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„Divided we fall“: Proteste in Israel, Streiks und der Schatten des Konflikts

Malte Ian Lauterbach berichtet über die Justizreformen in Israel, die das Land spalten und das Gefüge der israelischen Gesellschaft bis an seine Grenzen belasten, während die Demokratie auf dem Spiel steht. Die anhaltenden Proteste haben auch einen Generalstreik ausgelöst, an dem sich verschiedene Bereiche des Landes beteiligen, um die Demonstranten zu unterstützen. Universitäten, Verkehrsbetriebe, das Flughafenpersonal in Tel Aviv und die größte Gewerkschaft des Landes, die Histadrut, haben die Arbeit niedergelegt und damit das öffentliche Leben in Israel zum Erliegen gebracht.

Während Barrikaden und Rauchtöpfe brennen, richtet sich das israelische Volk gegen die Regierung.

In den letzten Wochen und Monaten haben die Proteste gegen die geplanten Justizreformen in Israel die Medienlandschaft des Landes beherrscht. Für BSN berichtete ich mehrmals über diese Reformen. In einem Land, das sich seit jeher gegen die herkömmliche politische Spaltung in links und rechts wehrt, haben diese Proteste vor allem eine weitere Spaltung der Gesellschaft bewirkt. Die weitreichenden Folgen dieser Spaltung werfen einen Schatten auf alles, der weit über das eigentliche Thema hinausgeht.

Die Kluft, die durch diese Proteste entstanden ist, ist in jedem Winkel Israels spürbar: Familien, Freunde und Kollegen stehen auf entgegengesetzten Seiten des Streits. Eine zunehmende Polarisierung der Nation hat zur Folge, dass sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Justizreformen sich weigern, Kompromisse einzugehen. Während das Land mit dieser wachsenden Kluft zu kämpfen hat, wird das Gefüge der israelischen Gesellschaft bis an seine Grenzen belastet.

Malte Ian Lauterbach.

Die Justiz ist als drittes Staatsorgan eine tragende Säule jeder demokratischen Gesellschaft. Die anhaltende Debatte über die vorgeschlagenen Justizreformen hat wichtige Fragen über das Wesen der Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und das Machtgleichgewicht in Israel aufgeworfen.

Während die Proteste weiter eskalieren, ist eines klar: Der Kampf um die Zukunft des israelischen Justizwesens ist zu einem entscheidenden Moment in der Geschichte des Landes geworden. Der Ausgang dieses Kampfes wird zweifellos die politische Landschaft des Landes in den kommenden Jahren prägen. Die jüngsten Veränderungen lassen sich in der Tat auf zwei zentrale Ereignisse zurückführen: die Massendemonstrationen in Tel Aviv am Samstag und die Rede des ehemaligen Verteidigungsministers Yoav Gallant.

Demonstrationen in Tel Aviv.

Am Samstag gingen Zehntausende von Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten in Tel Aviv auf die Straße, um gegen die geplanten Justizreformen zu protestieren. Die Demonstration, die eine der größten der letzten Zeit war, machte deutlich, wie stark die öffentliche Meinung gegen die Änderungen ist. Die Demonstranten, die in ihrer Sache geeint waren, sandten eine deutliche Botschaft an die Regierung, dass sie nicht tatenlos zusehen würden, wenn die demokratischen Institutionen ihres Landes bedroht würden.

Am Samstagabend sprach ich mit einigen Demonstranten in Tel Aviv, die erklärten, sie hätten die Nase voll von dem Versuch der Regierung, das israelische Justizsystem zu untergraben. Sie äußerten die Befürchtung, dass die vorgeschlagenen Reformen den Weg für eine politische Einmischung in das Justizwesen ebnen und die Rechtsstaatlichkeit untergraben würden. Viele von ihnen warfen Ministerpräsident Netanjahu auch vor, durch die Schwächung der Justiz versuchen zu wollen, sich an die Macht zu klammern und einer Strafverfolgung wegen Korruption zu entgehen.

Ein Demonstrant, ein 27-jähriger Software-Ingenieur, sagte zu mir: „Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem Politiker das Gerichtssystem zu ihrem Vorteil beeinflussen können. Das ist ein Abrutschen in den Autoritarismus, und das werde ich nicht hinnehmen.“

Eine andere Demonstrantin, eine 42-jährige Lehrerin, sagte: „Ich habe genug von Korruption und Politikern, die ihre eigenen Interessen über die des Volkes stellen. Es ist Zeit für einen Wandel, und wir werden nicht aufhören, bis wir ihn erreicht haben.“ Ebenfalls spricht sie sich gegen die Polarisierung der Gesellschaft aus. „Solange wir geteilt sind, werden wir unsere Demokratie nicht verteidigen können. Getrennt fallen wir, und das werden wir nicht zulassen.“

Während die Proteste in Israel weiter eskalieren, fragen sich einige, ob die Forderung nach dem Rücktritt von Premierminister Netanjahu inzwischen wichtiger ist als die Frage der Justizreformen. Das Land steht am Rande einer Bruchstelle, und es ist ungewiss, in welche Richtung es kippen wird. Während eines besonders emotionalen Moments am Samstag sangen über 220.000 Menschen die Hatikvah, die israelische Nationalhymne. Manche sehen in den Ereignissen in Israel Ähnlichkeiten mit dem Beginn des Arabischen Frühlings und dem Ausbruch der Proteste in Ägypten.

Die schiere Anzahl der Menschen, die alle an einem Ort versammelt waren, vereint in ihrem Protest gegen die Justizreformen der Regierung, war überwältigend. Die Menge sang die Hymne mit einer solchen Leidenschaft und Überzeugung, dass es schwer war, nicht bewegt zu sein. Es war klar, dass sie nicht nur den Text sangen, sondern auch ihre Hoffnung und ihre Entschlossenheit zum Ausdruck brachten, für die Zukunft ihres Landes zu kämpfen.

In diesem Moment war es, als wären die Demonstranten zu einer Stimme geworden, die sich gegen die Ungerechtigkeiten aussprach, die sie in ihrer Regierung sahen. Es war ein Moment der Einigkeit in einem Land, das schon viel zu lange gespalten ist. Es war ein Moment der Hoffnung, dass ein Wandel möglich ist, dass die Menschen etwas bewirken können.

Aber es war auch ein Moment der Unsicherheit. Niemand wusste, was die Zukunft bringen würde. Die Proteste hatten ihr ursprüngliches Ziel, sich gegen die Justizreformen zu wehren, bereits überschritten und forderten nun den Rücktritt des Premierministers selbst. Das Land befand sich am Rande einer politischen und sozialen Krise, und niemand wusste, wohin sie führen würde.

Im Nachhinein betrachtet könnte dieser emotionale Moment des Singens der Nationalhymne ein Wendepunkt der Proteste gewesen sein. Es könnte der Moment gewesen sein, in dem die Forderung nach dem Rücktritt Netanjahus wichtiger wurde als die konkrete Frage der Justizreformen. Es war ein Moment, an den zumindest ich mich noch lange erinnern werde, unabhängig vom Ausgang der Proteste.

Nur wenige Ereignisse der jüngeren Geschichte werden sich so stark auf die Zukunft Israels auswirken wie dieses erste Ereignis. Der zweite Faktor ist von Natur aus politisch und steht in direktem Zusammenhang mit dem ersten Ereignis.

In der Zwischenzeit, am späten Samstagabend hielt der Verteidigungsminister Yoav Gallant, eine Schlüsselfigur in der Regierung, überraschend eine Rede, in der er seine Bedenken gegen die Reformen äußerte. Gallant äußerte sein Unbehagen über die vorgeschlagenen Änderungen und betonte, wie wichtig es für die Sicherheit Israels sei, die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren und das empfindliche Gleichgewicht der Kräfte im demokratischen System Israels zu erhalten.

Ebenfalls betonte er die potenzielle Gefahr, die von der derzeitigen Spaltung der israelischen Gesellschaft ausgeht, und erklärte: „Die Spaltung der israelischen Gesellschaft kann unseren Feinden eine hervorragende Gelegenheit bieten.“ Gallant wies auch auf die wachsende Bedrohung durch den Iran hin, der versucht, die Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern zu untergraben.

Als Netanyahu am Sonntagmorgen unter den Augen der Öffentlichkeit den Verteidigungsminister Gallant feuerte, fachte dies Proteste nur noch mehr an. Bis Sonntagabend schwoll die Zahl der Demonstranten in ganz Israel auf über 700.000.

Mehrere Sektoren des Landes wurden zum Stillstand gebracht, da Universitäten, Verkehrsbetriebe, das Flughafenpersonal in Tel Aviv und die größte Gewerkschaft des Landes, die Histadrut, die Arbeit niederlegten, um sich den Protesten anzuschließen. Durch diesen Streik kommt das öffentliche Leben in Israel langsam zu erliegen, seit heute Mittag können Flugzeuge weder starten noch landen.

Die Unruhen beschränken sich nicht nur auf die Straße, sondern sind auch auf die politische Bühne übergeschwappt. Innerhalb der Parteien braut sich nun eine offene Revolte zusammen. Die Bürgermeister mehrerer Städte sind in den Hungerstreik getreten, um gegen die Justizreformen zu protestieren. Netanyahus Koalition erlebt derzeit einen ihrer politisch schwächsten Momente, da die strittige Frage der Justizreformen einen Keil zwischen die Koalitionspartner getrieben hat. Vertreter der Parteien innerhalb der Koalition sind jetzt in einen erbitterten öffentlichen Schlagabtausch verwickelt, bei dem Schlammschlachten und Anschuldigungen zwischen ihnen fliegen. Während Teile der Likud sich den Forderungen anschließen, die Justizreformen zu pausieren und neu zu verhandeln, drohen andere damit, aus der Koalition auszutreten, falls die Justizreformen aufgehalten werden.

Die zunehmend feindselige Atmosphäre innerhalb der Koalition hat die bereits instabile politische Lage weiter destabilisiert. Da die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit mit den vorgeschlagenen Reformen weiter zunimmt, wird die Einheit der Koalition auf eine harte Probe gestellt. Diese internen Streitigkeiten könnten die Effektivität der Regierung nicht nur bei der Bewältigung der Justizreformen, sondern auch bei anderen dringenden Problemen des Landes schwächen.

Für Netanjahu wird es eine Herausforderung sein, sich in dieser heiklen politischen Landschaft zurechtzufinden. Er muss einen Weg finden, die konkurrierenden Interessen seiner Koalitionspartner unter einen Hut zu bringen und gleichzeitig auf die Sorgen der israelischen Öffentlichkeit und seiner eigenen Wähler einzugehen. Sollte er dazu nicht in der Lage sein, könnte die Koalition weiter zerbrechen, was zu noch größerer politischer Instabilität führen und die Zukunft seiner Regierung gefährden könnte. Seine Fähigkeit, Gesetze zu verabschieden und seine politische Macht zu erhalten, wird zunehmend infrage gestellt.

Doch die Proteste und der offene Widerstand sind nicht auf die Grenzen Israels beschränkt. Botschaften in aller Welt werden bestreikt, und sogar der israelische Generalkonsul in New York, Asaf Zamir, kündigte seinen Rücktritt an. Die Zukunft der israelischen Demokratie und Stabilität steht auf dem Spiel. Der ehemalige stellvertretende Stabschef, Yair Golan, forderte auf Twitter gestern Abend alle Botschaften und Vertreter Israels auf, sofort zurückzutreten und nicht einer „illegitimen“ Regierung zu dienen.

Inmitten all dieser Nachrichten, die sich quasi minütlich überschlagen, sind die Reformen selbst zu einem Test für den Zustand der israelischen Demokratie und Stabilität geworden, und der Ausgang dieser wird weitreichende Auswirkungen auf die Zukunft des Landes haben.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, wie die nächsten Schritte für die Regierung Netanjahu und ihre Gegner aussehen werden. Da die Koalition selbst in dieser Frage gespalten ist, bleibt abzuwarten, ob die Regierung die Reformen weiter vorantreiben wird oder ob sie angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks gezwungen sein wird, einen Rückzieher zu machen. Eines ist jedoch klar: Die derzeitige Krise hat Israel an einen kritischen Punkt gebracht, und die in den kommenden Tagen und Wochen getroffenen Entscheidungen werden das Schicksal des Landes für die nächsten Jahre bestimmen.

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