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Chernihiv – 38 Tage unter russischem Feuer

Das zerschossene Ortsschild
Das zerschossene Ortsschild

Die ukrainische Stadt Chernihiv liegt zwischen Russland, Weißrussland und Kyiv. Ganze 38 Tage lang wurde diese Stadt im vergangenen Jahr von russischen Soldaten belagert und mit Artillerie, Kampfjets und Raketen bombardiert. Die Stromversorgung brach zusammen, dann die Wasserversorgung. Am Ende gab es nicht mal mehr Straßen raus. Die Stadt wurde erfolgreich verteidigt – doch kaum ein Mensch kennt ihre Geschichte. 

Nachdem der Krieg in der Ukraine seit acht Jahren im Osten des Landes tobte, griff Russland das demokratisch und friedliche Land zusätzlich von Norden her aus Russland und Weißrussland an. Erklärtes Ziel war es, die Ukrainerinnen und Ukrainer samt ihrer Kultur auszurotten. Eine ethnische Säuberung, bei der vom Kreml alle Kriegsverbrechen erlaubt sein sollten. In den ersten Kriegstagen fuhr ich auf der Autobahn an Bucha vorbei und konnte das Ergebnis mit eigenen Augen sehen. Dass Kyiv rund hundert Kilometer von der Grenze liegt und in einem Tag erreicht werden sollte, weiß inzwischen die ganze Welt. Dass auf dem Weg dahin Chernihiv mit seinen 285.000 Einwohnern liegt, hingegen kaum jemand. Ein bisschen wie bei Asterix und Obelix hat sich dieser kleine Ort ohne Hilfe von außen 38 Tage lang gegen die Angriffe gewehrt. Dass man die Stadt nicht mal eben einnehmen kann, lernten die russischen Soldaten sehr schnell und sehr schmerzlich. 

Abgestürzte Rakete
Abgestürzte Rakete

Am 24. Februar 2022 um 3:27 Uhr Morgens, als der Rest der Welt noch nicht mal wusste was los ist, meldeten die ukrainischen Soldaten in Chernihiv die ersten Gefangennahme russischer Soldaten. Ein Spähtrupp der Russen war ihnen zu nahe gekommen, zwei Personen konnten lebend gestellt werden. Am gleichen Tag sollten sie weitere Soldaten gefangen nehmen. Im Morgengrauen übernahm man in Chernihiv erste Fahrzeuge und Ausrüstung, die man von der russischen Armee erbeutet hatte. Nach diesen herben Rückschlägen in wenigen Stunden entschied sich die russische Armee, keine zwölf Stunden nach dem ersten Angriff, Chernihiv besser zu umgehen. Vom Mythos der „zweitgrößten Armee der Welt“ war bereits vor dem Mittagessen nichts mehr übrig.

Am 25. Februar 2022, dem zweiten Tag der Invasion, war die Stadt umstellt und die Belagerung begann, welche bis zum 4. April dauern sollte. Mit Raketenwerfern wurden zunächst Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser beschädigt und zerstört. Das ist kein Zufall. Das zivile Leben, Bildung und Hilfsmöglichkeiten zu zerstören, hat bei der russischen Armee große Tradition. Im Anschluss Verwaltung und Infrastruktur, dann alles andere. 

Schule von Chernihiv
Schule von Chernihiv

Während die Bewohner alle Zufahrtswege verminten und ihre Partisanengruppen russische Tanklaster und ähnliches angriffen, bombardierten die Angreifer weiter die Stadt. Eine Woche später bombardierte ein Kampfjet eine große Schule und kehrte immer wieder. Dieser Kampfjet wurde kurze Zeit später von einem Postbeamten mit einem Igla-Raketenwerfer aus den 1980er Jahren abgeschossen. Die Piloten waren sich so siegessicher, dass sie unter Missachtung gängiger Standards immer wieder sehr tief über die Stadt flogen. Der Pilot konnte sich mit dem Schleudersitz retten und wurde gefangen genommen. Später sollte er in einem der Gefangenenaustausche zurück nach Russland gehen. 

Zerstörtes Wohnhaus
Zerstörtes Wohnhaus

Ende März waren alle Brücken nach Chernihiv zerstört. „Wir haben es dann ‚die Insel‘ genannt. Niemand kam mehr rein, niemand mehr raus“, erklärt Aria, eine Bewohnerin, welche während der ganzen Belagerung vor Ort war. „Erst gab es keine Lieferungen mehr von außen, dann war der Strom weg, dann Internet und die Wasserversorgung. Wir mussten auch das Benzin rationieren. Es war wie in einem dystopischen Cyber-punk Roman. Leute lebten  in kaputten Hochhäusern und mussten im Vorgarten Latrinen ausheben – aber wir hatten dank Starlink so schnelles Internet, wie noch nie. Gleichzeitig starben 30-50 Menschen an jedem Tag.“ Fährt sie fort. 

Friedhof Chernihiv - mit beschädigter Kapelle
Friedhof Chernihiv – mit beschädigter Kapelle

Auf dem Friedhof von Chernihiv gibt es heute die „Allee der Helden“. Hier liegen hunderte bis tausende Menschen, die bei der Verteidigung der Stadt getötet wurden. Ganze Familien. Väter und Söhne. „Das sind hier meine Freunde gewesen. Er auch. Und die Reihe dahinten“, erklärt Aria unter Tränen. Sie ist jünger als ich. Viele der Geburtsdaten der Toten liegen in den 1990er Jahren, einige Anfang der 2000er. Manche starben schon am 24. Februar 2022. Oft hinterließen sie Frau und Kinder. Sie wussten, dass sie sterben werden. Aber sie sahen es als einzige Möglichkeit, ihre Freunde und Familie zu retten. Ohne sie hätte es geendet wie in Bucha. Die Stadt konnte nicht mehr verteidigt werden.  

Beschädigte Gräber
Beschädigte Gräber

Auch der Friedhof wurde unter Feuer genommen. Die Kirche und die Kapelle wurden getroffen. Selbst Grabsteine wurden beschädigt, sind zerbrochen, haben Einschusslöcher. 

Bis heute muss man über eine Ponton Brücke in die Stadt fahren. Das große und prächtige Kino hat immer noch kein Dach, viele Häuser sind beschädigt, in der zerstörten Schule liegen noch Granaten, man sieht Reste von abgebrannten Ladenlokalen, Hochhäusern, denen ganze Seiten fehlen. Zur Ruhe kommt die Stadt nicht.

Die Menschen in Chernihiv stellen sich darauf ein, dass Russland am Jahrestag des Kriegsbeginns, also am 24. Februar, einen neuen Angriff auf ihre Stadt unternehmen wird.

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