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Wehrpflicht und Waffen im israelischen Alltag

Wer war zuerst da? Die Israelis oder die Palästinenser? Wenn man dieser Frage nachgeht, landet man schnell bei der Bibel, historischen Funden und irgendwann in einem Bereich, in dem es noch nicht mal eine eindeutige Zeitrechnung gab. Und dann? Irgendwann müsste man ja darauf stoßen, dass die Urahnen der einen oder anderen Gruppe zuerst einen Fuß auf ein bestimmtes Stück Land gesetzt haben. Soll man daraus also nach Jahrtausenden ableiten, dass der eine oder andere mehr Anrecht auf diesen Flecken der Welt hat? Oder dass man dann Land nach den Regeln der Gruppe teilen sollte, der länger dort lebt?

Deutschland nur für Römer oder Kimbern?

Wenn man dieser Logik folgen und sie auf Deutschland übertragen würde, so würde ich sehr davon profitieren. Meine Familie kann ich rund 800 Jahre lückenlos zurückverfolgen. Ich müsste mir also nur mit Leuten einig werden, deren Familien noch länger in Berlin leben. Alle anderen könnten wir rauswerfen. Blöd wäre natürlich, würde dann der Nachkomme eines Zenturio auftauchen, welcher in der Varusschlacht gedient hat. Der könnte mich rauswerfen. Und es könnte lange Rechtsstreitigkeiten geben, ob die Nachfolger der Kimbern uns alle rauswerfen dürften – auch wenn diese vermutlich nur im heutigen Süddeutschland waren, dort aber vor mehr als 2.000 Jahren das Rodeln erfanden. 

Würde man versuchen seinem Gegenüber in der deutschen Kneipe diese Logik von Kimbern und Zenturionen näher zu bringen, würde man vermutlich schon lange alleine am Tisch sitzen – oder man hätte eine lachende Meute um sich herum. Niemand würde ernsthaft diskutieren, wo man eine römisch-germanische Grenze für eine Zweistaatenlösung ziehen sollte. Geht es aber um Israel, so wird es oft als normal angesehen, diese historischen Vergleiche auszupacken. 

Israel und Palästina

Die Lage in Israel und den Gebieten der palästinensischen Autonomiebehörde („PA-Gebiete“) ist jedoch komplizierter. Wäre eine Zweistaatenlösung wünschenswert? Oder wäre es besser, in einem Staat friedlich zusammenzuleben? Im israelischen Teil Israels wohnen 20 % Araber, welche in allen Teilen der Gesellschaft zu finden sind. Am 13. Juni 2021 soll die neue Regierung vereidigt werden, zu welcher erstmals eine arabische Partei gehört. Auch dieser Schritt wird von vielen jüdischen Israelis begrüßt. Nur wenn man zusammenarbeitet, kann es Frieden geben. Seit Jahren verbessert Israel die Zusammenarbeit mit arabisch oder muslimisch geprägten Staaten der Welt. Die Nachbarländer Ägypten und Jordanien haben Israel anerkannt und normale diplomatische Beziehungen aufgebaut. In den „Abrahams Accords“ wurde eine diplomatische Annäherung mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Sudan vereinbart. Mit Saudi-Arabien und der autonomen Region Kurdistan gibt es inoffizielle Kooperationen. Mit dem Libanon und Syrien gab es wenigstens seit Jahren keinen Krieg mehr. Die größten Angriffe der jüngeren Zeit erfolgten durch die Hamas aus Gaza heraus. 

Bei einer Zweistaatenlösung müsste Palästina selber mit den Hamas-Terroristen fertig werden. Jedoch haben bei der letzten Wahl 2004 rund 44 % der Wahlberechtigten in den PA-Gebieten die Hamas gewählt. Die palästinensischen Sicherheitsbehörden sind kaum in der Lage, das Gebiet sicher zu halten. Dazu kommt, dass es zu wenige und zu schlecht ausgestattete Krankenhäuser gibt, so dass die größeren medizinischen Eingriffe in Israel stattfinden müssen. Die Energie- und Wasserversorgung hängt ebenfalls größtenteils von Israel ab. Palästina als ein zweiter Staat wäre also kaum in der Lage für sich selbst zu sorgen. Dabei hält schon heute niemand die Führung davon ab, diese Bereiche zu verbessern. Doch das wenige Geld fließt oft in die Taschen der Machtinhaber. 

Israel und die PA-Gebiete hatten 1948 einen ungleichen Start. Israel wurde von allen Nachbarländern und weiteren Verbündeten angegriffen, die PA-Gebiete hatten all diese Nationen auf ihrer Seite. Gut 70 Jahre später hat sich Israel zu einer Hightech-Startup-Demokratie entwickelt, die PA-Gebiete können nicht mal ihren eigenen Strom erzeugen. Ob die Situation besser werden würde, nur weil aus einem PA-Gebiet der Staat Palästina wird, ist fraglich. 

Arabisch-Israelische Kriege

Das Problem in Israel ist aber weniger die Frage, welcher Fuß vor Jahrtausenden zuerst ein Stück Sand berührt hat, sondern eher, warum sich viele, große arabisch geprägte und wenig demokratische Staaten von einer kleinen jüdisch geprägten Demokratie bedroht fühlen. So sehr, dass einige von ihnen mehrfach versucht haben, diesen Staat auszulöschen. Am 15. Mai 1948 griffen Ägypten, Syrien, Jordanien, Irak, Libanon, Saudi Arabien und das Königreich Jemen das neu gegründete Israel an. Sie alle verloren diesen und weitere Kriege gegen Israel. Der Krieg mit Syrien wurde bis heute nicht beendet, es gibt bis heute keine klare Grenze. Die Golan-Höhen wurden von Israel annektiert, da dieses Nadelöhr von Panzern zwischen Israel und Syrien befahren werden kann. Bis heute befinden sich dort Minenfelder. 

Golanhöhen: Zwischen Motorrad und Panzer liegt ein Minenfeld

Welches Interesse sollte jedoch Israel daran haben, den Konflikt aufrechtzuerhalten? In Israel sterben jedes Jahr Zivilisten und Soldaten durch diesen Konflikt. Es werden Milliarden für die Sicherheit des Landes ausgegeben. Permanent gibt es Anfeindungen aus der ganzen Welt. Die Bevölkerung ist unzufrieden und kann in Wahlen ihrem Unmut Ausdruck verleihen – anders als in Syrien, dem Iran oder Gaza. Israel zu unterstellen, dass es ein Interesse an der Fortführung habe, entbehrt einfach jeder Grundlage. Ohne diesen Konflikt würde es allen Beteiligten besser gehen. Doch so lange die Situation ist, wie sie ist, muss Israel auf die Angriffe reagieren können.

Wehrpflicht

Die israelische Wehrpflicht betrifft alle jüdischen Frauen und Männer, sowie alle männlichen Drusen und Tscherkessen mit 18 Jahren. Araber sind von der Wehrpflicht ausgenommen. Wenn sie Christen oder Moslems sind, können sie jedoch freiwillig dienen. Es gibt verschiedene Gründe, sich von der Wehrpflicht befreien zu lassen. Meist handelt es sich dabei um religiöse Gründe, seltener um medizinische oder den Ausschluss aufgrund von begangenen Straftaten. Diese Gründe zusammen betreffen rund ein Viertel der Wehrpflichtigen. Männer müssen 30 Monate dienen, Frauen 24 Monate. „Frauen erbringen noch andere zeitaufwändige Leistungen, die dem Land zugutekommen. Zum Beispiel Kinder austragen und zur Welt bringen. Dies soll damit kompensiert werden. Aber gleiches Recht für alle: Sobald hier ein schwangerer Mann steht, kann er auch nach 24 Monaten gehen“, erklärt mir ein Major der israelischen Armee das System.

Auf den Stützpunkten und im Alltag sieht man daher sehr viele, sehr junge Soldatinnen und Soldaten. Nicht eine Bus- oder Bahnfahrt vergeht, ohne dass man auf sie trifft. 

Waffen im Alltag

Israelischer Soldat mit Sturmgewehr auf dem Schoß spielt Klavier in Jerusalem

„Entschuldigung, können wir das kurz hier abstellen?“ fragt die Gruppe Teenager, während sie Reisetaschen, die so groß wie sie selbst erscheinen, im Zug verstauen. Mit „das“ sind drei Sturmgewehre gemeint, eins davon mit Granatwerfer. Diese stehen nun neben mir auf einem leeren Sitzplatz, eins zielt mehr oder minder in meine Richtung. Und es sind nicht gerade kleine Waffen, sondern unter anderem ein Colt M4 und ein MTAR. Liebhaber von Actionfilmen würden nun vermutlich gerne ein Selfie damit machen. Andere Menschen würden sich bedrückt zur Seite biegen und hoffen, dass keine der Waffen losgeht. Können sie aber nicht, da keine Magazine in den Waffe sind. Dieses ist mit einem Gummiband an der Waffe befestigt. Zusätzlich ist ein Kunststoff-Pin am Anfang des Laufes befestigt, sodass dort keine Patrone Platz finden würde. Aber diesen Umstand erkennt man als europäischer Laie wohl kaum und würde sich weiterhin unwohl fühlen.

Doch hier, in Israel, sind diese Waffen völlig normal. Etwa so normal, wie Rucksäcke in der deutschen Öffentlichkeit. Früher wurden die Waffen zentral gelagert, dies bringt vielfältige Probleme mit sich. Vor einigen Jahren waren wesentlich mehr Armee-Waffen auf Israels Straßen unterwegs, nun sind es nur noch einzelne Teile der Armee, welche die Waffen mit nach Hause nehmen. Da es immer wieder zu Diebstählen der Waffen aus Privatwohnungen kam, tragen viele Soldaten diese permanent bei sich. Am Ende der Dienstzeit gehen die Waffen zurück an die Armee.

„Woher kommst du? Stören Dich die Waffen?“ fragt mich Yael, eine 19-jährige Soldatin, die mit dem Granatwerfer. Ich erkläre ihr, dass ich selber Sportschütze bin, viel in Krisen- und Kriegsgebieten unterwegs bin und dass mich die Waffen daher nicht stören. Jedoch dürften sie viele Deutsche irritieren, die damit bisher weniger Kontakt hatten.

Auf der anderen Seite wirken diese Waffen in diesem Kontext auch weniger bedrohlich. Sie baumeln irgendwo an jungen Menschen, welche den Starbucks Kaffee trinken und TikTok Videos schauen und dabei lachen. Die Waffe wirkt wie eine deplatzierte Requisite, aber nicht wie ein tödliches Instrument, welches jedem Moment zum Einsatz kommen könnte. 

Für die jungen Menschen hier sind die Waffen ebenfalls normal. Genauso normal, wie der Wehrdienst und die Verteidigung ihres Landes. Der Wehrdienst ist in den vergangenen Jahren unbeliebter geworden. Weil das Budget gekürzt wurde, gibt es weniger Soldaten und die Regierung überlegt, die allgemeine Wehrpflicht aufzugeben und eine Freiwilligenarmee aufzubauen. Yael erklärt mir dazu: „So traurig der Anlass ist … aber der Wehrdienst für alle hat auch etwas Gutes. Dort treffen sich die Leute aus allen gesellschaftlichen und politischen Schichten. Ich wohne mit einer ziemlich konservativen Soldatin zusammen, mit der ich mich regelmäßig über meine Regenbogenflagge am Rucksack gestritten habe. Wir können uns aber nicht einfach gegenseitig blocken wie auf Instagram. Und wir haben leider viel Zeit. Also müssen wir das irgendwie klären. Und die anderen auch. Also man lernt, Konflikte zu bewältigen oder Leute einfach zu ignorieren. Meine Eltern haben bis heute Kontakt zu Kameraden von damals, die sie sonst nie kennen gelernt hätten. Dass wir für die anderen alle nur ‚Juden’ sind, schafft eine Art Zusammenhalt, wenn es drauf ankommt.“ Auf die Frage, ob sie auch zu einer Freiwilligenarmee gegangen wäre sagte sie klar: „Nein. Dann wäre ich direkt zur Uni gegangen. Meine Eltern können mir zum Glück eine gute Ausbildung finanzieren. Ich glaube, dann gehen vor allem Konservative und Arme zur Armee“. Ein Blick auf die Bundeswehr oder die US-Armee zeigt: Nicht nur Konservative und Arme, aber: Beide Armeen bilden die Gesellschaft nicht ausgeglichen und vollständig ab. In Israel herrscht Konsens darüber, dass man das Land gegen die realen und häufig auftretenden Angriffe verteidigen muss, aber alle wären froh, wenn es die Angriffe und die Notwenigkeit der großen Armee einfach nicht gäbe. In Jerusalem steigt die kleine Gruppe von Soldaten mit mir aus, empfiehlt mir noch ein Hummus-Bistro und wünscht mir eine friedliche Zeit.

Touristen und Waffen

Außer den Touristen beachtet kaum jemand diese Waffen. Sie verlieren den Reiz des Verbotenen, wenn sie nicht verboten, sondern allgegenwärtig sind. Etwa wie das schnelle Fahren auf der unbeschränkten Autobahn in Deutschland. Einige Touristen finden das spannend und wollen es ausprobieren, die wenigsten Deutschen nutzen diese Möglichkeit. Unser Alltag sind die Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen, der Alltag der Israelis sind diese Kriegswaffen. Man könnte es zusammenfassen als: Andere Länder, andere Sitten. 

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