten, wie sie die Zeit bisher erlebt haben. Einer von ihnen begann vor wenigen Jahren sein Medizinstudium, fand dies aber zu theoretisch. Er kam in Kontakt mit einem Arzt im Militärkrankenhaus, der ihm ermöglichte, dort praktische Erfahrungen zu sammeln. Zu Beginn der Pandemie wurde er einer Covid-Station zugeteilt und sammelte dort erste Erfahrung in der Intensivbetreuung. Als die Invasion begann, ging er nach Westen, da alle eine Bombardierung Kyivs erwarteten. Nach wenigen Tagen kehrte er zurück, kontaktierte den Arzt, arbeitet nun als Pfleger neben seinem Studium im Militärkrankenhaus und versorgt Kriegsopfer. „Wir haben dort alles: Schussverletzungen, Artilleriesplitter, Minen, Splitter nach Explosionen. Irgendwann gewöhnt man sich dran. Am meisten treffen mich die Menschen mit Wirbelsäulenverletzungen. Immer wieder sind welche vom Kopf abwärts gelähmt, nur weil sie ihre Familien und uns vor den Terroristen schützen wollten. Das ist nicht fair.“ Er berichtet, wie sie zu Beginn des Krieges endlose Schichten schoben, um mit zu wenig Personal alle Verletzten versorgen zu können. „Inzwischen sind wir richtig gut ausgestattet mit Personal, Geräten und Verbrauchsmaterial. Es ging wahnsinnig schnell. Ich habe dort auch gesehen, wie schnell die Ukrainerinnen und Ukrainer sich auf diese Lage einstellen konnten. Ich hoffe, der Rest der Welt nimmt das wahr“.

Die Sonne ist untergegangen und ein vorbeifahrender Passant mahnt uns: „Leute, Ihr wisst, dass in 15 Minuten Ausgangssperre ist? Wenn Ihr dann nicht drinnen seid, kann es gefährlich werden. Und übrigens: Der Luftalarm ist seit gerade eben aufgehoben!“ Alle brechen hastig nach Hause auf. Um 23 Uhr pünktlich muss man Zuhause sein und seine Vorhänge geschlossen haben. Dass man sich in einem Kriegsgebiet befindet, vergisst man in den Bars leicht, doch durch diese Regeln wird man auch schnell wieder dran erinnert. 

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