Wie Kinder spielen verlernen
Diese Playmobil-Ritterburg steht seit mehr als 8 Jahren in meinem Therapieraum. Hunderte von Kindern haben damit gespielt. Genauer: bis 2020 hat fast JEDES Kind bis 12 Jahre mit der Burg gespielt, während ich Anamnese erhoben oder Kind & Eltern beraten haben. Ritter & Jägerinnen, Königin mit Zauberschwert, gefangene Prinzen, Räuberbanden & Räuberdrachen haben hier gewohnt. Das hat sich geändert. Es kommen „dieselben“ Kinder, oft Grundschulkinder mit Schulproblemen. Sie spielen nicht mehr.
Von Dr. med. Oliver Dierssen
Viele Kinder trauen sich nicht mehr an die Burg. Sie bleiben an der Seite der Eltern. Auch mit Ermutigung klappt es oft nicht. Wilde Rollenspiele finden selten statt. Ich werde nicht mehr beschossen und auch nicht mit dem Flugdrachen angeflogen. Während die Burg früher nach jeder Stunde zusammengeräumt werden musste, bleibt sie jetzt tagelang unberührt, trotz neuer, aktueller Figuren. „Langweilig“, sagen viele Kinder.
Viele von ihnen treffe ich im Wartezimmer mit dem Handy in der Hand an. In dieser Burg steckt Herzblut. Ich habe Ersatzteile bei Ebay gekauft und sie so groß gebaut, wie es irgendwie ging, kippelige Teile mit Heißkleber zusammengeklebt. Die Freude der Kinder („Gehen wir wieder in den Raum mit der Burg?“) war auch meine Freude. Pro Tag kommen 5-10 Kinder und Jugendliche in meinen Raum, teils mit Geschwistern. Die Ratlosigkeit der Kinder ist mit Händen zu greifen. Nachdem ich Jahr für Jahr beobachtet habe, wie sie weniger spielen, meine ich jetzt: Viele haben es verlernt. Der Grund, aus dem die Kinder nur noch wenig spielen, ist offensichtlich. Wer sich beruflich oder privat mit Kindern beschäftigt, kennt ihn.
Es sind „elektronische Medien“, allen voran Handyspiele, die Kinder mit einem Dauerfeuer an Reizen, Belohnungen, Achievements, Diamanten, Skins, Upgrades, Waffen, Brawlern auf kürzeste Aufmerksamkeitsspannen trimmen und die Fantasietätigkeit reduzieren oder (Verzeihung) weitgehend auslöschen. Ich kann als Kinderpsychiater gar nicht deutlich genug davor warnen, Kinder über mehrere Stunden täglich Handyspiele spielen zu lassen.
Mein Eindruck: Das Belohnungssystem wird durch ausgeklügelte Spielmechaniken völlig überrannt. Wer trainiert monatelang Fußball oder übt Gitarre, nur um weiterhin unteres Mittelmaß zu sein, wenn der schnelle Belohnungserfolg und Dopaminkick nur einen Handgriff entfernt ist?
Liebe Eltern, bitte macht das Experiment: Spielt eine Stunde lang Brawl Stars, haltet ohne Pause durch, draufschauen & spielen. Horcht dann in euch hinein. Wie geht es Körper und Geist? Und nun versucht euch auszumalen, was eine solche Beschäftigung über Tage, Wochen, Monate, Jahre mit dem schnell lernenden Gehirn eines Kindes tut. Welche Fähigkeiten bilden sich aus? Welche sind, werden nicht gebraucht und können sich nicht entwickeln? Welche Aufmerksamkeitsspanne wird trainiert?
Zum Argument: „Nicht alle Kinder mögen Playmobil.“ Ein erheblicher Teil der Kinder sind Jungen im Grundschulalter. Es gibt hier auch Autos, Dinosaurier und eine Murmelbahn im Raum. Und seit einem guten Jahr auch noch ein Highlight, das vielleicht auch meinen Wünschen entsprach.
Dieser Beitrag erschien zuerst hier auf Twitter. Dr. med. Oliver Dierssen ist niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Traumatherapeut und Autor. Website | Twitter | Instagram