Vor Ort beim Kurdistan-Referendum

Mit dem Präsidenten im Stadion

Nach der Landung in der kurdischen Hauptstadt Erbil musste es ganz schnell gehen. In zwei Stunden sollte der Präsident Massoud Barzani im Stadion zum Unabhängigkeitsreferendum sprechen, welches in drei Tagen stattfinden sollte. Aber eigentlich musste ich noch meinen Leihwagen und das Gepäck holen. Da ich zu dieser Veranstaltung eine Einladung erhalten hatte, kümmerte sich die Regionalregierung darum, dass ich pünktlich bin und versuchte, meine Langsamkeit wieder aufzuholen. Sie zogen mich schnell durch das Regierungsterminal und setzten mich in einen ihrer Wagen der durch die Stadt jagt, um rechtzeitig da zu sein. Das liegt nicht speziell an mir, sondern daran, dass man sich hier sehr um Journalisten kümmert, wenn sie einen solchen Termin bei der Regierung haben. Viele “Kollegen” hatten es einfach verpasst, sich zu akkreditieren.

Die Straßen waren viel voller als sonst. Auch hingen noch mehr Kurdistan-Flaggen, als gewohnt. Es sah in etwa so aus, wie wenn Deutschland die Fußball-WM gewonnen hat, während gerade die Mauer gefallen ist. Zehntausende feierten auf der Straße, mehr als 50.000 waren schon im Stadion. Da das Stadion umringt von feiernden Menschen war, ich wie immer zu spät war und wir nicht bis ganz ran kamen, halfen uns die anwesenden Peschmerga. Eine Spezialeinheit, die den Eingang sicherte, schob uns durch die Massen zur Tür, die gerade so weit geöffnet wurde, dass ich durch kam. Drinnen ein Gewusel aus allen Spezialeinheiten, Parteiführern, einflussreichen „Scheich“-Familien und Diplomaten. Jemand nahm mich am Arm, zog mich immer weiter, schob mich zum nächsten. Wie ein Staffelstab ging es durch Gänge und Treppen bis am Ende der Treppe Licht schien – und ein paar bekannte Gesichter zu sehen waren. Ich kam auf der Ehrentribüne des Präsidenten raus – „Von hier kannst du auch filmen“ – sagte der Mann und schob mich hoch. Oben sah ich Dilshad Barzani, den kurdischen Konsul in Deutschland. Wir hatten uns bei den vergangenen Besuchen immer wieder gesehen. Herzlich empfing er mich und platzierte mich auf einem guten Platz. Es ging vorbei am General Kaka Hama und seiner Frau Tamin Xhan, bei denen ich 2015 eine Woche gewohnt hatte. Er hatte mir damals traditionelle kurdische Kleidung geschenkt, die ich jetzt gerade auch trug. Beide freuten sich sehr darüber. Ein paar Meter weiter war General Sirwan Barzani, der im Kampf gegen den IS zwischen Mossul und Erbil die Front kommandiert hatte. Er steckte mir einen Peschmerga-Anstecker an, sozusagen als Souvenir. Er sagte mir „Wir haben mit unserem Blut die Sicherheit in den anderen Ländern erkämpft. Wieso sollen wir dann kein eigenes Land haben?“ Ich werde weiter geschoben, um dann den Präsidenten Massoud Barzani zu begrüßen, um den sich derzeit die Weltnachrichten drehen. Er saß wie immer entspannt und lächelnd da, machte Selfies mit allen Leuten und bereitete sich auf seine Rede vor. Ich erhielt in dem Trubel eine Auszeichnung für meine journalistische Arbeit an der IS-Front.

Ich habe nie in Kurdistan/Irak gelebt, bin nur wenige Wochen pro Jahr dort und doch fühle ich mich dort immer heimisch. Bei solchen Veranstaltungen wundere ich mich immer wieder, wie viele Leute ich in den vergangenen sieben Jahren kennen gelernt habe und wie viele sich auch an mich erinnern. Aber darüber konnte ich kaum nachdenken, da im Stadion ein ohrenbetäubender Jubel herrschte. Überall wurden Kurdistan Flaggen in allen Größen geschwenkt, vereinzelt auch Israel-Flaggen. Israel hatte als erstes Land angekündigt, das Referendum anzuerkennen. Überhaupt bestehen gute Beziehungen zwischen Kurdistan/Irak und Israel. Aber nicht nur das Stadion war voll, auch die Rohbauten dahinter waren voller Menschen und selbst auf dem Wasserturm in der Nähe standen Hunderte. Auf der Pressetribüne traten sich mehr als hundert Journalisten auf die Füße, während in der ersten Reihe die Kameras dicht an dicht standen. Die Stimmung hätte kaum besser sein können, ab und zu kippten Menschen wegen der Hitze und Enge um. Kein Wunder bei 36 Grad Celsius und mehreren Stunden Wartezeit auf die guten Plätze.

Nachdem alle Redebeiträge durch waren, ging es so schnell raus, wie vorher rein. Der Strom von Politikern, Militärs und Sicherheitsleuten schob sich durch die Gänge wieder zurück, vor der Tür standen Schlangen von gepanzerten Fahrzeugen, die die jeweiligen Leute mitnahmen. Kaka Hama bot mir an, doch mit zu kommen. An sich ja – aber ich hatte Minuten vorher eine andere Einladung angenommen und war bereits zum Essen eingeladen. Luxusprobleme, die ich mir zwei Stunden vorher noch nicht vorstellen konnte. Meistens habe ich gar keinen Plan mehr, wenn ich nach Kurdistan fliege. Es ergibt sich dann doch alles irgendwie vor Ort.

Von Erbil nach Shingal?

Ich hatte im Juli 2014 mit Major General Sheikh Ali bei Zaxo gesprochen, der das Kommando über die Niniveh-Provinz hatte und mit 5.000 Mann kaum das riesige Gelände überblicken konnte. Am 3. August 2014 wurde Shingal, am andere Ende der Provinz, vom IS überfallen und der 74. Genozid an den dort lebenden Jesiden verübt. Im Januar 2015 war ich in Shingal, um mit Kasim Scheho und seiner Familie zu sprechen. Er, der „Löwe von Shingal“, hatte sich mit wenigen Männern und veralteten Waffen gegen den IS gestellt – und das Heiligtum Sherfedin gehalten. Nun wollte ich wieder hin.

Die Stadt Shingal ist inzwischen befreit und muss wiederaufgebaut werden, die Schehos leben weiterhin dort und kümmern sich um die Sicherheit und den Wiederaufbau. Von Erbil nach Shingal sind es 210 km. Weil Mossul und Tal Afar aber immer noch in Teilen umkämpft sind, muss man einen Umweg knapp an der türkischen Grenze vorbei fahren. Dadurch beträgt die Strecke rund 375 km. Da es meist zweispurige Straßen mit Seitenstreifen sind (etwa wie schlechte Landstraßen in Deutschland) fährt man durchaus sechs Stunden. Wir starteten also um zehn Uhr morgens und wollten nur mal schnell am Bazaar in Erbil vorbei. Am Ende kostete uns dieser Abstecher zwei Stunden und wir waren erst um zwölf Uhr unterwegs. Bis Dohuk lief alles gut, dann zog sich die Strecke. Die Straßen werden schlechter, man selbst wird müder und es fahren immer mehr Laster um einen rum. Am späten Nachmittag erreichten wir den Checkpoint bei Bajid, welcher an der Brücke über den Tigris liegt. In dieser Gegend fährt man dauernd durch Checkpoints, also Kontrollpunkte, die etwa so gut bewacht sind, wie früher die innereuropäischen Grenzen. Alle „normalen“ Fahrzeuge werden einfach durchgewunken, aber alle die auffallen, werden genauer kontrolliert. Ich wurde genauer kontrolliert. Neben meinem Equipment wurde das von Timo Staudte, der mit mir reiste, oft genauer angesehen. Er ist Intensivpfleger, kennt sich mit der Versorgung von kriegsrelevanten Verletzungen gut aus und hatte alles bei um uns zusammen zu flicken, sollte uns doch etwas zustoßen.

Ich war zwar angemeldet, aber die Lage hatte sich wenige Stunden zuvor verändert. Ein Stück weiter hatten vom Iran gestützte Hashd al Shabii Milizen verschiedene kurdische und jesidische Einheiten angegriffen, es gab mehrere Tote. Ohne Schutz und ohne Waffen wollte man mich nicht weiter lassen, damit ich heil ankomme. Vor Ort gab es aber niemanden, der mir Schutz gewähren konnte. Wenn so etwas vorher absehbar ist, wird ein Konvoi mit Sicherungsfahrzeugen zusammengestellt, damit man gut hin und her kommt. Es begannen längere Diskussionen, was man nun tun kann. Der Nachrichtendienst Asayesh ist immer höflich, sagte aber „wir würden da gerade nicht mal selber durchfahren wollen“. Unnötige Panik macht hier auch niemand, also musste etwas dran sein. Auf der anderen Seite möchte man auch keinem Journalisten sagen, dass er nicht durch kann. Am Ende bot man mir an, einen Konvoi etwas weiter entfernt zu organisieren. Das könnte aber einige Stunden dauern und man müsste Leute erst von anderen Punkten abziehen. Das wollte ich wiederum nicht. So gerne ich Shingal gesehen hätte – irgendwo ist auch ein Ende der Gastfreundschaft erreicht. Ich möchte den Bogen bei so etwas keinesfalls überspannen. Es musste also ein anderes Ziel her.

Mit den jesidischen Waisenkindern nach Lalish

Neben Dohuk liegt der Ort Khanke, in dem das gleichnamige Flüchtlingscamp für Jesiden liegt. Die meisten hier sind nach dem 74. Genozid aus Shingal geflohen. Zehntausende wurden vom IS abgeschlachtet, verstümmelt, verschleppt oder als Sklaven verkauft. Im Camp befinden sich knapp 20.000 Flüchtlinge, drum herum im “wilden Camp” noch viel mehr. Natürlich gibt es auch viele Waisen dort. Leider mussten sich alle Menschen in dieser Region an diese furchtbare Tatsache gewöhnen. Üblicherweise werden die Waisenkinder auf die verbleibende Verwandtschaft verteilt und wachsen dort ganz normal auf. Dennoch braucht man inzwischen Waisenhäuser, wie das von Our Bridge in Khanke. Durch Paruar Bako und den Rapper Xatar wurde ein gigantischen Benefiz-Konzert in Berlin organisiert und das Waisenhaus gebaut, welches eines der größten Kurdistans ist. Wie alle diese Projekte ist es hoffnungslos unterfinanziert. Auch hier muss von einem Tag zum anderen gewirtschaftet werden. Oft wird das letzte Geld für die nächste Mahlzeit zusammen gekratzt. Und wir reden nicht von großen Summen. Um ein Kind über den Monat zu bringen braucht man hier 50€. Das ganze Waisenhaus kostet ca. 10.000€ pro Monat. Aber diese Summe wird eben Monat für Monat sicher gebraucht.

Wir verbrachten mit Peruar und den Kindern den ganzen Tag, ließen uns die Abläufe erklären, die Probleme, die Chancen und wie man das Ganze in diesem Chaos organisieren kann. Die Kinder hier sind alle Jesiden. Ein Glaube, der viel älter ist als der Islam oder das Christentum. Vom IS werden sie als Teufelsanbeter oder Ungläubige gesehen, die man töten soll. Das Heiligtum der Jesiden ist der Ort Lalish, in dem auch die heilige Quelle entspringt. Diesen Ort kann man als Besucher ansehen, muss aber verschiedenen Regeln folgen und man erhält auch nicht immer Zugang. Bisher hatte ich zu große Sorge, etwas falsch zu machen, weswegen ich nie dort war. Mit Paruar an der Seite sah das anders aus. Wir fuhren gemeinsam nach Lalish und nahmen alle größeren Waisenkinder mit, in deren Leben der Ort eine wichtige Rolle spielt. Das Leben im Waisenhaus ist trotz engagierten Freiwilligen meistens eintönig. Da sind solche Ausflüge sehr beliebt. In Lalish begrüßte uns der “Wächter” des Eingangs freundlich auf deutsch und wir sahen uns die Anlage an. Es ist eine Mischung aus Gebäuden, Höhlen und Gängen, die miteinander verbunden sind. Bereits aus Sherfedin bei Shingal kannte ich die bunten Tücher mit Knoten drin. Man löst einen Knoten, macht einen neuen und wünscht sich dabei etwas. Der eigene Wunsch bleibt unerfüllt, bis jemand anderes den Knoten löst.

Die Waisenkinder kannten alle Regeln auswendig, mir wurden die wichtigsten erklärt: Schuhe aus, nicht auf die Türschwelle treten und den Türrahmen küssen. OK, das geht. Ich wurde auch vom hohen jesidischen Geistlichen Babe Cawisch empfangen. Er spricht viele Sprachen, unter anderem Deutsch. Ich fragte ihn viel zur Religion und zur Herkunft der Bräuche, zur Kultur und Religion. Zentrales Thema war aber: Wie kann man einen 75. Genozid an den Jesiden verhindern? Er sagte es sei ganz einfach: Man brauche eine international anerkannte Schutzzone für diese aussterbende Religion. Jeside kann man nur werden, wenn beide Elternteile Jesiden sind und wenn man der Religion folgt. Es gibt nur noch weniger als eine Million Jesiden auf der Welt.

Einer der Jungen kam oft an und erzählte uns etwas und ging wieder. Er suchte einfach einen Gesprächspartner und wollte gerne etwas erzählen. Teilweise war es wirr für mich, weil ich seine Geschichte nicht kannte. So befolgte er alle Regeln, sagte aber, dass der IS gut sei und er eigentlich kein Jeside sein will. Er war gerade fünf Jahre alt und musste bereits erleben, wie seine Eltern vom IS ermordet wurden. Er wurde von jesidischen Peschmerga befreit.

Der Junge wird von einer Psychiaterin betreut, die aber nur drei Stunden pro Woche für mehrere Kinder zuständig ist. Sie erklärte mir, dass die Kinder oft völlig blocken, sobald man fragt und nach außen ganz normal wirken. Sie braucht oft Monate um Zugang zu ihnen zu erhalten. Wie man diese Kinder wieder in ein normales Leben zurück führen kann, ist ziemliches Neuland.

Teilweise wurden ganze Dörfer in normalen Operationen eingenommen, teilweise sind Spezialeinheiten auf Sondereinsätze gegangen. Sie sind dann mit vier Leuten und einem Pickup in Richtung IS gefahren und den letzten Teil gelaufen. Sie haben dann einzelne, abgelegene IS Häuser gestürmt, alle Terroristen erschossen und den Rest auf den Pickup geladen. Als ich mal mit solchen Leuten sprach, erklärten sie mir, wie hart es ist, nicht noch ein Haus und noch ein Haus zu nehmen. Es ist aber zu gefährlich und zu kompliziert. Wesentlicher besser sei es, in jeder Nacht an anderer Stelle ein einzelnes Haus zurückzuholen.

Die andere Kinder haben alle ähnliche Geschichten. Sie wirken fröhlich, haben Spaß, aber in ihrem Kopf schlummern ganz düstere Erinnerungen. Ein Mädchen erzählt, dass ihre Schwester zerfetzt wurde und in einer Mülltüte mitgenommen wurde, um ihr eine würdige Beerdigung zu ermöglichen. Für die Kinder ist das eine ganz normale Welt – sie kennen es nicht anders. Was ich mich immer frage ist: Was kann ich für sie tun? Da sind es oft die kleinen Dinge. Da die Grundversorgung bei ihnen funktioniert, wollten wir sie zu einem Essen ihrer Wahl einladen. Einfach, damit der Tag für sie einen schönen Abschluss hat und sie mal etwas anderes machen. Wir fuhren in eines der riesigen Einkaufszentren in Dohuk, das auch einen Foodcourt hatte. Hier wollten sie in den Wienerwald – Pommes und anderes fettiges Zeug essen. Anschließend charterten wir die Bimmelbahn, die Kinder durch die Mall fährt und fuhren ein paar Runden. Ein toller Tag, an den sich die Waisenkinder noch lange erinnern werden.

Auch für mich sollte der Tag noch spannend zu Ende gehen. Gegen siebzehn Uhr wurde ich gefragt, ob ich einen Autokorso begleiten wollte, mit dem für das Referendum geworben werden soll. Natürlich wollte ich das. Meine Erwartungen waren hoch – und es kamen drei Autos. Nach einer Stunde waren es zehn. Nicht so beeindruckend. Als ich gerade dachte, es sei vorbei, trafen wir auf einen parallelen Korso mit rund fünfzig Fahrzeugen. Unter anderem Militär, Polizei und Regierung. Der Korso wuchs aber weiter, sodass am Ende der Verkehr in der ganze Innenstadt von Dohuk zum erliegen kam, als mehrere Hundert Fahrzeuge mit einem wahnsinnigen Lärm immer im Kreis fuhr. Am Ende streamte ich über Facebook drei Stunden von dort und beantwortete dabei laufend die Fragen der Zuschauer, meist aus Deutschland.

Der Tag des Kurdistan Referendum

Am nächsten Morgen stand uns die Fahrt vom Lake Mossul, gegenüber von Zumar, nach Erbil bevor. Da es der Tag des Referendums war, wollte wir früh starten und fuhren im Sonnenaufgang zwei Stunden durch die endlosen Straßen. Die Peschmerga an den Checkpoints sind meist sehr freundlich. Wenn sie das “PRESS” Schild auf dem Wagen sahen, hielten sie uns kurz an, fragten, was wir genau machen und wünschten uns viel Erfolg. Andere winkten uns einfach durch und zeigten den Daumen hoch. Hier sind die Leute wirklich froh, wenn man vorbei kommt und berichten will.

Gegen neun Uhr waren wir in Erbil. Die Straßen waren leer, aber die Autos, die herum fuhren, machten einen wahnsinnigen Lärm und schwenkten Fahnen. Aus Autos, die uns entgegen kamen, streckten uns die Leute ihren rechten Zeigefinger entgegen. Dieser wird bei der Abstimmung in eine Farbe getunkt, die man erst nach einigen Tagen wieder los wird. Der stolze dreckige Finger war also das Zeichen für “Ich habe abgestimmt”. Wir liefen zur Zitadelle, die das historische Zentrum Erbils bildet. Auf dem Weg dorthin kamen wir an vielen Wahllokalen vorbei. Sie waren gut gefüllt und man konnte als Beobachter problemlos rein. Wir setzten unseren Weg zur Zitadelle fort. Von dort kann man auf den Basar und den zentralen Platz mit den vielen Springbrunnen hinab blicken. Es waren weniger Leute unterwegs als sonst, eher wie an einem Feiertag. Die Menschen, die wir trafen, hatten nur ein Thema: JA zum Referendum. Ich habe während meines ganzen Aufenthaltes niemanden getroffen, der sagte, er habe mit “Nein” gestimmt. Ich habe viele Banner mit der “Ja” Kampagne gesehen, eine “Nein”-Kampagne gab es im öffentlichen Straßenbild nicht. Am Ende haben rund sieben Prozent mit “Nein” gestimmt, aber viele von ihnen wollen wegen der erdrückenden Mehrheit der “Ja”-Stimmen nicht darüber reden.

Gleichzeitig überschlugen sich die Meldungen aus Bagdad von der Zentralregierung. Dort setzte man die Armee in Alarmbereitschaft und drohte, sie in die “Disputed Areas” zu schicken, also Gebiete, die unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung stehen und somit von den Peschmerga gesichert werden, die aber laut irakischer Verfassung nicht zu Kurdistan zählen. Zu diesen Gebieten zählt Shingal, aber auch die Großstadt Kirkuk. Der Gouverneur von Kirkuk, Dr. Najmaldin Karim, den ich 2015 kennenlernte, wurde bereits vor einigen Tagen aus dem Amt gehoben. Er dürfte derzeit der einzige amtierende arbeitslose Gouverneur sein – er ignorierte diese Entscheidung schlichtweg. Die Entscheidung kam vom irakischen Parlament, welches für diese Frage aber gar nicht zuständig ist.

General Kaka Hama hat das Kommando über mehr als 5.000 Soldaten, er hat mehr als vierzig Jahre Kampferfahrung in Sulaymania und Kirkuk und wurde sofort nach Kirkuk verlegt. Insgesamt besetzten 50.000 Peschmerga die Linie von Kirkuk bis Tuz-Khurmatu bzw. sie werden auf Abruf dafür bereit gehalten. Wir überlegten auch am nächsten Morgen hin zu fahren und kontaktierten Kaka Hama. Er sagte, dass wir gerne zu ihm stoßen können, sobald er weiß, wo er länger bleibt. Seine Aufgabe derzeit war, die Leute vor Ort zu organisieren und zu motivieren. Wir packen alles Material zusammen: Drei schusssichere Westen Klasse 4 (Kalaschnikow sicher), ballistische Helme, einen Rucksack mit medizinischem Equipment um alle möglichen Verletzungen zu versorgen, vier Kameras, zwei Stative, acht Objektive, Essen, Trinken, Handtücher, Deo und weiteren Kleinkram.

Ich war habe Kaka Hama bereits im Einsatz begleitet, vertraue ihm daher sehr und hatte keine Sorge mit ihm an der Front ein paar Tage zu verbringen. Noch in Erbil flogen mehr als eine Stunde lang US-Kampfhubschrauber über uns. Wir fuhren zum Flughafen um uns die Sache genauer anzusehen. Dort gibt es diverse Sicherheitsbereiche. Jeder, der das Gelände betritt oder befährt, wird abgetastet und von einem Spürhund untersucht. Danach erfolgen zwei Scans mit Metalldetektoren und zweimal weiteres Abtasten, dazu zwei Scans des Gepäcks. An das eigentliche Terminal kann man nur mit einem gültigen Ticket oder mit einer Sondererlaubnis. Sonst muss man im Meet & Greet Bereich warten. Wir wurden mit unserem Anliegen problemlos durchgelassen und konnten auch in einem Bereich filmen, in dem es eigentlich verboten ist. Der Sinn des Fotoverbots ist eigentlich, dass man nicht systematisch die Arbeit der Sicherheitskräfte filmt und analysiert. In der anderen Richtung die Hubschrauber zu filmen war kein Problem.

Von dort ging es zur Zitadelle, auf dem Weg dorthin trafen wir auf den ersten großen Autokorso und eine Art Straßensperre von rund fünfzig Personen mit Flaggen.

An der Zitadelle waren bereits mehrere Straßen abgesperrt und es fuhr ein großer Autokorso vorbei – viele der Wagen fuhren einfach immer im Kreis. Die Leute standen in Kostümen auf den Wagen, wedelten mit Flaggen und hupten. Auch hier waren wieder einige Israel-Flaggen zu sehen. Wir hatten noch einen Interview-Termin mit dem Nachrichtensender Kurdistan24. Dort wurde ich als ausländischer Korrespondent zu meiner Sicht auf das Referendum befragt. Anschließend ging es weiter durch die Massen. Da ich die traditionelle kurdische Kleidung trug, musste ich dauernd Selfies mit Leuten auf dem Fest machen – weit mehr als hundert. Das macht zwar Spaß, ist auf Dauer aber anstrengend. Im Getümmel sprach mich Izzetin an, den ich von Facebook kenne. Er hatte gerade meinen Stream auf dem Tablet offen und hatte einen Premium-Platz im nahegelegenen Café in der zweiten Etage ergattert. Dort ging ich also als nächstes hin. Besser als hier wäre nur der Blick von der geschlossenen Zitadelle gewesen, durfte man aber nicht hin. Vom Tisch aus konnte ich das Treiben sehen und filmen, mit den Menschen an den umliegenden Tischen sprechen und gleichzeitig entspannt Tee trinken. Dort erhielt ich die Zugangsberechtigung für die Zitadelle. Der Bereich war wenigen internationalen Kamerateams vorbehalten, damit diese ohne Störgeräusche drehen konnten. Mich zählten sie aber offensichtlich dazu und ließen mich hoch. Ich saß also mehr als eine Stunde auf der breiten Mauer, mit Tee und sah mir einfach das Treiben an.

Der Mann neben mir sagte, er wisse nicht, ob er sich freuen solle oder nicht. Die Unabhängigkeit sei wichtig, aber der Blutzoll dafür sei so hoch gewesen. Alleine im Kampf gegen Saddam sind mehr als 200.000 Menschen ermordet worden. Saddam wollte die Kurden vollständig auslöschen. Sie wurden zu Tode gefoltert, vergast, lebendig begraben und im Winter in die Berge getrieben, damit sie dort umkommen sollten. Und das ist erst so lange her, wie bei uns der Mauerfall.

Um 23:30 fuhr das letzte Auto des Autokorsos vorbei – die Party lief aber noch bis spät in die Nacht

Kirkuk

Früh morgens fuhr ich nach Kirkuk. Die Stadt war früher die Grenzstadt zwischen Kurdistan und dem Irak. Nachdem Mossul im Juli 2014 vom IS eingenommen worden war, brach die irakische Armee auseinander. Auch die Einheiten in Kirkuk flohen oder waren in desolatem Zustand. Als ich damals wenige Tage später in Kirkuk war, war die Stadt bereits von den Peschmerga gesichert. So war es jetzt auch noch. Am Checkpoint nach Kirkuk erklärten mir die Peschmerga, dass ab hier das wirklich gefährliche Terrain beginnt und ich nicht ohne guten Grund weiter sollte. Ich erklärte ihnen mein Anliegen, was sie verstanden. Sie fragten, ob ich Schutz bräuchte, was ich hier noch verneinte. Sie rieten aber dazu bei der Ausfahrt südlich von Kirkuk auf jeden Fall den Schutz der dortigen Peschmerga in Anspruch zu nehmen. Ich wollte aber nicht an die zu erwartende Kampflinie, da dort nur Truppen ankamen und eingeteilt wurden. Ich wollte direkt nach Kirkuk rein und dort mit den Menschen sprechen. Selbst im Stadtzentrum von Kirkuk stehen noch zerschossene Ruinen von Wohnblocks und die Stimmung ist angespannt. Es gibt unter anderem Hashd al Shabii Gebiete, turkmenische Gebiete und kurdische Gebiete – alle durch Flaggen an Häusern und den Straßen gekennzeichnet. In allen Gebieten sind die Leute verschlossen. Reden etwas mit einem, aber nicht zu viel. Es gab in den vergangenen Monaten viele Angriffe und dutzende Tote in Kirkuk – man ist misstrauisch. Für eine Aufnahme wollten wir in das Kirkuk Disneyland – dieses hatte aber leider geschlossen. Was die Leute jedoch gemein hatten: Wirklich Angst vor einem Krieg hatten sie nicht. Eher Sorge vor weiteren Anschlägen von kleinen Kommandos.

Freizeitpark in Sulaymania

Neben so schrecklichen Orten gibt es nur ein paar Minuten entfernt einen Freizeitpark mit Achterbahnen, Zuckerwatte und Seilbahn. Etwa so schlagartig, wie die Themen nun in diesem Text gewechselt haben, geschieht es auch vor Ort, wenn man durch die Straßen läuft oder sich mit den Menschen dort unterhält. Man gewöhnt sich irgendwann daran. “Wenn du nicht auf die Achterbahn gehst, steht davon auch niemand wieder von den Toten auf” – sagte man mir hier schon öfters. Die Menschen hier haben gelernt, mit diesem unglaublichen Leid umzugehen. In ChaviLand war ich schon öfters und finde es immer wieder ein spannendes Kontrastprogramm. Es gibt alle möglichen Kotzmaschinen, Kinderkarussells, Süßigkeitenstände, Fotopunkte und Wasserspiele mit Laserprojektionen. Man kann auch 500 m höher mit der Seilbahn auf den Berg fahren und fast bis zum Iran gucken, während Paraglider an einem vorbei fliegen. Der größte Unterschied zu unseren Freizeitparks sind die sehr großen Rasen-Terrassen, die Familien zum Picknicken einladen. Hier kann man den ganzen Abend sitzen und das Mitgebrachte verzehren, während man über die Stadt guckt. Wir wollten vom Berg aus den Sonnenuntergang sehen, doch der allgegenwärtige Smog machte uns einen Strich durch die Rechnung.

Zurück nach Erbil – Der Ausreiseaufruf

Am Morgen fuhren wir zusammen über den wunderschönen Lake Dokan zurück nach Erbil. Pflichtprogramm ist in Erbil immer der Biergarten “Deutscher Hof” von Gunter Völker, der auch seit Jahren zusammen mit Tobias Huch spenden sammelt, um Wasser an die Flüchtlinge in Kurdistan zu verteilen. Im Winter wurden es dann Decken und Heizpilze – einfach immer das, was gerade am nötigsten ist. Hier trifft man viele Deutsche und andere westliche Menschen und kann Käsespätzle oder Kaiserschmarrn essen. Gunter ist ein herzensguter Mensch, aber ich habe immer Sorge, dass er wegen seines Stresslevel einen Herzinfarkt bekommt. Die irakische Regierung hatte in der Nacht Truppen in die Türkei geflogen und das irakische Parlament hatte genehmigt, dass die irakische Armee die Stadt Kirkuk einnehmen darf. Außerdem wurde für Freitag, den 29. September 2017 um 18 Uhr angekündigt, dass alle Grenzen Kurdistans sowie der Luftraum gesperrt werden sollen. Gunter hat selber gedient, lange in Kabul einen Biergarten betrieben und lebt seit mehr als zehn Jahren in Kurdistan. Wenn der IS oder die irakische Armee kommen, interessiert ihn das wenig. Wenn sein Laster mit Biernachschub droht an der Grenze stecken zu bleiben, herrscht jedoch höchste Alarmbereitschaft. Nach einigen Momenten der Spannung dann aber die Entwarnung: Der Laster ist über die Grenze gekommen. “Deutscher Hof ist, wenn es trotzdem klappt” – lacht er und lehnt sich entspannt zurück.

Per Mail informiert uns das Konsulat über einen Ausreiseaufruf. Bei Deutschen bricht dann oft die Panik aus – ist aber halb so wild. An sich heißt das nur: Wenn man keinen guten Grund hast zu bleiben, dann sollte man lieber gehen, solange das noch gefahrlos möglich ist. Es verdichteten sich aber die Anzeichen, dass der Luftraum am Freitag um 18 Uhr gesperrt werden soll. Erste Airlines gaben bekannt, sich der Ultimatum zu beugen. Kurzer Check unserer Tickets: Wir fliegen um 16 Uhr ab. Jedoch wurden die verfügbaren Tickets um Erbil zu verlassen sehr schnell sehr knapp und die Preise explodierten. Ein Ticket Erbil-Wien stieg z.B. von 400€ auf mehr als 2.000€ an. Da mir die Entwicklung im Land eher wenig Sorge bereitete, bot ich der Airline an, mein Ticket gegen ein anderes, nach dem “Flight-Ban”, zu tauschen. Sie bedankten sich, sagten aber, dass derzeit keine Freiwilligen benötigt werden. Uns erreicht auch die Nachricht, dass keine Laster mehr von Bagdad nach Erbil durchgelassen werden. Es geht also langsam los.

Währenddessen testeten die Amerikaner weiter ihre Hubschrauber. Später in der Nacht flogen Kolonnen von Ihnen über uns her. Teilweise Apache, teilweise Chinhook, teilweise Blackhawks mit Außentanks. Meist handelt es sich dabei um US-Marines, welche die Peschmerga bei härteren Fällen unterstützen. Derzeit oft in Mossul und Tal Afar, was zwischen Mossul und Shingal liegt. Beide Orte gelten laut irakischem Militär als “befreit”, sind aber weiter umkämpft.

Wer sich nun an den Irakkrieg oder Afghanistan erinnert, der denkt an wilde cowboyartige Amerikaner, die die Bevölkerung nerven und sich für die geilsten halten. Hier nicht. In meiner ganzen Zeit hier habe ich keinen US-Soldaten gesehen – oder ihn eben nicht erkannt. Im Straßenbild sieht man keine Fahrzeuge von ihnen, keine Uniformen, kein McDonalds. Und das, obwohl mehrere Tausend von Ihnen da sind. Man hat wohl aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.

Die Bevölkerung hier lässt all das ruhig. Den irakischen Premier Al-Abadi finden die Leute unterhaltsam, verrückt oder blöd. Aber wirklich Angst vor ihm oder der Armee hat niemand. Die Partyzeit des Referendums ist vorbei und der Alltag zieht wieder ein. “Es gab schon Schlimmeres” fasst es unser Taxifahrer zusammen.

Vom Generalkonsul zum Flughafen

Vor dem Abflug sprach ich noch mit dem deutschen Generalkonsul über die aktuelle Lage, das Referendum und die Wahlergebnisses in Deutschland. Viel zu viele Themen für viel zu wenig Zeit. Da unklar war, wie die Situation am Flughafen sein wird, konnten wir eh nicht zu weit in die Details gehen. Seinen Job stelle ich mir sehr kompliziert vor, habe mich in all den Jahren aber gut vom Konsulat betreut gefühlt. Auch jetzt hatten wir immer Updates per E-Mail bekommen, die weder Panik verbreitet haben, noch die Lage schön geredet haben.

Am Flughafen war viel los. Einige Fluggesellschaften hatten zusätzliche Flüge Angebote um alle Ausreisewilligen raus zu bekommen. Auch bei der Bundeswehr stand ein Kontingentwechsel an, so dass viele Soldaten dabei waren. Wie die US Truppen fliegt auch die Bundeswehr in unauffälliger Kleidung. Ob das nun besser oder schlechter ist, vermag ich nicht zu sagen. Während wir einsteigen, starten bereits Kampfjets auf dem Rollfeld.

Meine Woche hier verlief wie immer: Die meisten geplanten Sachen haben nicht geklappt, dafür haben sich viele andere ergeben. Und wie immer war meine Zeit hier viel zu schnell rum – aber auch daran habe ich mich im Laufe der Zeit gewöhnt.

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