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Israel ’22 – Chroniken des Terrors

Israel, Frühling 2022. In der schlimmsten Terrorserie seit dem Ende der zweiten Intifada sterben innerhalb wenigen Wochen 19 Menschen. Malte Lauterbach berichtet aus Israel über die Geschehnisse am Anfang des Jahres und über die aktuellen Nachwirkungen.

Quelle: Sicherheitskameras / Israelische Polizei. Zensur durch den Autor

Sonntag, 27 März 2022, 20:40

Ein ungewöhnlich kalter Meerwind weht an diesem Frühlingsabend durch die Straßen Haderas, vorbei an Restaurants, einem Waschsalon, einem Spielplatz, vereinzelten Spaziergängern, vorbei an den beiden Grenzpolizisten Yazan Falah und Shirel Abukarat, die an einer Bushaltestelle warten. Die beiden kennen sich schon länger, haben sich vor der Ausbildung bereits kennengelernt. Sie haben den Abend in der Stadt verbracht, sind auf dem Weg nach Hause, als plötzlich Schüsse fallen. Zwei Männer in weißen Overalls eröffnen ohne Vorwarnung das Feuer, die beiden jungen Polizisten sterben noch vor Ort, tödlich getroffen. Der ganze Angriff dauert weniger als 10 Minuten, danach werden die beiden Attentäter von zwei Polizisten erschossen. Die traurige Bilanz: 12 Passanten und Polizisten werden teilweise schwer verwundet, schweben tagelang in Lebensgefahr. Die beiden Polizisten werden wenige Tage später beigesetzt. Sie waren gerade erst 19 Jahre alt geworden. Shirel Abukarat war noch als Kind mit ihrer Familie aus Frankreich nach Israel gezogen, ihre Mutter wollte ihr ein Leben in Sicherheit garantieren.

Bildquelle: Israeli Defence Forces

Kurz vor der Tat veröffentlichen die beiden Attentäter ein Facebookvideo, in dem sie sich für den Islamischen Staat bekennen – eine Terrorgruppe, die man hier in Israel nach den Interventionen im Irak (Enno Lenze berichtete) und den Geschehnissen im syrischen Bürgerkrieg für besiegt hielt

Dienstag, 29. März 2022, 20:07.

Bnei Brak gilt als das de facto Epizentrum der orthodoxen Juden in Israel. Es handelt sich um eine der dicht bevölkerten Städte der Welt, dort leben mehr als 200.000 Leute auf einer Fläche von gerade mal 1700 Hektar. In den engen Straßen reihen sich Hochhäuser an Hochhäuser, hinter denen die Sonne schon lange untergegangen ist. Die Straßen, die kaum noch Wärme abgeben, sind, wie an den meisten Tagen, verstopft mit abendlichem Autoverkehr.
Die Kakofonie aus Autohupen und Motorengeräuschen wird plötzlich unterbrochen von schnellem Gewehrfeuer, ein Schütze eröffnet plötzlich das Feuer auf Passanten. Im Kugelhagel sterben drei Leute. Ein junger Mann kann fliehen, nachdem das Gewehr des Attentäters versagt.
Der Schütze setzt ihm erst nach, zieht dann aber weiter in die gegenüber liegende Straße, wo der 29-jährige Rabbi Avishai Yehezkel gerade mit seinem zwei Jahre alten Kind einen Abendspaziergang macht.
Der junge Mann versteht, was geschieht, wirft sich schützend vor seinen Sohn und wird von mehreren Kugeln getroffen. Es gelingt es ihm noch, seinen Bruder telefonisch zu warnen. Danach bricht er zusammen und stirbt noch vor Ort.
Kurze Zeit danach wird der Schütze von einem Motorradpolizisten erschossen. Er war nur 3 Jahre älter als sein letztes Opfer. Bis heute ist unklar, wie er an die Tatwaffe, ein M-16 Gewehr, gekommen ist. Auch er hatte vermutlich Beziehungen zum Islamischen Staat, war aus einem nahegelegenen Ort aus der Westbank nach Israel gekommen.

Donnerstag, 7 April 2022, 21:17 Uhr.

Die Diezengoff-Straße ist einer der wichtigsten Verkehrsadern Tel Avivs, entlang der vierspurigen Straße reihen sich Modegeschäfte, Restaurants, mehr- oder weniger zwielichtige Kneipen, Nachtclubs und alles andere, was das Herz eines jungen Erwachsenen schneller schlagen lässt.

An diesem noch frischen Abend ist die Straße gefüllt mit jungen Leuten auf dem Weg, den Beginn des Wochenendes zu feiern und in den zahlreichen Bars sündhafte teure Biere zu trinken. Auch Tomer Morad und Eytam Magini, beide 27 Jahre alt, sind aus Kfar Saba nach Tel Aviv gekommen und sitzen in der kleinen Ilka-Bar an einem der kleinen Tische und genießen die Abendstimmung als plötzlich Schüsse fallen und Glas bricht. Die beiden Männer werden von mehreren Schüssen getroffen und sterben wenige Stunden später in einem Krankenhaus in Tel Aviv. Zehn weitere werden teilweise schwer verwundet, ein weiterer verstirbt wenig später an seinen schweren Verletzungen. Der Attentäter, ein 28-jähriger Palästinenser, der in der Vergangenheit den Behörden nie als auffällig galt, stirbt wenige Stunden später nach einer massiven Suchaktion in einem Gefecht mit israelischen Spezialeinheiten in Jaffa.

Wenn man als Journalist Krieg und Terror begegnet, neigt man dazu, Personen als Objekt zu sehen – als Nummer, als Statistik. Es ist sicherlich bequemer, simpel „Bei Terroranschlägen im Frühling 2022 starben in Israel 19 Leute“ zu schreiben, wie ich es in der Einleitung des Artikels tat, aber moralisch ist es falsch. Für Journalist und Leser ist es angenehmer zu schreiben (und zu lesen) „So und so viele Menschen starben, so und so viele wurden verletzt, etc., etc.“
Faktisch sorgt das aber dazu, dass der Leser sich unbewusst von den Nachrichten distanziert.
Dabei ist es Aufgabe des Autors, eine Beziehung zwischen der Geschichte und dem Leser aufzubauen. Denn dem Leser muss bewusst sein, dass hinter den Zahlen auch Gesichter und Geschichten stecken. Dieses Problem ist mir während meiner Arbeit um den Krieg im Yemen schonmal begegnet – und mehrmals über das Problem geschrieben. Viel verändert hat das nicht, aber mir ist bewusst geworden, wie wichtig der Versuch, emotionale Bindung des Lesers aufzubauen, ist.

Alles, was harte Fakten betrifft, wurde in den letzten 5 Monaten bereits zig tausendmal niedergeschrieben. Das, was übrig bleibt, sind die Menschen, nicht nur die Hinterbliebenen, sondern auch jene 19, die umgekommen sind. Um über diese Schicksale zumindest kurz zu berichten, habe ich die Geschehnisse des Frühlings in dieser „atypischen“ Weise niedergeschrieben. Es ist mir nicht möglich, auf das Schicksal jedes einzelnem einzugehen, sondern das Ziel ist eher, die Situation dazustellen, den Schock zu zeigen. Und exakt dieser Schock trifft Israel. Es handelt sich, wie Eingans erwähnt, um die tödlichste Anschlagswelle seit der zweiten Intifada. Premierminister Lapid versetzt die israelische Polizei in höchste Alarmbereitschaft, mehrere tausend Soldaten – werden in die besonders gefährdeten Gebiete nahe der Westbank versetzt, um weitere Anschläge zu verhindern und für Frieden in Israel zu sorgen. Und dieser wackelige Frieden hält bis in den August, wobei die Ereignisse des Augusts einen eigenen Artikel füllen und daher separat berichtet werden.

Malte Lauterbach bei der Recherche

Während die israelische Sonne hier gerade langsam hinter einem Hügel untergeht, möchte ich mich noch für das Lesen bedanken und lade dazu ein, eventuell Fragen an mich zu richten.

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