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Odessa: Russische Drohnen auf ukrainische Familien

Die Sirenen reißen mich aus dem Schlaf. Luftalarm. Erst mal auf die sichere Seite zwischen Bett und Wand rollen und orientieren. Im selben Moment kommt die Durchsage im Hotel. Alarm. Alle in den Bunker. Bunker ist etwas übertrieben. Eher der Flur im Untergeschoss, in dem fünf Stühle stehen. Aber er hat drei Ausgänge und keine Scheiben. Ob es Sinn ergibt, dorthin zu gehen oder nicht, ist eine eigene Diskussion. Ich ziehe mich schnell an, renne durchs Treppenhaus. Nicht nach unten, sondern nach oben. Ich will sehen, was passiert. Im obersten Stock befindet sich die Bar, welche zwar nicht im Betrieb, aber offen ist. Durch die Panoramafenster sehe ich draußen bereits die Flugabwehr und weiter draußen Explosionen. Die ukrainische Hafenstadt Odessa wird mit russischen Drohnen angegriffen. 

Ukrainische Flugabwehr (links) auf russische Drohnen (rechts)
Ukrainische Flugabwehr (links) auf russische Drohnen (rechts)

Ich blicke die Küste Odessas entlang. Vor mir auf der linken Seite die Stadt, auf der rechten das Wasser und dahinter, nur zwanzig Kilometer weiter, die derzeit von russischen Terroristen besetzte Krim. Von der ukrainischen Seite feuern mehrere Geschütze auf die Drohnen. Man sieht die rote Leuchtspur-Munition gut. An sich sind es große Maschinengewehre, bei denen jedes 5. oder 10. Projektil beim Abfeuern an der Spitze rot glüht, wodurch man sehen kann, wohin geschossen wird. Zusätzlich starten andere Abwehrmittel in den schwarzen Himmel. „Wird noch ein wenig weitergehen. Du bist dicht dran.“ Schreibt mir ein gut informierter Freund. Die Drohnen auf der anderen Seite kann ich zu diesem Zeitpunkt weder hören noch sehen, doch ich sehe sie nach und nach im Himmel explodieren. 

Die im Iran entwickelten und von Russland eingesetzten Shahed Drohnen erkennt man beim Näherkommen am charakteristischen Motorgeräusch. Wie ein Moped mit Vollgas. Solange dieser Klang gleich bleibt, fliegt sie über einen hinweg. Erhöht sich die Drehzahl, so sinkt sie ab und steuert ihr Ziel an. Also genau hinhören. Ich jedoch höre nur gelegentlich einen Knall in der Ferne. „Alles vom Himmel gefallen. Für heute erst mal vorbei“, steht in der nächsten Nachricht. Ich gehe kurz rein, um mich aufzuwärmen. In einer hübschen Sky-Bar im vier Sterne Hotel, während draußen der Krieg tobt.

Bar in der obersten Etage
Bar in der obersten Etage

Was tut man, nachdem man so einen Angriff erlebt hat? Man ist müde und geht schlafen. Irgendwie gewöhnt man sich an alles. Am nächsten Morgen sieht es beim Frühstücksbuffet aus, wie immer. Eltern suchen mit den Kindern ihre Süßigkeiten aus. Verliebte Paare himmeln sich an. Wir probieren aus, welcher Kaffeevollautomat schneller Cappuccino machen kann. Als sei nichts geschehen. Doch es ist etwas geschehen. Etwas Grausames, was hier aber zum Alltag gehört: Zwei Drohnen kamen durch und sind in Wohngebiete eingeschlagen. Eine hat eine ganze Familie erwischt. Es ist von einem toten Baby und anderen Kindern die Rede. 

Das Haus nach dem Angriff

Das getroffene Wohnhaus liegt nicht in der Innenstadt, nicht am Hafen, nicht nahe einer Militärbasis. Es liegt in einer Hochhaussiedlung, zehn Kilometer von unserem Hotel entfernt. Daneben ist ein Fußballplatz, rund herum weitere Häuser. Es ist ein weiterer Anschlag russischer Terroristen auf ukrainische Zivilisten. Sie wurden im Schlaf ermordet. Auf der Straße steht ein großer Baukran, welchen China spendete. Dahinter ein alter Kranwagen sowjetischer Bauart. Das Gelände ist mit Flatterband abgesperrt, die Polizei „sichert“ den Bereich. Jedoch gibt es wenig zu tun, da sich hier alle vernünftig verhalten. 

Bereits nach wenigen Stunden stehen mehrere große Zelte, eine improvisierte Küche für die Helfer, Kleiderspenden von Nachbarn. Einige Menschen sind nun obdachlos und werden sofort versorgt. Sie sehen ihre Wohnungen, können jetzt aber nichts retten. Eine Mutter und ihr Kind bringen Bauhelme für Helfer. 

Mutter und Kind bringen Helme für die Retter

Das Durchsuchen der Trümmer ist Handarbeit. Dutzende Feuerwehrleute heben jeden Stein per Hand auf und werfen ihn in den „gesehen“ Bereich. Dort wird er von Schaufelladern aufgenommen und in Schutt-Laster geworfen. Diese fahren ihn sofort weg. Wie immer in der Ukraine: In 1-2 Tagen wird man hier nichts mehr sehen. Ein Feuerwehrwagen mit einem weit ausklappbaren Korb rückt an. Routiniert beginnt ein Feuerwehrmann, sich mit einer Hand im Korb festzuhalten, mit der anderen eine Motorsäge zu schwingen. Er stutzt mehr als 20 Meter hohe Bäume in Rekordzeit so weit, dass man auch von der Rückseite an den zerstörten Teil des Hochhauses kommt.

Rückwände der Schränke sind noch zu sehen

Das neunstöckige Hochhaus wurde etwa in der Mitte getroffen. Die Etagen darüber sind wie ein Kartenhaus zusammengebrochen, die darunter stehen. Die Rückwand des Hauses steht auch noch. In den oberen Stockwerken fehlt die Außenwand, aber man sieht die Rückwände der Schränke, die vermutlich im Wohnzimmer stehen. Die Fenster der umliegenden Häuser sind intakt. Alles deutet also auf eine Drohne hin, keine Rakete. Leider sieht man den Unterschied irgendwann. 

Der Diensthund Tara steht auf einer Straße und sieht sich um. Hundeführer Oles Chryven erklärt, dass Tara vorher eine der Kinderleichen in den Trümmern gefunden hat. Grausam. Alltag. 

Suchhund Tara und Hundeführer Oles Chryven

Eine volle Stunde nähert sich auf der Uhr. Üblicherweise ist das einer der „stillen Momente“ der Rettung, zu denen alles ruht und man hört, ob es noch Überlebende gibt. Die Motorsäge geht aus und der Korb wird eingeholt. Beide Kräne fahren runter und machen den Motor aus. Allen Umstehenden wird „Ruhe“ signalisiert. Dann ist es still. Totenstille. Mehrere Minuten horchen die Retter. Die Hunde stehen auf den Trümmern und sehen sich um. Wäre jemand verschüttet, aber noch bei Bewusstsein, wäre das der Moment, sich zu melden. Auch unter den Trümmern nimmt man die Ruhe wahr. Dann müsste man klopfen, schreien, irgendetwas tun. Doch es gibt keine Bewegung. Es gibt keine Überlebenden mehr. Es werden nur noch Leichen geborgen. 

Die Kräne gehen wieder an, die Motorsäge sägt und die Trümmer werden weiter per Hand geborgen.

Retter suchen nach Überlebenden

Die Bilanz des russischen Angriffs: Fünf Menschen konnten noch lebend aus dem Haus gerettet werden. Eine Familie wurde fast vollständig ausgelöscht. Vater Oleg Kravets, seine Frau Tatiana, ihr sieben Monate altes Baby Lisa, der neun Jahre alte Sohn Serhiy und die acht Jahre alte Tochter Zlata starben. Das vierte Kind, Volodymyr, verbrachte die Nacht bei den Großeltern und muss nun alleine aufwachsen. 

Zwölf Menschen starben. Darunter fünf Kinder. Sie starben in ihren Pyjamas. Ein Foto zeigt noch die Batman-Hose am leblosen Kinderkörper unter den Trümmern. Gleichzeitig wird in Deutschland diskutiert, ob der Krieg eskalieren könnte, wenn wir den Opfern helfen.

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