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Fotoreportage: Protest in Georgien

Georgien gehört zu den kleinen Ländern im Kaukasus, die viele Deutsche nur aus den Nachrichten kennen. Im Jahr 2008 gab es einen Krieg mit Russland. Der an Russland grenzende Teil des Landes ist bis heute von Russland besetzt, immerhin zwanzig Prozent des Staatsgebietes. Wie so viele ehemalige Sowjetrepubliken muss sich das Land zwischen Blockfreiheit, dem Westen und Russland entscheiden. Während etwa die Hälfte der Bevölkerung eine Annäherung an die EU befürwortet, wünscht sich etwa ein Drittel eine Annäherung an Russland. Die Erhebung dieser Zahlen ist schwierig und ungenau. 

Der Protest in Bildern

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Diese Fotoserie von Patrick Enssele zeigt den Protest in Bilder. Diese Serie wurde mit den Berlin Story Foto Award 2024 ausgezeichnet.

Unregelmäßigkeiten bei der Wahl

Am 26. Oktober fanden die Parlamentswahlen statt. Die pro-russische Regierungspartei „Georgischer Traum“ hatte in den Sonntagsfragen etwa ein Drittel der Stimmen, erreichte dann aber ungewöhnliche 55% in der Abstimmung. War es Wahlbetrug? Die OSCE Beobachter sagen, dass Stimmzettel für Fremde, nicht anwesende Personen ausgefüllt wurde, es habe Bestechung und Einschüchterung gegeben. Jedoch sähen sie keinen Wahlbetrug. Eine Frage der Definition des Begriffes. Dass diese „Unregelmäßigkeiten“ aber durch nichts ausser Betrug, zu erklären sind, wurde hier recht genau erklärt.

In den vergangenen Tagen gab es starke Proteste in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Ich überlegte anzureisen. Aber es fehlte eigentlich die Zeit. 

Fahren wir los?

Vorgestern war ich quasi auf dem Weg ins Wochenende. Ich sass Mittags am Flughafen, 15 Minuten bis zum Boarding nach Berlin. Keine Termine bis zu einem Vortrag an einer Universität am Montag. Da erreichte mich die Nachricht des Fotografen Patrick Enssele, mit dem ich vor kurzem im Donbas war: „Kurzer Trip nach Tbilisi? Ich prüfe Flüge.“ Noch eine Stunde Flug und dann Wochenende. Ich komme um 14 Uhr in Berlin an. Boarding für den Flug nach Georgien wäre 19 Uhr. Und ich müsste nach Hause. Auspacken, einpacken, ins Büro, Ausrüstung holen und wieder zum Flughafen. Dann Montag morgen zurück und direkt zum Vortrag an der Uni. Und dann drei weitere Vorträge in der Woche. Aber das Interesse an der Lage siegte. Also habe ich auf dem Flug nach Berlin den Flug nach Georgien und das Hotel dort gebucht.

Packen

In Berlin angekommen, geht es erst einmal an die Kleidungsauswahl. Fünfzehn Minuten zu Hause. Zum Glück hat man eine Packliste: Gasmaske FM53, pro Tag ein Riot-Filter, Augendusche, Rucksack mit Halterungen für alles, große Powerbank, Kamera, schnell trocknende Hose mit integrierten Knieschonern, warme und schnell trocknende Unterwäsche, wasserdichte Jacke und die dünne schusssichere Weste. Hält bis zur Kalaschnikow und wiegt nur 3 kg. Ich rechne zwar nicht mit Beschuss, aber die Weste ist auch gegen Schlagstöcke oder Gummigeschosse gut. 

Dann ins Büro. Kurz die Reise besprechen, auf den Fotografen warten und ab zum Flughafen. Der Flug hat Verspätung, wir müssen umsteigen, am Samstagmorgen sind wir um sieben im Bett. Um zehn geht es weiter. Man darf Schlaf einfach nicht zu sehr mögen.

Ein neuer Maidan?

Auch der Euromaidan in der Ukraine 2014 hatte den Sturz der pro-russischen Regierung zum Ziel. Damals waren bis zu 800.000 Menschen, darunter bis zu 12.000 Paramilitärs, eine Woche lang ununterbrochen auf der Straße. Auf dem Maidan-Platz gab es ein Dauercamp mit vielen großen Zelten.

Die ukrainische Regierung versuchte, die Proteste niederzuschlagen. Scharfschützen wurden eingesetzt. Molotowcocktails wurden von Demonstranten gegen Sturmgewehre der Polizei geworfen. 800.000 entspricht etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Georgien hat 3,7 Millionen Einwohner. Das entspricht 74.000 Demonstranten und einigen hundert Paramilitärs.

In Georgien

In den deutschen sozialen Medien war immer wieder von einem neuen Maidan die Rede. Aber auch Videos von Polizeigewalt und Brutalität. Am Samstagmorgen fahren wir los, erkunden die Stadt. Alles sieht normal aus. Kein Militär auf den Straßen, nicht auffallend viele Polizisten. Keine Barrikaden auf den Straßen, keine Demonstrationen. Selbst die aus den Fernsehberichten bekannte Treppe zum Parlament ist ganz normal begehbar, Menschen machen dort Selfies.

Am und um das Parlament sieht man viele frisch gesprühte Graffiti. Die Parolen der Demonstranten werden einfach wieder mit der Sprühdose unkenntlich gemacht. Vom „Platz der Freiheit“ führt die aus Fernsehberichten bekannte Schota Rustaweli Avenue zum Parlament. Hier stehen immer mehr uniformierte und zivile Polizisten. Aber sie beobachten nur die Menschen, die ihrem Alltag nachgehen.  Es gibt kein permanentes Camp, keine permanente Konfrontation. Wir warten auf den Abend. Wenn die Sonne gegen 18 Uhr untergeht, soll es losgehen.

Am Abend

Protestieren vor der Polizeikette. Foto: Patrick Enssele
Protestieren vor der Polizeikette. Foto: Patrick Enssele

Nach und nach zieht die Polizei auf dem Freiheitsplatz ihre Kräfte mit Wasserwerfern und Hundertschaften mit Aufstandsbekämpfungsausrüstung zusammen. Der Zugang zum Parlament über den Platz ist aber weiterhin möglich. Auch die Straßen rechts und links des Parlaments sind gesichert. Der Bereich gegenüber dem Parlament, die kleineren Straßen dort, nicht. Die sind zwar mit Polizeiwagen für den Autoverkehr gesperrt, aber die Demonstranten können ungehindert durch. Auch Anwohner kommen mit dem Auto durch. In einer Straße stehen vier Krankenwagen bereit.

Vor dem Parlament versammeln sich Tausende, Zehntausende. Sie rufen, pfeifen, singen. Die große Stahlbarrikade vor dem Eingang des Parlaments wird mit Steinen und Brecheisen angegriffen. Feuerwerkskörper werden geworfen. Doch die Stahlplatten rühren sich nicht. Sie scheinen sechs bis sieben Millimeter dick zu sein. Wie ein einfacher gepanzerter Landcruiser, denke ich.  Ab und zu werden Feuerwerkskörper in der Menge gezündet. Die Demonstranten kommen bis auf einen Meter an die Polizei heran, die das Gebäude sichert. Aber auch nach Stunden scheint es zu keinen Auseinandersetzungen zu kommen.

Ich treffe viele verschiedene Menschen. Viele junge Leute. Anfang 20, Männer und Frauen zu gleichen Teilen. Oft fragen sie mich, was ich von den Protesten halte und wie die Medien in Deutschland darüber berichten. Sie sagen, dass sie in Freiheit leben wollen.

„Schau dir Russland an und dann die EU. Wo willst du leben? Das ist doch nicht schwer. Aber es ist schwer. Wir fühlen uns so machtlos. Wir haben die Wahl gewonnen. Und dann wird sie uns genommen. Wir wollen keine Gewalt. Was sollen wir tun?“ Sie fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Diese stellt mögliche Wahlfälschungen fest. Es gibt Solidaritätsbekundungen über soziale Medien. Doch die pro-russische Regierung bleibt.

Eine junge Georgierin spricht mich auf Deutsch an. Sie war einige Monate in Deutschland, möchte Film studieren und muss ein Projekt für die Uni machen. Theoretisch erklären, was sie mit ihrem Film zeigen will, und es dann auch machen. Ihre Idee ist einfach: Sie macht einen Dokumentarfilm über den Protest. Gemeinsam schauen wir uns die Barrikade an, die auf der Straße errichtet wird. Etwa zwei Meter hoch, die ganze Breite der Straße. In Richtung Polizei steht drauf: „You Suck!“ – mit einem gemalten Smiley.

Die Polizei

Barrikade mit Aufschrift "You suck!"
Barrikade mit Aufschrift „You suck!“

Die Front der Barrikade zeigt zum Friedensplatz. Die Straße ist fast leer. Sie führt bergab. Am Ende, auf der ganzen Breite der Prachtstraße, stehen Polizisten mit Schutzschilden, hinter ihnen Wasserwerfer mit unglaublich hellen Stroboskoplichtern. Ein Jugendlicher fährt auf einem Skateboard den Berg hinunter, auf die Polizeikette zu, wendet kurz davor und fährt an ihnen vorbei. Mit Blick auf den Maidan, die Proteste im Gezi-Park oder auch die früheren 1. Mai-Demonstrationen in Berlin hätte ich eine Reaktion der Polizei erwartet. Entweder den Einsatz von Pfefferspray oder dass er verfolgt wird. Nichts dergleichen ist passiert.

Wie passt das zu den immer wieder gezeigten und als authentisch bestätigten Bildern von Polizeigewalt? Am Abend zuvor wurden am Boden liegende Menschen mit voller Wucht gegen den Kopf getreten. Kritische Journalisten wurden gezielt aus der Menge gepickt und krankenhausreif geprügelt. 

Man kann die Polizisten direkt ansprechen und sie reden mit einem. Das ist sehr erstaunlich. Manche können Englisch. Also direkt fragen, ob sie Gummigeschosse haben und was sie vom Abend erwarten. Der Polizist erklärt, dass sie gar keine Waffen hätten. Ihre Aufgabe sei es nur, die Demonstration aufzulösen. Es gäbe einzelne Polizisten, die die Gasgranaten schießen und andere mit den Gewehren für die Gummigeschosse. Diese sähen aus wie Schrotflinten. Emotional wirkt er dabei nicht. Weder freut er sich noch bedauert er es. Er steht einfach da und beantwortet die Fragen.

Auf die Frage, ab wann man aufpassen müsse, erklärt er: „Wenn der Wasserwerfer anspringt, dann geht es gleich los. Aber der schießt erst mal nur geradeaus. Also an der Seite bleiben. Wenn du dann auf eine der freien Straßen gehst, passiert nichts mehr.“ Das klingt alles eher nach einem üblichen Demonstrationseinsatz bei uns. Die Menge zerstreuen. Einen Rückzugsweg anbieten und dann hoffen, dass die meisten gehen.

Zu den Verletzten sagt er: „Das sind oft Leute, die Ärger gemacht haben. Die uns mit Holzlatten geschlagen haben oder so“ und zu den mutmaßlich gezielt von Polizisten verletzten: „Einzelfälle. Aber das waren nicht WIR.“ Er bekommt den Befehl, die Gasmaske aufzusetzen und macht sich bereit. Wir verabschieden uns voneinander. 

Lokale Journalisten erklären, dass das grob hinkomme. Die normale Polizei sei nicht besonders aggressiv, aber auch nicht zurückhaltend. Aber man könne sich mit ihnen im Alltag normal arrangieren. Jedoch gäbe es andere Spezialkräfte der Polizei oder des Nachrichtendienstes, welche diese „Spezialaufgaben“ ganz gezielt übernähmen. Und natürlich gäbe es, wie in jeder Polizei, ein übliches geringes Maß an Polizeigewalt. 

Es geht los

Reizgas und Wasserwerfer
Reizgas-Granaten und Wasserwerfer

Ich habe versucht, in der Menge nicht aufzufallen. Gerade wenn man die Situation vor Ort noch nicht kennt, ist das eine gute Wahl. Stiefel und Cargohosen tragen hier viele. Eine normale Jacke. Hinten an der Hose die Gasmaske und der Helm mit dem „PRESS“-Logo drauf. Unter der Jacke die Weste mit dem großen Presseschild. Die Kamera in der Hand. Es gibt immer wieder vermummte Demonstranten, die den Rest der Demonstration genau beobachten. Ab und zu kommt einer zu mir und fragt, wer ich bin, wo ich herkomme. Auch das passiert oft bei solchen Demonstrationen in anderen Ländern. Ich erkläre kurz mein Anliegen. Sie sind zufrieden – ich kann unbehelligt weitermachen.

Doch dann wird es lauter, die Menge bewegt sich, der Wasserwerfer rollt an. Also schnell das Geübte: Maske auf, Verschluss am Filter abreißen. Damit beginnt sozusagen die begrenzte Lebensdauer des Filters. Dann die Hand von außen auf den Filter legen, einatmen, Dichtigkeit prüfen. Die Maske ist dicht. Dann den Helm drüber. Und die Jacke auf, als Presse erkennbar sein. Dann fliegen Feuerwerkskörper auf die Polizei zu, Gasgranaten zurück. Ich stehe dazwischen. Die Granaten erzeugen einen dichten weißen Chlornebel. Man sieht nicht mehr viel.

Also erst einmal orientieren: Die Polizei rennt nicht. Sie bewegt sich langsam. Sie treiben die Menge erst einmal auseinander. Die Presse sammelt sich wie so oft in kleinen Trauben. Demonstranten mit Gasmasken helfen denen ohne aus der Menge. Ich drehe ein Video vor Lage, versuche erst einmal in einen freieren Bereich zu kommen, um mich zu orientieren.

Eine einheimische Kollegin ohne Gasmaske filmt die Situation mit ihrem Handy, als neben ihr eine Granate einschlägt. Sie atmet ein, hustet, bricht zusammen, reibt sich die Augen. Genau falsch. Aber das lässt sich leicht sagen, wenn es einen nicht selbst trifft. Sie konnte kaum noch laufen. Nach ein, zwei Atemzügen im dichten Nebel brennt das Gesicht, die Lunge, Nase, Mund. Als hätte man Brennnesseln reingesteckt. Und man gerät in Panik, weil man nichts dagegen tun kann. Also packe ich sie, ziehe sie raus, dorthin, wo die Krankenwagen standen. Ein vermummter Demonstrant kommt und hilft mir. Nach ein paar Metern kommen uns andere entgegen, übernehmen sie, spülen ihr die Augen aus und bringen sie weiter. 

Dann wieder das Wichtigste: Orientierung. Wo ist die Polizei? Wo der Wasserwerfer? Die große Barrikade ist verlassen. Die Straße fast leer. Im Nebel sehe ich eine Gestalt, offensichtlich ein Fotograf, der langsam auf mich zukommt und fotografiert. Ganz entspannt. Es ist Patrick Enssele. Die Gasmaske, die ich ihm gegeben habe, hat offensichtlich ihren Zweck erfüllt. Er hat auch keine Probleme.

Der Wasserwerfer vom Platz der Freiheit nähert sich der Barrikade, die Polizeikette auch. Niemand rennt. Also gehe ich wieder näher ran. Um alles aufzunehmen und genau zu sehen, wie die Polizei arbeitet. Sieht aus wie bei uns. Als sie näher kommen, erkenne ich den Polizisten mit dem Granatwerfer, den anderen mit dem Gewehr, das vermutlich Gummigeschosse verschießt. Beide Waffen zeigen auf den Boden, sie scheinen auch nicht geladen zu sein. Alles in Ordnung. Also dokumentiere ich weiter.

Die verstreuten Journalisten sammeln sich an einer Stelle, von der aus man die Räumung der Barrikade gut filmen kann. Ich schließe mich an. Die Polizei schaut alle im Vorbeigehen an. Geht dann aber ohne Reaktion an uns vorbei. Die Sache scheint erledigt. Platz und Straße fast leer. Überall Tränengasschwaden. Kein Protest mehr. 

Der Rest der Nacht

Ich gehe in eine der Nebenstraßen und folge den Leuten. Sobald niemand mehr hustet, nehme ich Helm und Maske ab. „Bist du von der Presse?“ Fragt einer. Und fragt dann, was ich von der Situation halte, was ich denke. Er sei schon 35, sagt er, aber die Jüngeren würden das gut machen. Das Land in die Hand nehmen. „Die wollen in Freiheit leben. Die müssen das jetzt machen.“ Kurz darauf kommt Patrick Enssele, schaut sich die Fotos auf der Kamera an. Eine Gruppe Vermummter schaut uns an, kommt zu uns. „Ihr seid von der Presse? Könnt ihr ein Foto von uns machen?“ Und posieren gemeinsam auf der Straße. Sie bekommen ihr Foto.

Der Protest zieht wie ein Katz-und-Maus-Spiel durch die Nebenstraßen und weiter durch die Stadt. Er wirkt organisiert, aber zu klein, um die Stadt lahm zu legen.

Gegen vier Uhr am Sonntagmorgen sitzen wir in der Lobby des Hotels. Es stinkt. Wie Jürgen von der Lippe einmal in einem Gag sagte: „Es ist nicht so sehr der Geruch, es ist das Brennen in den Augen“. Irgendetwas stimmt nicht. Dann merken wir es: Das sind wir. Unsere Kleidung ist noch vom Tränengas getränkt, unsere Haare und Hände auch. Also duschen, umziehen, Kleidung vor das Hotel hängen. Mir fällt auf, dass ich am Freitagmorgen vor zwei Tagen gedanklich und räumlich ganz woanders war. Und dass ich seither drei Stunden geschlafen habe. 

Der Protest für heute ist vorbei. Wir sind fertig. Kurz vor Sonnenaufgang geht der Tag zu Ende. Heute Abend geht es weiter. 

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