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Wer sind diese Flüchtlinge?

Berlin – Regelmäßig liest man Geschichten von Flüchtlingen und ihren Fluchtgründen. In den vergangenen Jahren habe ich viele Flüchtlingscamps besucht. Ich habe mit vielen Flüchtlingen gesprochen und mir unzählige Notizen gemacht. Die Geschichten sind oberflächlich ähnlich, im Detail und für die Betroffenen jedoch sehr individuell.

Die blauen Pässe

Im Flugzeug unterhalte ich mich mit einer Familie, welche am Check-In durch den blauen Passersatz für Staatenlose auffiel. Sie kommen aus Shingal, dem Ort in dem der Islamische Staat 2014 den 74. Genozid an den Jesiden verübte. Es war und ist eines der größten Siedlungsgebiete der Jesiden.

Die Familie besteht aus den letzten Überlebenden ihrer Großfamilie. Alle anderen sind vom IS ermordet worden. Die Überlebenden der Familie dürfen nun nach Deutschland. Im Irak und der Autonomen Region Kurdistan fühlen sie sich nicht mehr sicher und wollen einfach Abstand. Sie erzählen mir, dass sie noch nie geflogen, aber oft geflohen sind. Sie sprechen passabel Deutsch, auch die beiden Kinder. Sie haben Sprachkurse und Zertifikate gemacht und viel untereinander gesprochen, Deutsche Welle gesehen und mit Kinderbüchern geübt. Sie wissen, dass Friedrich II. die Kartoffel brachte und wann die Mauer gefallen ist. „Das war beides wichtig für Deutschland!“ Sie haben drei Monate lang Vorbereitungskurse besucht, ihr ganzes Verfahren lief mehr als ein Jahr. Es ist der steinige legale Weg, Asyl in Deutschland zu erhalten.  

Auf die Frage, was sie erwarten, antworten sie: „Ausschlafen.“ Nicht im Sinne von faul rumliegen, sondern im Sinne von: Keine Angst haben, dass etwas passiert, während man schläft.

Aus Damaskus nach Kurdistan-Irak

Er lebte in Damaskus in einem eigenen Haus mit seiner Frau und den Kindern. Jeden Tag ging er zur Arbeit. Er hat Marmor verarbeitet und ein ganz gutes Leben gehabt. Das Leben unter dem Diktator Assad war nie wirklich gut, aber man konnte sich damit arrangieren. Man durfte nicht auffallen und nichts kritisieren, dann ging es.

Als er an einem dieser Tage mit dem Auto auf dem Heimweg war, kam er in eine Verkehrskontrolle. Die gibt es dort andauernd, nichts Besonderes. Als er anhielt, wurde er aus dem Auto gezogen, gefesselt und mit zur Wache genommen. Dort schmissen sie ihn in eine Zelle und schlugen zum Spaß auf ihn ein. Mit Händen, Schlagstöcken, Eisenrohren. Als ihnen das zu langweilig wurde, nahmen sie ihn mit zu einem improvisierten Galgen und hingen ihn auf. Er wurde dreizehn Stunden lang gefoltert, bis ihn Freunde frei kaufen konnten. Er stimmte zu, dass er einen Fehler gemacht hätte und er keine Ansprüche gegen die Polizisten geltend machen möchte. Sollte also jemals das Regime dort zusammenbrechen, kann jeder Polizist nachweisen, dass er nie etwas falsch gemacht hat.

Er zeigt mir ein Handyvideo, welches er nach seinem Freikauf aufgenommen hat. Nur in Unterhose bekleidet sieht man, wie alle anderen Stellen des Körpers aus großen violetten bis schwarzen Flecken bestehen. Seine Familie entschloss sich, sofort zu fliehen, bevor jemand getötet wird. Er gab seinen Job auf, sein Haus, fast all sein Hab und Gut. Sie fuhren nach Nordosten zur Grenze der Autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak. Die letzten fünfzehn Kilometer mussten sie durch die Nacht laufen. Im Morgengrauen kamen sie an der Grenze bei den Peschmerga an. Diese brachten sie in eines der Erstaufnahmelager, in denen sie registriert und notdürftig versorgt wurden.

Das war es. Nie wieder zurück in die Heimat. Alles verloren, keinen Pass mehr. Das Ende des normalen Lebens mit Job, Haus, Auto, normaler Familie. Ab jetzt nur noch ein Flüchtling unter vielen, der nicht weiß, wo er leben soll.

Sie kamen in ein Camp im Osten der Autonomen Region Kurdistan, ca 30 km von Halabja, nahe der iranischen Grenze. Nach drei Jahren hier hat er die Hoffnung auf ein normales Leben aufgegeben. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs in den umliegenden Orten durch und freut sich, nicht mehr im Zelt leben zu müssen. Inzwischen werden kleine Häuser (ähnlich wie in Schrebergärten in Deutschland) gebaut, in denen sie leben können. Seinen Kindern wollte er immer mehr bieten als das, was er hatte. Nun ist er froh, wenn sie einfach nur überleben und in Frieden aufwachsen.

Aus Shingal

Als der IS am 03.08.2014 den Ort Shingal und das dazugehörige Gebirge überfielen, wollten sie die religiöse Minderheit der Jesiden auslöschen. Die Jesiden wohnen hier seit Jahrtausenden. Weder missionieren sie, noch führen sie Kriege, noch tun sie irgendeinem Nachbarn etwas. Sie leben hier einfach. Auf einem Stück Erde, welches sonst niemand je wirklich haben wollte. Sie sind friedfertig, haben keine Armee, können sich nicht wehren. Shingal gehört administrativ zum Irak. Als der IS in die Gegend kam, floh die irakische Armee.

Die Peschmerga (die Armee der Autonomen Region Kurdistan) sicherten die mehreren tausend Quadratkilometer der dem Irak zugehörigen Region anschließend ohne Auftrag oder Unterstützung der Zentralregierung in Bagdad. Der Zentralregierung war es schlichtweg egal, was hier auf einer Fläche so groß wie dem Saarland passiert. Die Peschmerga konnten das Gelände überwachen, nicht aber gegen einen großen IS-Angriff halten. Es folgte die militärisch verständliche, aber menschlich fatale, Entscheidung, einen großen Teil der kurdischen Soldaten zurückzuziehen, bis man stärker zurück schlagen könnte.

Die Jesiden wurden vom IS bei 50 Grad Tageshöchsttemperatur in das angrenzende Gebirge getrieben. Auf dem Berg gab es kein Wasser und keinen Schatten. Es gab zwei Straßen, um auf den Berg zu kommen. Eine im Norden, eine im Süden. Der IS hatte das Gebirge ringsum umstellt. Mit dem Mut der Verzweiflung stellten sich diejenigen der Belagerten, die noch schießen konnten, dagegen. Die verbliebenen Peschmerga kämpften auf verlorenem Posten. Zehntausende Jesiden wurden vom IS abgeschlachtet oder verdursteten. Tausende Frauen und Kinder wurden verschleppt und versklavt und sind heute noch in den Händen des IS.

Aus Syrien kam die (kurdische) Volksbefreiungseinheit YPG zur Hilfe, griff den IS von hinten an und konnte in den folgenden Tagen einen Fluchtkorridor vom Berg nach Rojava (kurdischer Teil im Nordosten Syriens) freikämpfen. Auf diesem Weg kamen viele der Geflohenen zunächst nach Rojava, mussten dann aber sehen, wie es für sie weiter geht. Über die Türkei? In die Autonome Region Kurdistan im Nord-Irak? In Rojava (Syrien) bleiben? Oder zurück nach Hause nach Shingal.

Der Jeside, mit dem ich spreche, entschied sich für die Autonome Region Kurdistan, da diese am dichtesten an der Heimat lag und friedlich war. Er kam zusammen mit hunderten anderen Jesiden zunächst in ein Auffanglager und kam dann in ein permanentes Lager. Hier wohnt er zusammen mit arabischen und kurdischen Moslems aus dem Irak und Syrien. Ein großer Teil seiner Familie wird vermisst, viele seiner Freunde sind tot. Zurück will er erst, wenn Shingal komplett sicher ist. Es sind schon genug Menschen gestorben.

Er ist der einzige Jeside, der offen mit mir sprechen möchte. Die anderen sind sehr freundlich, sagen aber, ihre Geschichte sei einfach die Gleiche. Es war der 74. Genozid an den Jesiden. Dass man diese zählt, sagt eigentlich bereits alles über die traurige Geschichte dieser Religion.

Der Ermordete Sohn

Die Dame spricht mich im Flüchtlingscamp Domiz, neben der Stadt Dohuk in Kurdistan (Irak) an. Ich war in den vergangene Jahren mehrfach hier. Sehe, wie es wächst. Sie lädt uns in ihr Haus ein und möchte ihre Geschichte erzählen. Sie lebte mit ihrer Familie als Kurden unter Assad in Syrien. Immer diskriminiert und gedemütigt. Ihr jüngerer Sohn war Journalist, der ältere studierte Englisch und Geschichte. Er übersetzt und erklärt uns die Details.

Ihr jüngerer Sohn verfasste einen regimekritischen Artikel. Er wurde zu Hause abgeholt und zu Tode gefoltert. Sie erlitt daraufhin einen Herzinfarkt und wollte gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern fliehen. Sie ließen alles zurück, was sie nicht tragen konnten, und fuhren per Anhalter Richtung Grenze zur Autonomen Region Kurdistan. Sie wurden dabei immer wieder von Assads Soldaten attackiert und gejagt. Nicht einmal, wenn man alles verloren hat und flieht, wird man dort in Ruhe gelassen. Von der Grenze aus wurden sie ins Camp Domiz geleitet, welches sowohl Auffanglager, als auch permanentes Camp ist. Sie hat ihr Haus, die Einrichtung und alle Erinnerungsstücke aus ihrem Leben verloren. Ihr älterer Sohn hat den Studienplatz verloren, versucht in der Autonomen Region Kurdistan weiter zu lernen und um den Anschluss nicht komplett zu verlieren. Auch sie wollen zurück sobald es geht. Als wir gehen wollen, zeigt sie uns noch ihren Arztbericht und fragt, ob wir helfen können. Sie muss dringend operiert werden, da ihre Lebenserwartung nur noch bei wenigen Wochen liegt. Im Camp können komplizierte medizinische Eingriffe nicht vorgenommen werden. Auch die umliegenden Krankenhäuser können nur akute Verletzungen versorgen.
Solche Momente sind immer schwer. Wir sagen ihr, dass wir unser Bestes versuchen, aber vermutlich nicht helfen können. Mit falschen Hoffnungen hilft man auch niemandem weiter.

Die Autonome Region Kurdistan versorgt derzeit rund zwei Millionen Flüchtlinge bei knapp fünf Millionen eigenen Einwohnern. Keiner der Flüchtlinge ist mit dem Ziel gestartet, Deutschen den Job wegzunehmen oder dem Staat auf der Tasche zu liegen. Beides kennen sie von zu Hause nicht. Dort müssen sie sich ihren Lebensstandart hart erarbeiten und mussten ihn nun wegwerfen, um nicht zu sterben.

Kinder in den südlichen Camps

In den kurdischen Flüchtlingscamps weiter im Süden gibt es viele unbegleitete Kinder. Sie kommen Teilweise aus der Gegend um Falludscha oder Baghdad. Von dort sind es je nach Route circa 150 bis 200 km. Ein zehnjähriger erzählt mir, dass er der älteste Überlebende der Familie war. Also hat er „die kleinen“ genommen und sich einem Treck anderer Leute angeschlossen, die nach Kurdistan (Irak) wollten. Sie sind rund eine Woche gelaufen, bis sie am ersten Checkpoint der kurdischen Peschmerga ankamen und versorgt wurden.

Gerade die Kinder bekommen häufig Essen oder Trinken von Einheimischen oder anderen Menschen im Treck, die sich mehr oder minder verantwortlich für sie fühlen. Manche Kinder werden auf der Strecke von Fremden aufgenommen und bleiben einfach dort.

Das IS-Gebiet wäre für sie entweder sofort tödlich, oder man würden sie zu Kindersoldaten machen. Die vom Iran gesteuerten schiitische Haschd-al-Shabi Milizen lassen sie aber meistens einfach passieren. Sie haben kein Interesse, sich selber um die Kinder zu kümmern. Sie haben aber auch kein Interesse daran, ihnen das Leben schwerer zu machen. Einige der Kinder sterben auf der Flucht. Einige sogar, wenn sie bereits in Sicherheit sind. Die häufigsten Gründe sind Infektionskrankheiten oder schlichtweg Überlastung.

Eine Woche nach ihrer Flucht gehen viele von ihnen bereits in die Schule. In der Pause spielen sie mit den anderen und sitzen lachend zusammen. Es ist unglaublich, wie sie es sich nicht nehmen lassen, die glücklichen Momente ihres Lebens zu nutzen.

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