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Jemen – Zahlen ohne Gesichter – 8 Jahre Bürgerkrieg.

In seinem Artikel„Zahlen ohne Gesichter“ (im Englischen „The untold casualties of war“) schreibt Malte Lauterbach über Schicksale im Bürgerkrieg im Jemen. Der Artikel wurde im Original 2020 auf Englisch veröffentlicht und wurde 2022 im Rahmen des Jahrestages des Beginns des Bürgerkriegs übersetzt und grundlegend überarbeitet.

Wenn Journalisten über Kriege und Konflikte berichten, sprechen wir oft in Zahlen – So und so viele Menschen starben, so und so viele wurden verletzt, und so weiter. Das führt dazu, dass der Leser – ob beabsichtigt oder nicht – nur Statistiken und keine Gesichter sieht. Aber diese Zahl, diese Statistik bedeutet einen Menschen, ein Leben, einen Freund, einen Feind, eine Seele, einen ein zukünftiger Partner, ein Erfinder, zu verlieren.

Ich frage mich, über wie viele Leben wir berichten können, bevor wir in den Zahlen ertrinken?

Im Rahmen des arabischen Frühlings kam es auch im Jemen 2011 zu Massenprotesten, die in einer Revolution kulminierten. Dort koordinierten die Houthis mit anderen Widerstandsgruppen und organisierten Proteste. Sie repräsentierten – mit Ausnahme ihres Mottos – zu diesem Zeitpunkt eher einer politischen Partei, als der Terrorgruppe, zu der sie später werden würden. So engagierten sie sich in Konferenzen über Jemens Zukunft.

Die Houthi-Bewegung (arabisch: ٱلْحُوثِيُّون) ist eine islamistische Terrorgruppe, die 2003 das erste Mal in den Fokus der Weltöffentlichkeit trat, als sie ihren Slogan zu „Gott ist groß, Tod den USA, Tod Israel, Fluch den Juden und Sieg dem Islam“ änderten.

Ende 2014 nahmen die Houthis jedoch ihre diplomatischen Beziehungen zum ehemaligen Präsidenten Saleh wieder auf, der nach der Revolution 2011 sein Amt verloren hatte und übernahmen binnen kurzer Zeit mit koordinierten militärischen und politischen Aktionen die Kontrolle über die Hauptstadt und große Teile des Nordens Jemens.

Die Houthis haben die Kontrolle über den größten Teil des nördlichen Teils des jemenitischen Hoheitsgebiets erlangt und kämpfen seit 2015 gegen die von Saudi-Arabien geführte Intervention im Jemen, die versucht, die 2014 gestürzte Regierung in Jemens Hauptstadt, Saana wiederherzustellen. Ihre wichtigsten Verbündeten sind Syrien, Russland, die Republik Iran und Nordkorea. Seit 2015 führen die Houthi-Rebellen gehäuft Angriffe auf die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien durch, die von Analysten weltweit als Proxyangriffe durch den Iran interpretiert werden. Iranische Suiziddrohnen (wie die von Russland eingesetzte Schahed-136) sahen im Bürgerkrieg im Jemen ihre ersten Einsätze, insbesondere auch gegen zivile Ziele.

Eine iranische Drohne, aufgenommen durch das Zielsystem eines F-16 Kampfjets.


Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges 2014 starben im Jemen Hunderttausende von Menschen. Hunderttausende von Träumen, Leben, Erinnerungen und Ideen gingen verloren.
Ausgehend von der Statistik, dass seit 2014 um die 500.000 Zivilisten gestorben sind, bedeutet dies, dass jeden Tag im Durchschnitt etwa 171 Menschen sterben – 7 pro Stunde, quasi ein Mensch jede 8 Minuten. Nicht jeder stirbt durch direkte Kriegshandlungen, seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs wird das Land von schweren Hungersnöten und Krankheitsausbrüchen wie Cholera geplagt – Jemen gilt als eins der ärmsten Länder der Welt, die Lebenserwartung liegt bei durchschnittlich 66 Jahren. In vielen Teilen des Landes ist die Versorgung mit sauberen Wasser zusammen gebrochen, auch Strom ist nur sporadisch.

All diese Statistiken bilden ein Bild der schlimmsten Katastrophe des 21. Jahrhunderts, die sich nicht wiederholen darf, die überhaupt gar nicht erst entstehen hätte dürfen.
Mehr als 4 Millionen Jemeniten wurden bis jetzt vertrieben, Familien entzweit.

2020 hatte ich die Ehre, mit dem jemenitischen Mann Aaron zu reden – sein Name bedeutet so viel wie Berg der Stärke. Er selbst sprach nicht viel. Stattdessen ließ er mich reden. Wer ich war, woher ich kam. Er sprach nicht darüber, was er gesehen hatte, woher er die Brandwunden hatte. Ich wusste es. Und er wusste es. Alle zusammen wussten wir, was passiert war, aber nicht, warum es passiert war. Warum die Houthi-Rebellen sein Haus, seine Frau, seine Tochter, die Erinnerungen, die Träume ausradiert hatten. Sein Kind war nicht mal acht Jahre alt geworden.

Was mich am meisten an diesem Mann beeindruckte, der jahrelang für sein Land gekämpft hatte, war, dass er seine Hoffnung und Glauben nicht verloren hatte. Selbst in den dunkelsten Zeiten hatte er in Liebe und die Bedeutung von Liebe, in Familie und in Menschlichkeit selbst vertraut. E

Ich frage mich, wie viele Menschen jemand auslöschen kann, bevor die Zahlen ihn zerstören.

Aus Aarons Geschichte lernte ich viel über menschliches Verhalten. Hoffnung ist ein mächtiges Werkzeug, um Kraft zu haben, um zu überleben, um zu leben. Und um zu kämpfen. Auch wenn es keinen Grund mehr zum Kämpfen gibt. Obwohl von Hana, seiner Tochter, deren Name so viel wie Glück bedeutet, nichts übrig blieb als Erinnerungen und die wenigen Bilder, die nicht verbrannt sind, kämpfte er weiter. Aber im Kontext der Ereignisse dieses Krieges ist Hana nur eine Nummer.
Ein Tod, der für die meisten unsichtbar geblieben war. Bis 2020 kannte hier, in einem Europa ohne blutigen Bürgerkrieg, ohne Cholera, ohne Hungersnot keiner die Geschichte von Aarons Familie. Sie steht stellvertretend für tausende weitere Geschichten, die darauf warten, erzählt zu werden. Sie steht stellvertretend als Mahnung an eine Welt, die ihre Augen vor den Ereignissen abgewendet hat. Stellvertretend für die, deren Geschichten wir nicht erzählen können, weil sie verloren sind, in Kriegen, die sie nicht verstehen.

Es ist als Mensch unsere Pflicht, den Zahlen ein Gesicht geben. Wir müssen den Toten Leben einhauchen, den verlorenen Erinnerungen schenken, den Lebenden beim Trauern helfen.
Wir müssen die Geschichten von Hana und Abia und anderen Jemeniten erzählen, deren Namen und Geschichten, die man nie in den Geschichtsbüchern lesen wird, die Geschichten von Jemeniten, die nie vergessen werden, wen sie verloren haben.
Erinnern an diejenigen, die es nicht geschafft haben, die Geschichten von dem Widerstandskämpfer Abu Khamis erzählen, der darum bat, neben seiner Familie begraben zu werden, damit sie immer getröstet werden.
Jeder, dem schonmal Leid begegnet ist, wird später erneut damit konfrontiert.
Da wir Menschen sind, sind wir gezwungen, uns zu erinnern, was geschah, was verloren wurde, was übrig ist. Und wir sind gezwungen, uns an die Namen und Gesichter derer zu erinnern, die gestorben sind. Wir sind gezwungen, uns an die Namen und Gesichter derer zu erinnern, die überlebt haben. Diese Erinnerung dient als Mahnung an uns – als Aufschrei unseres Gehirns. Es erinnert uns an die Pflicht, vor dem zu warnen, was geschieht. Und deswegen bin ich dankbar dafür, dass sie diesen Artikel gelesen haben. Sie kennen jetzt die Geschichte von Aaron und Hana – oder zumindest ihre Namen. Sie sind nicht verloren gegangen. Danke.

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