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Istanbul, Amman, Tel Aviv: Der lange Schatten des 07.10.

Malte Ian Lauterbach berichtet aus Jordanien über die Lage im Nahen Osten inmitten des anhaltenden Krieges zwischen Israel und der Hamas. Dieser Konflikt wirft einen Schatten, der weit über die Region hinausreicht und globale Auswirkungen hat.
Vor fast 3 Monaten, am Morgen des 07.10, war die Welt eine andere. Verhandlungen zwischen Israel und Saudi-Arabien ließen Hoffnungen aufkommen auf gemeinsame diplomatische Beziehungen, wirtschaftlichen Handel, Reisefreiheit, und damit einem Ende der Khartum-Resolution, einer Erklärung der arabischen Liga aus dem Jahre 1967, in der sie die gemeinsame Außenpolitik festgelegt hatten. Um den Einfluss dieser Deklaration zu verstehen, müssen wir, wie so oft in den Artikeln der letzten Monate, in die Vergangenheit blicken.

Amman: Eine Stadt von mehr als 4 Millionen Menschen. Foto: Malte I. Lauterbach

Wichtigster Bestandteil dieser Erklärung waren die berühmten „Three No’s“, in denen sie wörtlich festlegten, dass weder Frieden noch Anerkennung noch Verhandlungen mit Israel inakzeptabel waren. Entstanden war sie basierend auf dem Versuch Israels, nach Ende des 6-Tage Krieges Frieden mit der arabischen Liga zu schließen. Israel strebte im Anschluss an den Sechstagekrieg danach, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel, beides Gebiete, die es infolge der Angriffe der arabischen Staaten erobert hatte, im Austausch gegen Frieden und die Anerkennung des israelischen Staates durch Syrien und Ägypten zu verhandeln.

Doch stattdessen gab es keinen Frieden, keine diplomatischen Beziehungen und keine Verhandlungen. Vor dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges bot Israel Assad erneut den Tausch an – Rückkehr an die syrischen Grenzen vor dem Sechstagekrieg im Tausch gegen Anerkennung des israelischen Staates und Frieden zwischen den beiden Staaten. Doch Assad waren die „Three No’s“ wichtiger. So bleiben die Golanhöhen bis heute in israelischer Hand.

Ägypten war das erste Land, dass die Khartum-Resolution nach Ende des Yom Kippur Krieges brach. Die – aus israelischen Augen strategisch nun wertlose – Sinai-Halbinsel wurde getauscht gegen permanenten Frieden und wirtschaftliche Beziehungen. Seit dem herrscht intensiver Handel zwischen den beiden Staaten, immer wieder kooperieren Israel und Ägypten auch in Sicherheitsfragen, vor dem 07.10 kontrollierten die beiden Staaten die Grenzübergänge zum Gazastreifen gemeinsam. Der permanente Frieden zwischen den Staaten hält seit 1973, mit wenig Zwischenfällen. Als Anfangs dieses Jahres ein ägyptischer Soldat die Grenze zu Israel überquerte und drei israelische Soldaten tötete, stellte das den schwersten Zwischenfall zwischen den beiden Staaten seit Jahren dar. Der ägyptische Soldat entpuppte sich als Schläfer des islamischen Staates, die ägyptische Armee half den Vorfall aufklären und es kam zu keiner Eskalation. Selbst als Mitte Oktober ein israelischer Panzer – vermutlich aufgrund einer technischen Panne – einen Schuss auf einen ägyptischen Grenzturm abgab, begruben die beiden Staaten den Vorfall peinlich berührt.

Das zweite Land, was die Khartum-Resolution brach, war Jordanien im Jahre 1994. Insgeheim hatte sich der jordanische König bereits vor dem 6-Tage Krieg 1967 mit israelischen Regierungsbeamten getroffen – auf neutralem Boden, was in diesem Fall die Londoner Praxis eines Arztes des jordanischen Königs war. Dieser war, so will es, die Ironie der Geschichte, nämlich jüdisch. 2020 folgten dann Bahrain, Marokko, Sudan und die Vereinigten Arabischen Emirate durch das Abraham Abkommen. Von den Staaten, die die Khartoumresolution unterschrieben haben, sind heute hauptsächlich nur noch Syrien, Saudi-Arabien, Libanon, Jemen und der Irak übrig. Ob der Libanon nicht die Khartum-Resolution gebrochen hat, da sie im letzten Jahr mit Israel über den Verlauf der maritimen Grenze verhandelt hatten (Malte Ian Lauterbach berichtete), ist ebenfalls Punkt beliebter Diskussion.

Sandsturm in Jordaniens Süden. Foto: Malte I. Lauterbach

Die Autonome Republik Kurdistan erhält Ausbildung durch das israelische Militär und erlaubt, im Gegensatz zum Rest des Iraks, Menschen mit israelischen Stempeln im Pass die Einreise.

Doch nach dem Massaker des 07.10 hat sich die geopolitische Lage im Nahen Osten stark verändert, niemand spricht mehr über Verhandlungen mit Saudi-Arabien. Nachdem die Hamas mit massiven Raketenangriffen die Luftverteidigung überfordert und mit Bodentruppen die Grenze überquert hatten, massakrierten, folterten und vergewaltigten sind mehr als 1200 Zivilisten im Süden Israels. Die Bilder schockten die ganze Welt. Fast 3 Monate anhaltender Gefechte zwischen Hamas und der israelischen Armee haben große Teile des Gazastreifens zerstört. Ehemalige Strandresorts im Gazastreifen dienen jetzt als Lager für die israelische Armee, ganze Städte liegen zerstört, teilweise durch die schweren Luftangriffe, teilweise durch die anhaltenden Kämpfe in der Stadt. Schätzungen zufolge sind mehr als 20.000 palästinensische Zivilisten dem Krieg zu Opfer gefallen, die humanitäre Situation ist katastrophal. In großen Teilen des Gazastreifens herrscht Anarchie – immer wieder gibt es Berichte von Schützen der Hamas, die das Feuer auf fliehende Zivilisten eröffnen.

Dieser Krieg bewegt natürlich auch die arabischen Länder. Nach der verheerenden Explosion im al-Ahli Krankenhaus im Gazastreifen am Abend des 17. Oktober, bei der Al Jazeera über 500 Tote berichtete, kam es zu weitreichenden Auswirkungen. In Berlin wurden Synagogen mit Brandsätzen angegriffen, während es in anderen europäischen Großstädten zu spontanen Ausschreitungen kam, die über Plattformen wie TikTok und Telegram koordiniert wurden. In Istanbul versuchte eine aufgebrachte Masse, das israelische Konsulat zu stürmen. Später stellte sich heraus, dass die Explosion im Krankenhaus wahrscheinlich durch eine Rakete des palästinensischen Jihad verursacht wurde.

Die Angriffe durch die israelische Armee und die Luftwaffe werden weltweit immer wieder auf heftigste kritisiert, erst kürzlich verglich der türkische Präsident Erdogan Netanyahu mit Adolf Hitler, woraufhin Netanyahu auf Erdogans Genozid an den Kurden in Syrien hinwies. Anfang November rief die Türkei ihren Botschafter aus Israel zurück nach Istanbul. Diese diplomatische Geste verweist auf einen Bruch zwischen den beiden Staaten, die Anfangs des Jahres noch engere wirtschaftliche Beziehungen planten. Nach dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 leisteten israelische Rettungskräfte entscheidende Hilfe. Engagiert im Katastrophenschutz halfen sie dabei, Opfer zu bergen und Verwundete aus den Trümmern zu retten.
Auch in Jordanien blickt man missmutig auf den Nachbarn im Westen. Jordanien, das große Teile seiner landwirtschaftlichen Erzeugnisse und seiner Energieproduktion aus externen Quellen bezieht, benötigt den Handel mit Israel. Eben dieser Handel wird aber bei den jordanischen Bürgern, die zum großen Teil aus palästinensischen Flüchtlingen bestehen, immer unbeliebter. Einen jordanischen Beamten, den ich auf den Konflikt anspreche, fasst den Konflikt mit einem Satz passend zusammen „Wir mögen die Juden nicht, bis wir mit ihnen handeln können. Dann können wir mit ihnen leben“.

Mit Argwohn überwacht das Militär die nördliche Grenze Jordaniens zu Syrien, wo es in den letzten Wochen zu wiederholten schweren Gefechten zwischen Schmugglern und den Streitkräften Jordaniens kam. Diese Auseinandersetzungen finden häufig auf syrischem Staatsgebiet statt. Diese Schmuggler schmuggeln mit Erlaubnis und unter der Aufsicht des syrischen Staates hauptsächlich Captagon in die Welt. Syrien ist verantwortlich für fast 80 % der globalen Produktion von Captagon, und nach zwölf Jahren Bürgerkrieg hat sich die Droge als das wichtigste Exportprodukt der arabischen Republik etabliert.

Auch auf den erneut zunehmenden Einfluss verschiedener islamischer Milizen in Syrien verunsichert das jordanische Militär. So treffe ich in Amman am Grab des unbekannten Soldaten einen jungen Luftwaffenoffizier, der nicht mit Namen genannt werden möchte. Zusammen schreiten wir durch die weitläufige Anlage. Der warme Wind trägt vereinzelte Blätter über den glatten Sandstein, und die Sonne malt sanfte Schatten auf die Fläche vor dem Denkmal. Die Stille wird nur von unseren Schritten und dem sanften Rascheln der Blätter unterbrochen. Während wir zwischen den imposanten Strukturen voranschreiten, wirft der Offizier einen Blick auf das Gebäude, das stellvertretend für die Unbekannten steht, die ihr Leben für das jordanische Königreich gegeben haben.
Die Erinnerungen an die langen Monate, in denen die jordanische Luftwaffe mit Unterstützung der USA pausenlos Angriffe auf Ziele des Islamischen Staates in Syrien und im Irak flog, sind im Bewusstsein des Offiziers tief verankert. Jeder Offizier im Land, so schildert mir der Mann, erinnert sich an die Geschichte von Muath al-Kasasbeh, einem jordanischen Piloten, der im Januar 2015, nach dem sein Flugzeug über Syrien abgestürzt war, in die Hände des Islamischen Staates fiel. Der Islamische Staat folterte ihn erst und verbrannte ihn danach bei lebendigem Leibe. Sein Porträt, mit einem mahnenden Blick, findet heute seinen Platz im Büro des Kommandeurs des First Squadron der Königlichen jordanischen Luftwaffe.
Sein Porträt hängt dort als Mahnung, an jeden, der zur Tür hereintritt, nie wieder den Aufstieg von Gruppen wie dem islamischen Staat zu erlauben.

Die Wüste Jordaniens. Foto: Malte I. Lauterbach
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