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2023 – Kriege, Proteste und politische Dramen.

Justizreformen im März 2023.

Malte Ian Lauterbach lässt das Jahr 2023 Revue passieren – einem Jahr des Blutvergießens, ein Jahr von Kriegen, Protesten und fundamentalen Veränderungen. Als Berichterstatter für Berlin Story News oft unmittelbar an Schlüsselmomenten wie den israelischen Protesten gegen die Justizreform und dem Konflikt mit der Hisbollah beteiligt, berichteten wir oft bereits vor vielen anderen deutschen Medien über die Brandherde des Nahen Ostens.

Das Jahr 2023 startete für mich persönlich auf dem Dach eines Hochhauses in Jerusalem. Die Neujahresresolution meines Gesprächspartners, einem Offizier in der israelischen Luftwaffe, lautete: mehr Sport treiben. Meine eigene Resolution bestand darin, mit mehr Menschen über Krieg, möglichen Frieden zu sprechen und mehr zu veröffentlichen. Nach einem Jahr, dutzenden Artikeln und drei Büchern, die 2024 oder 2025 erscheinen werden, und Reisen in 11 Länder, kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich meine Vorsätze erfüllt habe.

Bereits Ende Januar erschütterte ein schwerer Anschlag das Leben in der Haupstadt Israels. Ein junger Schütze eröffnet das Feuer in der Nähe einer Synagoge im Osten Jerusalems, 7 Menschen sterben. Zwei davon sind Eli und Natali Mizrahi (48 und 46 Jahre alt), die als Zeugen der ersten Schüsse auf die Straße eilten, um Verletzten zu helfen. Das Blutbad ereignet sich am internationalen Holocaustgedenktag und sorgt für einen weltweiten Aufschrei. Selbst der Generalsekretär der Vereinten Nationen kritisiert in einem seltenen Statement das Massaker, während in den palästinensischen Städten die Milizen Süßigkeiten austeilen, um ihren „Märtyrer“ zu feiern.

Kurz darauf gerät eine Frau mit ihren kleinen Kindern in der Westbank in eine lebensgefährliche Situation. Ihr Auto wird umringt, Steine und Müll fliegen. Durch ein Wunder werden sie von palästinensischen Polizisten gerettet. Das Fahrzeug wird jedoch vollständig ausgeraubt und geht dann in Flammen auf. Bis heute steht es wie ein düsteres Mahnmal an der Straßenseite des Vororts von Nablus.

Wochen später wird ein ehemaliger US-Marine am Steuer seines Autos von mehreren Schüssen schwer getroffen. Trotz massiver externer Blutungen schafft er es, seine Frau aus der Gefahrenzone zu bringen. Kurz darauf kollabiert er, aber israelische Chirurgen können sein Leben retten. Die Schützen werden mutmaßlich dem Islamischen Jihad in Palästina zugeordnet. Die folgenden Monate sind immer wieder von blutigen Anschlägen auf Zivilisten geprägt, darunter viele Frauen und Kinder. Sie alle aufzuzählen, wäre vermutlich unmöglich.

Bei einem Anschlag bin ich deutlicher näher dran, als mir persönlich Recht gewesen war. Es ist ein ruhiger Frühlingsabend in Tel Aviv, während ich mich in einer kleinen Bar mit einem Organisator der Proteste gegen Justizreformen treffe. Plötzlich, nur wenige hundert Meter entfernt, brechen Schüsse aus. Mehrere Menschen werden verwundet, und ein Passant erschießt den Attentäter. Nach dem kurzen Schreck, und der Feststellung, dass unsere Erste Hilfe nicht benötigt wird, kehren wir zurück zu unserem Bier. Auch so ist Leben in Israel.

Die besagten Proteste gegen die Justizreformen beginnen am 7. Januar 2023. Aus anfänglich nicht mal 350 Demonstranten werden am 14. Januar schon etwa 80 000 Demonstranten, ein massives Wachstum für eine Bewegung, die schon Monate späte große Teile des öffentlichen Lebens lahmlegen würden. Massives Wachstum für eine Bewegung, die innerhalb weniger Wochen ein gesamtes Land polarisiert.

Nicht nur an den Küchentischen und in den Kneipen der Nation, sondern auch in den Rängen des Staates kommt es zu immer mehr Polarisierung, öffentlichen Konflikten und massiven Schlammschlachten – In einer Knessetsitzung eskaliert die Situation, als Politiker in eine Schlägerei geraten, die nur durch Sicherheitsleute beruhigt werden kann. Das Video von einem Politiker, der auf den Podiumstisch springt und sich mit obszönen Beleidigungen äußert, verbreitet sich nicht nur in Israel viral. Die Protestbewegung gewinnt im ganzen Land an Fahrt, sogar im vergleichsweise gemäßigten Jerusalem.

Am 23. März gehen im gesamten Land mehr als 20 % der Bürger gegen die Justizreform auf die Straße. In Tel Aviv nimmt die Bewegung beinahe revolutionäre Züge an. Auf der wichtigsten Autobahn der Stadt werden Marshmallows über brennenden Barrikaden gegrillt, während die Polizei ohne einzugreifen zuschaut. Vieler Orts ziehen sich zurück, zeigen kaum Präsenz auf den Straßen. Hunderttausende Menschen in den Straßen von Tel Aviv singen jubelnd die Nationalhymne, schwingen die Flagge ihres Landes, das ihre Väter und Großväter einst aufgebaut haben und dessen „Abwendung von der Demokratie“ sie nicht akzeptieren wollen.

Am folgenden Tag tritt Verteidigungsminister Gallant vor die Presse. Seine Rede, die von vielen zuvor als Routine eingestuft wurde, entwickelt sich zum Dreh- und Angelpunkt für die Justizreform. Gallant äußert sein Unbehagen über die vorgeschlagenen Änderungen und betont die entscheidende Bedeutung, die Unabhängigkeit der Justiz für die Sicherheit Israels und das fragile Gleichgewicht der Kräfte im demokratischen System Israels zu bewahren.
Damit hebt er die Gefahr hervor, die von der aktuellen Spaltung der israelischen Gesellschaft ausgeht, und warnt: „Die Spaltung der israelischen Gesellschaft kann unseren Feinden eine hervorragende Gelegenheit bieten.“ Eine Warnung, deren bittere Realität das Land im Oktober erreichen wird. Die Implikation seiner Worte ist klar: Gallant setzt sich für einen Stopp der Justizreform ein. Die Reaktion von Premierminister Netanyahu folgt quasi sofort – noch in derselben Nacht kündigt er die Entlassung des Verteidigungsministers an.
Die Wirkung dieser Rede und der darauf folgenden Entlassung verbreitete sich rasend schnell im gesamten Land. Noch am selben Tag kommt es in den Städten zu massiven Demonstrationen, im ganzen Land protestieren über eine Million Menschen – eine eindrucksvolle Mobilisierung in einem Land mit rund 9 Millionen Einwohnern. Der israelische Konsul in New York tritt – ausgerechnet mit einem simplen Tweet „Fuck this, I quit“ – zurück, in mehreren Städten Israels treten Bürgermeister in den Hungerstreik.
Als die größte Gewerkschaft des Landes, die Histadrut, zu einem unbefristeten Generalstreik aufruft, blockieren hunderttausende von Demonstranten Straßen in ganz Israel, und verschiedene Sektoren, darunter Universitäten, Einkaufszentren, Gewerkschaften und Großunternehmen, schließen sich dem Generalstreik an. Jeglicher Flugverkehr nach Israel wurde eingestellt, in den größten Häfen legten die Arbeiter die Arbeit nieder, selbst die Börse schloss vorzeitig. In den Medien sprach man von einem neuen arabischen Frühling – und dieses Gefühl lag auch auf der Straße.

Angesichts der scheinbar ausweglosen Situation appellierte Israels Staatspräsident Isaac Herzog am 27. März an den Premierminister, das Gesetzgebungsverfahren einzufrieren. Dieser folgte dem Aufruf in einer Fernsehansprache, betonte jedoch, die Justizreform zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Die Bürgermeister der Tel Aviver Distrikte beendeten ihren Hungerstreik, die Gewerkschaft ging zurück an die Arbeit, und die Universitäten führten die Lehre fort. Der Generalstreik, der nicht mal 24 Stunden angedauert hat, hatte Erfolg gehabt. Seit dem ist es ruhig um die Justizreform geworden – selbst Mitglieder in Netanyahus Regierung bezeichnen die Justizreform als „tot“. Wären das Massaker und die Folgen des 07.10 nie geschehen, wäre die Justizreform meine persönliche „Top Story“ des Jahres gewesen.

In einem eiligen Schritt wird sogar der Verteidigungsminister wenige Wochen später wieder ins Amt berufen, als es zu schweren Raketenangriffen aus dem Libanon kommt. Wir schreiben den 6. April, den Tag vor Pessach. Pessach gilt traditionell als das Fest, wo jüdische Familien überall auf der Welt zusammenkommen, um den Auszug des israelischen Volks aus Ägypten zu feiern – so kommen auch im Norden Israels die Leute zusammen, um von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang dem „Exodus“ zu gedenken.

Obwohl es im Süden des Landes immer wieder zu Raketenangriffen gekommen war, war im Norden Israels – so war die grundsätzliche Meinung – alles sicher. Und dann fielen die Raketen.
Palästinensische Milizen feuerten aus dem Südlibanon mehr als 30 Raketen auf Nordisrael.
Dies markiert den bislang schwersten Raketenangriff aus dem Libanon auf Israel seit dem Libanonkrieg 2006, in dem Israel gegen die libanesische Hisbollah-Miliz kämpfte. Die israelische Luftwaffe reagierte auf die Angriffe sehr verhalten, auch um die Hisbollahmilizen im Südlibanon nicht zu reizen. Eins ihrer Ziele – eine Schafherde.


Mitten in diesen angespannten Zeiten begleite ich die israelische Armee bei intensiven Übungen im Norden des Landes. Die Simulation sieht vor, dass Milizen versuchen, die nördliche Grenze zu infiltrieren, begleitet von verheerenden Raketenangriffen, die die israelische Luftverteidigung überrumpeln. Massive Schäden wären die Folge dieses – damals noch theoretischen – Falles. Die angespannte Lage in der Region spitzt sich weiter zu, insbesondere nach vorherigen Raketenangriffen.

Mein Jahr im Nahen Osten findet seinen Abschluss mit einer Wanderung entlang der Küsten Israels. Von den majestätischen Klippen in Rosh Ha’Nikrah an der Grenze zum Libanon bis zu den sonnenverwöhnten Stränden im Süden, die an den Gazastreifen angrenzen, beende ich mein Jahr im Nahen Osten. Vorerst.

Kurz nach Ende meines Aufenthaltes im Nahen Osten reise ich also für Berlin Story News in die Ukraine, um dort zu recherchieren. Ich reise also durch Kyiv – dessen Lebhaftigkeit und Vielfalt nur sporadisch durch die Luftangriffe unterbrochen wird – nutze die tiefste U-Bahn der Welt, gebaut, um einen Atomkrieg zu überleben. Mit den Stationen 105 Meter unter der Erde – bis heute Weltrekord – wäre dies sicherlich möglich gewesen.

Nach bedrohlichen Mengen Kirschenschnapps mit einem deutschen Freiwilligen, der in der Ukraine Minen räumt, geht meine Reise also weiter, bis nach Kharkiv, kurz vor der russisch-ukrainische Grenze. Die Tatsache, dass diese Großstadt, nur 30 Kilometer von Russland entfernt, unter ukrainischer Kontrolle ist, verdeutlicht den Misserfolg der russischen Invasion. Hier zeugen die Vororte von den Spuren des Krieges – bis wohin die russischen Panzer vorgedrungen sind, bevor die ukrainische Armee sie aufhalten konnte. Die weltweit bekannten Fotos von Ukrainern in Kyiv und Kharkiv, die Molotowcocktails bauten, um den russischen Soldaten entgegenzutreten, gingen im Jahr 2022 um die Welt. Auch hier begegnen mir Geschichten von Hoffnung – Menschen, die trotz aller Widrigkeiten überlebt haben, aber auch Geschichten von Leid – Menschen, die alles und jeden verloren haben. In einem Vorort von Kharkiv kommen wir unter Beschuss – BM-21 Grad, ein Raketensystem aus sowjetischer Produktion. Der Name „Grad”, was so viel wie Hagel heißt, verrät schon den Mangel an Präzision des Systems.

Die russische Armee nutzt Grad nicht, um präzise Ziele anzugreifen; der einzige Zweck besteht darin, Terror zu verbreiten, begleitet von dem schrillen Kreischen der Raketen. So befinden wir uns also in einem „Stahlgewitter“ wieder, ein Begriff, den ich aus Ernst Jüngers Buch über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg entlehne. Und genau in diesem „Stahlgewitter“ verharren die Menschen in der Ukraine bis heute. Während ich diese Zeilen schreibe, töten schwere russische Luftangriffe mehr als 10 Menschen im ganzen Land.

Am frühen Morgen des 07.10 werde ich von einem Bekannten aus der israelischen Armee angerufen. Im Hintergrund sind die Sirenen des Luftalarms zu hören. Er sagt nur einen einzigen Satz: „Wir sind im Krieg, wir sind im Krieg“. Danach legt er auf. Die Lage am Morgen ist wie aus einem Albtraum. Tausende Raketen wurden auf ganz Israel abgefeuert, die Grenze im Süden wurde überrannt, es gibt Berichte von Feuergefechten an der Grenze zum Libanon. Ein Überraschungsangriff der Hamas hat das ganze Land wie aus dem Nichts getroffen. Die Milizen der Hamas haben mehr als 1200 Zivilisten im Süden Israels auf barbarische Weise gefoltert, vergewaltigt und massakriert. Diese Bilder haben sich in die Augen jedes Medienschaffenden eingebrannt. Nicht nur die Brutalität, sondern auch die extreme Überraschung des Angriffs haben wohl jeden im Land schockiert. Durch verdeckte Vermittlungen mit Katar war eigentlich auch ein Abkommen mit der Hamas nicht mehr undenkbar – der letzte Funke der Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung.
Durch die Gefechte zwischen der israelischen Armee und der Hamas sind drei Monate später mehr als 20.000 Menschen im Gazastreifen gestorben, und die humanitäre Situation ist katastrophal. Längst sind nicht alle Geiseln getauscht. Die Feuerpause mit der Hamas kollabierte nach wenigen Tagen, weil sich die Hamas wehrte, die verbliebenen Geiseln zu tauschen. Stattdessen eröffneten sie erneut das Feuer mit Raketen. Die Situation erscheint für beide Seiten aussichtslos. Das Hauptziel der israelischen Armee ist die Befreiung aller Geiseln und die vollständige Zerstörung der Hamas. Das Hauptziel der Hamas, wie es in ihrer Charta festgehalten ist, ist der Tod aller Juden und die Zerstörung Israels. Der Krieg wird daher weitergehen. Die Chancen auf Frieden sind gering, da mehr als 80 % der Bevölkerung im Gazastreifen das Massaker am 07.10. unterstützen, wie Studien zeigen. In Israel nimmt das Vertrauen in Netanyahu weiter ab, und immer mehr Menschen würden mittlerweile den Verteidigungsminister Gallant als Premierminister bevorzugen.
Insbesondere Gallants Warnungen über die Spaltung des Landes klingen in diesen Tagen bitter. Netanyahus Mangel an Vertrauen in die Geheimdienste sorgte dafür, dass wichtige Warnungen ignoriert und Indikatoren übersehen wurden. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, wie lange die Bürger Israels Netanyahu noch ihr Vertrauen geben, und wann erneute Neuwahlen nötig sein werden. Es wäre das sechste Mal in drei Jahren.

Gen Ende des Jahres reise ich das letzte Mal für dieses lange Jahr in den Nahen Osten. Diesmal führt mich meine Reise nach Jordanien. In 10 Tagen durchreise ich das Land, unterhalte mich mit alten und neuen Bekannten, spreche über die Lage im Nahen Osten, den Krieg, Wirtschaft und Diplomatie. Der dazugehörige Artikel wird Anfang des nächsten Monats erscheinen. Proteste, Krieg und wenig Hoffnung für Frieden im Nahen Osten – das ist mein bitteres Fazit des Jahres 2023.

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