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Israel – Die Lage der Nation: Sieben lange Monate

Israelische Kampfhelikopter patrouillieren im Sonnenuntergang über dem Gazastreifen.


Malte Ian Lauterbach berichtet über die Lage in Israel und dem Nahen Osten, die Ereignisse der letzten Wochen über die humanitäre Krise in Gaza, die Proteste gegen Netanyahu und erneute israelische Luftangriffe auf Damaskus.

Fast sieben Monate sind vergangen, seitdem die Hamas am 7. Oktober den Süden Israels überrannte, beispiellos mordete, plünderte, unaussprechliche Gewaltverbrechen begang, hunderte Geiseln gefangen nahm. Mehr als 1300 Menschen kamen ums Leben – zweifellos einer der dunkelsten Tage für Israel seit Jahrzehnten. Die Ereignisse des siebten Oktobers schockten Israel und die ganze Welt – nicht nur aufgrund der brutalen Gewaltverbrechen, sondern auch wegen der vollkommenen Überraschung, mit der die Angriffe stattfanden. Das ist der tatsächliche Einfluss des Terrors – die Unberechenbarkeit, die Spontanität, der danach eintretende Vertrauensverluste in die eigene Sicherheit.


Mit Bulldozern, Hanggleitern, Tauchern und den für Milizen quasi obligatorischen Hilux-Pickups übertraten mehr als tausend Kämpfer die Grenze nach Israel. Zwischen ihnen und den israelischen Großstädten standen etwa ein halbes Dutzend Soldaten – durch lange Monate des trügerischen Friedens waren viele zum Schutz der israelischen Siedler in die West-Bank abgezogen worden.

Mehr als 300 Soldaten, Polizisten und private Sicherheitsleute starben in den frühen Morgenstunden in verzweifelten Kämpfen. Wie vielen sie das Leben retteten, wird vermutlich nie ganz klar sein. In Sderot übernahm die Hamas gar eine Polizeistation und tötete alle sich darin aufhaltenden Rekruten. Nach schweren Kämpfen lag diese 18 Stunden später komplett in Schutt und Asche. Ein Bewohner Sderots berichtete Berlin Story News: „Wie im Film – hier steht kein Stein mehr auf dem anderen!“ . Am Morgen danach erlebte Israel eine globale Welle an Solidarität; das Brandenburger Tor wurde blau-weiß angestrahlt, Tausende trafen sich auch in Deutschland für Mahnwachen. Nach sieben Monaten ist wenig von dieser ursprünglichen Solidarität übrig geblieben. Sieben Monate der nur kurz unterbrochenen Kämpfe haben große Teile Gazas unbewohnbar gemacht. Sieben lange Monate.

Mehr als 33.000 Menschen sind bisher gestorben, berichtet das Gesundheitsministerium in Gaza, was durch die Hamas kontrolliert wird – diese Aussagen sind also nicht unabhängig zu bestätigen, überlappen aber mit Beobachtungen internationaler Experten und eigenen Analysen durch Berlin Story News. Israels Militär hat laut eigenen Angaben mehr als 12.000 islamistische Kämpfer getötet (auch diese Zahlen können nicht verifiziert werden).
Der Bevölkerung Gazas, die bereits vor dem Krieg hauptsächlich durch Importe versorgt wurde, droht die Unterernährung durch eine weitverbreitete Hungersnot. Kleinen Kindern fehlt wichtige Nahrung – in vielen Fällen droht der Hungertod.

Zwar gelangen pro Tag hunderte LKW in den Gazastreifen, jedoch sind die Lieferungen immer gefährlich, immer wieder kommt es zu tödlichen Auseinandersetzungen. So gerieten Zivilisten Anfang des Jahres ins Kreuzfeuer zwischen islamistischen Kämpfern und der israelischen Armee. Im Feuergefecht und der resultierenden Panik starben mehr als hundert Menschen.

Drohnenaufnahmen des Desasters. Quelle: IDF Spokesperson, shared in accordance to Copyright clause.
Drohnenaufnahmen des Desasters. Quelle: IDF Spokesperson, shared in accordance to Copyright clause.


Immer wieder werden auch ägyptische Konvois angegriffen – erst vor kurzen starb ein ägyptischer LKW-Fahrer durch gezielte Steinwürfe. Israel wird vorgeworfen, die LKWs an der Grenze künstlich aufzuhalten – die komplexen Sicherheitschecks, die immer wieder geschmuggelte Güter entdecken, brauchen teilweise Stunden. Es ist ein Dilemma – denn so kommen die Waffen ins Land, mit denen Israel später angegriffen wird. Im November veröffentlichte der Palästinensische Jihad Videos, die Raketen zeigten, die aus Wasserrohren aus EU-Geldern gebaut worden waren. Es war vermutlich eine dieser Raketen, die im Oktober in eins der Krankenhäuser in Gaza einschlug und Hunderte Menschen tötete und verletzte.


Aber diese Hilfsgüter, basierend auf scheinbar willkürlichen Regeln abzulehnen, gefährdet Israel mehr, als es ein paar improvisierte Raketen und geschmuggelte Batterien jemals könnten. Vor kurzem berichtete mir der brasilianische Botschafter über die Versuche, Solar-betriebene Desalinierungsanlagen in den Gazastreifen zu liefern. Insbesondere Wasser ist durch die anhaltenden Monate des Krieges knappes Gut – sauberes Wasser ist eine Rarität, immer wieder bricht in den überfüllten Flüchtlingslagern Cholera aus. Seit 3 Monaten stehen die Anlagen jetzt im israelisch-ägyptischen Grenzgebiet, warten auf Dokumente und Freigaben.
Verschiedene Behörden verschieben die Zuständigkeit zwischen einander hin und her.
„We had no formal explanation, but there is no authorization for anything but food and medicines to get inside Gaza.” Erläutert der Botschafter.

Insbesondere, weil der Internationale Gerichtshof von Israel verlangt, die Lieferungen von Hilfsgütern ungehindert fließen zu lassen ist die Zeit gekommen, die „bittere Pille“ zu schlucken, und die elaborierten Sicherheitskontrollen zu schwächen, heißt es aus US-amerikanischen Quellen aus dem Verteidigungsministerium. Insbesondere, weil schwere Waffen viel wahrscheinlicher eher aus der Sinai nach Gaza geschmuggelt werden.
Das Problem ist hier, dass die so gelieferten Nahrungslieferungen meistens sich auf dem Schwarzmarkt wiederfinden – kriminelle Banden übernehmen die LKW, stehlen die Ladung und verkaufen sie für Wucherpreise in Rafah. Jegliche zivile Kontrolle, die die Institutionen in Gaza jemals hatten, sind schon lange zusammengebrochen – exakt das, wovor ich bereits im November warnte.

Deswegen versorgt eine multinationale Koalition aus NATO-Mitgliedern, aber auch der Arabischen Liga den Gazastreifen mit Abwürfen aus der Luft. Das Problem hier ist die mangelnde Präzision – immer wieder landen Abwürfe im Mittelmeer. Das andere Problem, dass die schweren Paletten nicht ungefährlich sind – erst kürzlich wurde eine Familie von einer saudi-arabischen Palette erschlagen, deren Fallschirm nicht ausgelöst hatte.

Oft geraten diese Paletten natürlich auch in die Hände der gleichen kriminellen Gangs – so werden die US-Militärrationen (MRE – Meal, Ready To Eat) auf dem Schwarzmarkt für umgerechnet bis zu 10 Euro pro Stück verkauft. Eine solche Ration versorgt einen Menschen mit den nötigen Kalorien und Nährstoffen für einen ganzen Tag.

Das finale Problem ist ein rein mathematisches – selbst wenn man, ähnlich wie bei der Luftbrücke über Berlin, kontinuierlich Nahrung abwerfen würde, würde die gesamte Transportkapazität aller US-Flugzeuge nicht ausreichen, um die Menschen im Gazastreifen mit Nahrung zu versorgen. Schätzungsweise sind bis zu 60 % der Einwohner des Gazastreifens aktuell von Hunger bedroht – Tendenz steigend.

Um zumindest dieses logistisches Problem zu lösen, errichtet das US-Militär einen gigantischen Pier, um Versorgungsgüter in hoher Stückzahl schnell ans Land zu bringen. Die nötigen Schiffe werden in den nächsten Monaten im Mittelmeer ankommen. Satellitenbilder aus dem Gazastreifen lassen die Vorbaumaßnahmen bereits erraten.

Der Pier ermöglicht insbesondere die Versorgung ohne langfristige Einmischung durch US-Truppen, insbesondere weil man in den USA einen weiteren „Forever War“ fürchtet, also ein Einsatz in Gaza ähnlich zum Krieg in Afghanistan.

Das sind die Vorteile zu klassischen Landungsschiffen, denn in der Vergangenheit hatten Schiffe der Amphibious Ready Group – einer Flugzeugträgertruppe der US Marines – Katastrophenhilfe geleistet, indem sie die Schiffe auf dem Strand platziert haben. Durch die instabile Lage im Gazastreifen wäre aber ein solches Manöver nicht sicher und würde zu Debatten führen, die in den USA ungern geführt werden – wie sollen Truppen regieren, wenn sie unter Beschuss geraten?


Amerikanische Verwundete oder gar Tote würden das sofortige Ende der humanitären Hilfe für den Gazastreifen bedeuten. Die Szenen aus „Black Hawk Down“, dem Film basierend auf den realen Ereignissen der Schlacht um Mogadischu, haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der US-Amerikaner gebrannt. Denn auch diese hatte sich aus einer humanitären Mission heraus entwickelt.

Deutlich ist – die Situation im Gazastreifen ist kritisch und wird sich auch in den nächsten Monaten wohl nur kaum verbessern. Und in den Händen der Hamas befinden sich immer noch mehr als 120 Geiseln, viele von ihnen Frauen und kleine Kinder. Es sind Freunde und Kinder, Eltern und Ehepartner der Menschen in Israel. Und so wird der Krieg weiter gehen, bis alle Geiseln befreit sind und – so wie es Netanyahu fordert – die Hamas besiegt. Eine Lehre des „Forever Wars“ sollte aber sein, dass im Krieg gegen der Terror meistens der Terror selbst gewinnt.

Immer wieder sterben in israelischen Luftangriffen Unschuldige – „schwere Fehler“ werden begangen, wie der Verteidigungsminister Gallant Dienstagmorgen beteuerte, nachdem israelische Drohnenangriffe 7 Freiwillige der NGO „World Central Kitchen“ getötet hatten. World Central Kitchen versorgt seit wenigen Wochen Zivilisten im Gazastreifen mit Nahrung. Sie koordinieren jeden Schritt mit der israelischen Armee, jede Bewegung wird an das Militär gemeldet, ihre Autos sind deutlich gekennzeichnet. Wie es zu den tödlichen Angriffen kommen konnte, ist zurzeit völlig unbekannt.

Nach den tödlichen Angriffen hat die NGO ihre Arbeit vorerst eingestellt. Ich hatte World Central Kitchen in der Vergangenheit an der polnisch-ukrainischen Grenze getroffen; dort versorgen sie seit Ausbruch des Krieges ukrainische Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln und Kleidung.

Seit Wochen verhandelt man in Paris, Qatar, Tel Aviv und Kairo über eine weitere Feuerpause. Immer wieder stocken die Verhandlungen – sei es aufgrund der Forderungen der Hamas, die israelische Diplomaten als „absurd“ darstellen – so wollte die Hamas 50 Geiseln gegen alle in Israel verhafteten Palästinenser tauschen, darunter viele, die schwere Verbrechen begangen haben.

Ein solcher Austausch wäre für Israel katastrophal – gleich zwei der Architekten des Terrors der Hamas kamen bei solchen „Tauschhandlungen“ in den letzten zwanzig Jahren frei. Die anderen bis jetzt freigelassenen Geiseln wurden gegen palästinensische Frauen und Jugendliche getauscht, die wegen minderer Straftaten im Gefängnis saßen.

Der Krieg, der in Israels Grenzgebiet am 07. Oktober angefangen hat, hat längst globale Auswirkungen. Israel und jüdisches Leben sind weltweit wieder bedroht, alleine in Deutschland haben sich die Anzahl der antisemitischen Angriffe vervielfacht.

Den regionalen Krieg, den die Hamas provozieren wollte, ist bis jetzt noch nicht eingetreten. Trotz erheblicher Kämpfe im israelisch-libanesischen Grenzgebiet (BSN berichtete kontinuierlich) und häufigen Luftangriffen auf iranische Milizen in Syrien ist es bis jetzt noch zu keiner befürchteten, massiven Eskalation gekommen. Erst gestern töteten Luftschläge auf iranische Botschaftsgebäude in Damaskus führende Mitglieder der Iranischen Revolutionsgarden. Die Liste der Getöteten liest sich wie das Who-Is-Who der Terrormilizen. Unter den Toten sind zwei iranische Generäle, ein leitender Führer des Palästinensischen Jihads und mehrere iranische „Berater“, unter deren Aufsicht und Beratung islamistische Milizen massive Kriegsverbrechen in Syrien begangen.

Auch in Israel selbst bröckelt es weiter an der Unterstützung für die Regierung Netanyahus und an dem von ihr geführten Krieg. Immer wieder kommt es zu massiven Protesten auf Tel Avivs Straßen; ähnlich wie bei den Protesten über die Justizreformen kommt es auch hier zu Straßenblockaden auf den großen Autobahnen – ehemalige, befreite Geiseln & und ihre Angehörigen kritisieren Netanyahu und fordern anhaltende Feuerpausen. Die letzten Statistiken zufolge vertrauen weniger als ein Viertel der Bevölkerung Israels weiterhin der Regierung Netanyahu – einem absoluten Tiefststand seit Ausbruch des Krieges.

Auch in der nach dem 07. Oktober gegründeten „Notstandsregierung“ bröckelt es, Uneinigkeiten werden immer größer. Anfang Oktober warnte der israelische Präsident Yitzak Herzog noch vor der Gefahr durch die Spaltung; jetzt hat diese wieder Fuß gefunden. Gideon Sa’ar, ehemaliger Vize-Ministerpräsident der letzten Regierung, trat relativ unerwartet aus dem Kriegskabinett zurück und bezog sich auf die immer weiter wachsenden innenpolitischen Risse.

Ähnlich ging es um Benny Gantz – der Star der letzten Regierung und vermutlich einer der mächtigsten Männer des aktuellen Kabinetts, der mit seinem Rücktritt drohte, würde die Regierung sich nicht um eine Einigung um die Wehrpflicht der ultra-orthodoxen Juden einigen würde.

Die Ultra-Orthodoxen Juden haben in Israel einen gewissen Sonderstatus, denn sie müssen weder in der Armee dienen noch Zivildienst leisten, wenn sie während der Rekrutierungsperiode in einer Thora-Schule eingeschrieben sind. Die offizielle Begründung dafür ist, dass die „Mit der Schriftrolle, nicht mit dem M-16“ kämpfen würden.

Dieser Fakt ist in Israel höchst kontrovers und immer wieder Teil der Debatte. Viele Ultra-Orthodoxen hatten gedroht, falls die neue Rekrutierung als Gesetz eintreten würde, würden sie notfalls das Land verlassen. Anfang der Woche trat das Gesetz in Kraft – bis jetzt ist noch keine Massenflucht bekannt. Auch der Zusammenbruch der Regierung, den die orthodoxe Partei Shas angedroht hatte, ist bis jetzt noch nicht eingetreten.


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