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Drei Monate Krieg: Die Lage in Israel

Malte Ian Lauterbach berichtet für Berlin Story News über die anhaltenden Spannungen im Konflikt zwischen der Hamas, Israel und der Hisbollah, über die gefährliche Lage im Norden des Landes, und die Frage, ob eine diplomatische Lösung des Konfliktes möglich ist.

Soldaten üben Zivilisten evakuieren für den Ernstfall – Hier im Sommer 2023.

Nachdem die Hamas am 7. Oktober in einem bisher beispiellosen Angriff die Grenze zu Israels überrannte, mehr als 1200 Zivilisten auf unaussprechliche Weise massakrierte und folterte, schockierten die Bilder aus dem Nahen Osten die ganze Welt. Wie gebannt blickte auch Europa auf die massiven Eskalationen.

Seit dem sind drei Monate vergangen. Unerbittliche Bombardements der israelischen Luftwaffe und die anschließende Bodenoffensive der israelischen Armee haben große Teile des Gazastreifens unbewohnbar gemacht. Mehr als 20.000 Zivilisten sind laut dem Hamas-Gesundheitsministerium im Gazastreifen gestorben, unzählige weitere sind verwundet.

Diese Zahlen des Ministeriums sind nicht unabhängig verifizierbar, die Behörde unterscheidet bei ihren Meldungen zudem nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten.

Die humanitäre Lage in Gaza ist extrem kritisch, obwohl Israel jeden Tag so viele Hilfsgüter wie noch nie in den Gazastreifen liefert. Mehr als 120 LKW durchqueren jeden Tag die Grenze zum Gazastreifen, trotz der Gefahren, die für die LKW-Fahrer dabei auftreten. Immer wieder werden die Konvois in Gaza von der Hamas angegriffen. Im letzten Jahr überrannte und plünderte die Hamas mehrere Lager für humanitäre Güter der UN, plünderte Diesel, Gas und medizinische Güter.

In Den Haag wiederum wird seit Donnerstagmorgen diskutiert, ob der Krieg im Gazastreifen „genozidale Ausmaße hat“. Ein Krieg, den man in Israel weder gewollt noch provoziert hat. Ein Krieg gegen eine Terrorgruppe, deren geschworenes Ziel „Der Tod aller Juden, der Tod Israels“ ist. Zu den Staaten, die Israel  „Genozid“ vorwerfen, gehört unter anderem Syrien, wo in zehn Jahren Bürgerkrieg mehr als 600.000 Menschen getötet worden sind, die meisten davon durch Massaker der syrischen Armee. Die Vereinten Nationen lehnen ab, Syrien im Internationalen Gerichtshof zu verurteilen.

Um wirklich für Frieden zwischen Israel und der Hamas zu sorgen, braucht es Verhandlungen zwischen den beiden Konfliktparteien, welche die Hamas quasi unmöglich macht. Die letzte Feuerpause hat die Hamas mit massiven Raketenangriffen gebrochen. Immer noch sind mehr als 130 Menschen Geiseln der Hamas, darunter Frauen und Kinder.

Auf der anderen Seite haben drei Monate Krieg, zuerst aus der Luft, dann auch am Boden, die Hamas in großen Teilen des Gazastreifens zum großen Teil zerschlagen. Ihre Infrastruktur wurde zerstört, ihre wichtigsten Bataillone zerrieben, leitende Figuren ausgeschaltet. Der Krieg im Gazastreifen ist jedoch nicht gewonnen, wird auch nie richtig gewonnen werden können. Bei der Menge an Toten ist fraglich, ob es überhaupt Gewinner geben kann.

Die Hamas spricht über zivile Tote als ruhmvolle Märtyrer, Menschen, die „für die Sache“ gestorben sind, als wehrlose Schutzschilde für Terroristen, gefangen in einem gnadenlosen Krieg. Aber für die Familien mit leeren Plätzen am Esstisch gibt es keinen Ruhm. Nach den Genfer Konventionen ist die Partei, die menschliche Schilde verwendet, schuld, wenn nicht beteiligte Zivilisten durch den Einsatz solcher Taktiken geschädigt werden. Nichts und niemand kann den Tod von Kindern rechtfertigen, aber die Schuld liegt immer noch bei der Hamas, die die Kinder überhaupt in Gefahr bringen. 

Dass man den Krieg gegen den Terror nicht generell gewinnen, sondern diesen nur eindämmen kann, war vermutlich die bitterste Lektion des Afghanistankrieges, der im Vergleich zum Krieg im Gazastreifen geradezu einfach wirkt. Innerhalb von 3 Monaten hat die israelische Armee fast viermal so viele Verluste wie Deutschland in 20 Jahren des Krieges in Afghanistan erlitten. Alleine im Gazastreifen sind bisher mehr als 185 israelische Soldaten ums Leben gekommen. Auch für sie gibt es keinen Ruhm in den Augen der Familien, die Väter, Mütter und Kinder verloren haben.

In Armeekreisen spricht man davon, dass der Krieg im Gazastreifen Jahre andauern wird und erinnert sich an den Krieg im Libanon 1982 bis 2000. Israel ist im Grunde genommen ein Land mit einem kleinen stehenden Heer, also Vollzeitsoldaten. Der Staat hat aber die Fähigkeit, im Ernstfall rapide Reservisten zu integrieren. In den Tagen nach dem 7. Oktober  wurden so die Ränge der Armee mit israelischen Reservisten aus der ganzen Welt gefüllt.

In vielen Fällen hatten Einheiten dann sogar mehr Soldaten, als sie eigentlich einberufen hatten, weil die Reservisten aus eigener Entscheidung zurückkehrten. Doch eben diese Männer und Frauen fehlen der israelischen Wirtschaft nun. Oft sind es Fachkräfte, deren Posten jetzt temporär unbesetzt sind, ihre Abwesenheit durch den Staat entlohnt.

Das kostet die israelische Wirtschaft dadurch doppelt: Die israelische Zentralbank musste die israelische Konjunkturprognose bereits deutlich senken.  Eine Rezession ist auf Dauer quasi garantiert. So kostet jeder Monat des anhaltenden Kriegszustands dem Staat große Summen Geld, und politische Unterstützung. Der Unmut der Bevölkerung wächst bereits jetzt, die Rufe nach einem Ende des Krieges werden immer lauter. Netanjahus Partei verliert immer mehr an Stimmen. Würden in diesen Tagen Neuwahlen stattfinden, würde Netanjahus Koalition die Mehrheit deutlich verfehlen.

Auf Seiten der Armee spricht man derweil davon, dass man die Intensität des Krieges im Gazastreifen reduzieren will. So wurden in den letzten Tagen mehrerer Bataillone abgezogen, die Reservisten kehren zurück an ihre normalen Arbeitsplätze. Gleichzeitig werden immer mehr Soldaten an die nördliche Grenze zum Libanon abgezogen, wo in den letzten Wochen der Konflikt mit der Hisbollah immer mehr eskaliert. Dutzende Bataillone befinden sich jetzt in den israelischen Grenzregionen, die Armee zieht zudem schweren Waffen, wie M270-Raketenartillerie in den Norden.

Bereits direkt nach Beginn des Massakers am 7. Oktober griff die Hisbollah den Norden Israels an. Schweres Raketenfeuer sorgte dafür, dass die nördlichsten Städte und Dörfer Israels evakuiert werden mussten. Bereits am 8. Oktober berichteten wir besorgt über die Situation an Israels nördliche Grenze. Bis heute gibt es eine bis zu 20 km breite Bannmeile an der Grenze, wo das sichere Leben aufgrund der anhaltenden Angriffe unmöglich ist. Dazu gehört auch Bar‘am – der Ort, in dem ich von2022 bis 2023 lebte, nur knapp 300 Meter von der libanesischen Grenze entfernt.

Blick in den Libanon

Seit dem 7. Oktober sind bei Gefechten um die 159 Hisbollah-Mitglieder getötet worden. Aus israelischen Armeekreisen heißt es, eine „niedrige zweistellige Zahl“ Soldaten sei bei Kämpfen an der nördlichen Grenze gefallen. Genaue Zahlen veröffentlicht die Armee aus Sicherheitsgründen nicht.  Für die Hisbollah sind diese Verluste nicht zu ignorieren, denn sie haben in diesem Konflikt im Grunde genommen nichts zu gewinnen, wie auch der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, deutlich kommuniziert. 

Ein Helikopter der Luftwaffe patrouilliert Israels nördliche Grenze.

Auch die Hisbollah verändert ihre Strategie: Statt wie zu Beginn des Krieges mit einzelnen Teams sporadisch Ziele im Norden Israels anzugreifen, wodurch sie enorme Verluste durch die israelische Armee erlitten haben, greifen sie in den letzten Tagen immer gezielter militärische Ziele an.

So schlugen in die Militärbasis auf dem Mount Meron, einen der höchsten Berge des Nordens Israels, mehrere Marschflugkörper ein. Mount Meron dient als Basis für den Luftüberwachungsradar der israelischen Luftwaffe, um damit tief in den Libanon und Syrien „blicken“ können. Von hier aus wird zum Beispiel den Einsatz von Systemen wie Iron Dome und Arrow 2 und Arrow 3 kontrolliert. Die Radare selbst wurden bei den Angriffen nicht beschädigt, aber die Kuppeln, in der sich die präzise Technologie befindet, erlitt schwere Schäden.

Das Problem mit den Radaren, so Experten zu Berlin Story News, besteht darin, dass die Radare selbst präzise kalibriert werden müssen.  Dass die israelische Armee die Basis jetzt mit einem sogenannten Aerostat-System – einem riesigen Luftschiff (Blimp), das ausgestattet mit Überwachungstechnik über große Distanzen blicken kann – unterstützt, zeigt, dass die Funktion der Basis zumindest eingeschränkt wurde. 

In Kombination mit den kürzlichen Drohnenangriffen auf das Karish Gasfeld vor der israelischen Küste, über dessen bedrohliche Lage Berlin Story News bereits 2022 berichtete, entspricht das neue Verhaltensmuster der Hisbollah einer Strategie, die Berlin Story News im August 2023 skizzierte. Die Hisbollah fügt der israelischen Armee so mit Präzisionsmunition systematisch schwere Schäden zu.

Auch Berichte über Angriffe auf das Hauptquartier der israelischen Armee weit im Landesinneren Israels verstärken diesen Eingriff. Drohnen explodierten vergleichsweise harmlos auf dem Parkplatz der Basis.

Beide Seiten rüsten für eine weiter eskalierende Situation – im Norden Israels bereitet man die Krankenhäuser für tausende Verletzte im Ernstfall vor, wie die Tageszeitung „Maariv“ berichtete.

Die Hisbollah wiederum zieht ihre Elitetruppen der „Radwan“-Kräfte aus der Grenzregion ab, die im Laufe der Gefechte schwere Verluste gemacht haben. Erst kürzlich tötete ein Drohnenschlag den Kommandeur dieser Kräfte. Offen bleibt die Frage, ob die Hisbollah ihre Kräfte zurückzieht, um diese zu konsolidieren, aufzurüsten und zu verstärken oder um sie zu schützen, und ein Interesse an Deeskalation zu zeigen.

Nicht unmöglich scheint aber auch die friedliche Lösung eines Konfliktes, für den es eigentlich keine militärische Lösung gibt. Der libanesische Außenminister betont immer wieder Rolle der UN Resolution 425, die den Libanonkrieg 1982 enden sollte. Auch Vertreter der USA versuchen, diesen Lösungsweg einzuschlagen. Ähnliche von den USA geleiteten Verhandlungen hatten auch den Konflikt über das Karish Gas-Feld 2022 friedlich mit einem Kompromiss gelöst. 

An der libanesischen Grenze.

Die Resolution hatte zur Folge, dass Israel die militärische Präsenz im Libanon beendete, und die Kontrolle durch die Vereinten Nationen übernommen wurde. Dieser Rückzug erfolgte, weil die internationale Gemeinschaft, vertreten durch die UN, die Kontrolle über die Sicherheitszone als nicht mehr gerechtfertigt ansah.

Anfang der 2000er zog sich die israelische Armee aus dem dünnen Sicherheitsstreifen im Süden des Libanons auf die international anerkannte Trennlinie, die „Blue Line“, zurück. Als 2006 Truppen der Hisbollah in einem Überraschungsangriff die israelische Armee angriffen, erwies sich dieser Rückzug als strategischer Fehler. Nach einem Monat Krieg zwischen der Hisbollah und Israel endete der Libanonkrieg 2006 durch eine von der UN erzwungene Feuerpause.

Seit 2006 hat die Hisbollah ihr Arsenal massiv erweitert. Während sie 2006 oft noch auf stark veraltete Waffen aus sowjetischen Zeiten zurückgriff, hat sie ihr Arsenal seit dem durch große Mengen Präzisionswaffen erweitert.

Das Arsenal der Hisbollah überraschte bereits im Libanonkrieg 2006 die israelische Marine, als das Marineschiff INS Hanit mit Seezielflugkörpern angegriffen wurde. Nur durch Zufall kam es nur zu leichten Schäden. Vier Soldaten starben. Israelische Geheimdienste hatten die Präzision der Hisbollah unterschätzt, das Marineschiff hatte deswegen seine Verteidigungssysteme nur im Stand-by-Modus. Dieses übersteigerte Selbstvertrauen der Hisbollah ist vermutlich das größte Problem der gut trainierten israelischen Armee.

Malte Ian Lauterbach, Berichterstatter für BSN

Der Autor dankt Catarina C. und den zahlreichen Quellen, die um Anonymität gebeten haben und die eine entscheidende Rolle bei dieser Reportage gespielt haben.

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