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Von russischen Quellen und Kriegsplänen

Arbeitsplatz eines Kriegsberichterstatters im Hotel

Gute Quellen für seine journalistische Arbeit zu finden, kann ein komplizierter und langwieriger Prozess sein. Manchmal pflegt man Kontakte über Jahre, ohne zu wissen, ob sich das ganze lohnt. In diesem Fall war es ähnlich – bis die Quelle wichtige Informationen zum Truppenaufmarsch vor der Ukraine hatte.

Der MH17 Abschuss

Am 17. Juli 2014 saß ich in meinem Büro in Berlin und plante die Reise zu einer weiteren Sicherheitskonferenz. Im Fernsehen sah ich die Bilder des damals noch unklaren Flugzeugunglückes über der Ukraine. Die Malaysian Airlines Maschine MH17 war abgestürzt.

Tragisch, aber eines von vielen Unglücken auf der Welt, mit denen ich eigentlich nichts zu tun hatte. Noch während die ersten Bilder im Hintergrund vorbeiflimmerten, stieß mir der Betreff einer Email ins Auge: „MH17 and our Family“ („MH17 und unsere Familie“). Eine Rundmail an die erweiterte Familie, welche sich auf dutzende Länder rund um die Welt erstreckt: „Ich wollte euch mitteilen, dass unser Schwager einer der Piloten der MH17 war.“ Meine Familie ist sehr weitläufig und irgendwann haben wir uns abgewöhnt, den Grad der Verwandtschaft vor das Verwandtschaftsverhältnis zu setzen, es dauerte einen Moment, bis ich die genaue Zuordnung hatte. So oder so: Es hatte jemanden aus der Familie getroffen und es mehrten sich die Gerüchte, dass das Flugzeug abgeschossen worden war. Gleichzeitig war ich dabei, zu einer weiteren Veranstaltung zu reisen, auf der unter anderem Flugabwehrraketen angepriesen werden. Dann noch zu einer, bei welcher vor allem die Russen ihre Exportsysteme anboten. Eine bizarre Situation.

Krieg spielen als Show

Flugshow auf einer Rüstungsmesse

Die Grenzen auf den Waffenmessen und Rüstungskonferenzen der Welt teilen sich bis heute in West und Ost. Nicht nur das Angebot, auch die Zielgruppe und die Besucher. Selbst die Journalisten besuchen meistens eher die einen oder die andere. Besucht man beide Lager, wird man von der anderen Seite gerne mal mit Argwohn betrachtet und wird Ziel für Witze über die jeweils andere Waffentechnik.

Auf den Veranstaltungen gibt es oft die Ausstellung und Vorführung von Waffensystemen, diese richten sich in erster Linie an die Medien. Es knallt und raucht – vor einer Kulisse wird ein bisschen Krieg gespielt. Natürlich gewinnen immer die Guten. Es gibt die Vorträge, bei denen man Dinge erfährt, die man seit Wochen im Internet lesen konnte. Aber die Vortragenden freuen sich über ihren Auftritt. In den Lounges, Cafés, Bars, Restaurants, Aufzügen und auf den Raucherbalkonen kommt man sich näher, kann Kontakte knüpfen und versuchen diese auszubauen.

Türöffner und Kollateralschäden

Enno Lenze auf dem Podium einer Rüstungsmesse

Die Besucherinnen und Besucher der Messen sind vielfältig, aber grundsätzlich gibt es zwei Gruppen: Die auffälligen und die unauffälligen Teilnehmer. Letztere sind die Interessanteren. Doch um als unwichtiger Mensch in den Focus dieser Menschen zu geraten, muss man selber auffallen. Eine Eigenschaft, welche mir glücklicherweise liegt, aber ihre eigenen Probleme mit sich bringen kann. Mein Ansatz ist, mich auf jede Bühne und vor jede Kamera zu schwingen, bis ich einer Person aufgefallen bin, zu der ich immer schon Kontakt wollte. Ein simples, aber wirkungsvolles Vorgehen voller „Kollateralschäden“. So wurde ich zum Beispiel wegen eines Sat.1-Interviews in Moskau vom Sprecher des DJV, mit „Kreml-Propaganda“ in Verbindung gebracht. Später entschuldigte er sich bei mir dafür, dass er ein Interview zu meiner Person gab ohne mich zu kennen. So etwas kann passieren, zeigte mir aber, was für einen Eindruck ich bei medial schlecht gebildeten Personen erwecken kann.

Aber dieser Weg öffnet mir oft die Türen zu kleineren Veranstaltungen, Parties und Empfängen, auf denen man in aller Ruhe mit den wirklich interessanten Menschen sprechen kann. All diese Dinge dauern, kosten Geld und sind auf den ersten Blick wenig erfolgversprechend. Manchmal dauert es einfach, bis sich so ein Akt auszahlt.

Die Veranstaltung, auf der ich nach dem Absturz von MH17 war, war erwartungsgemäß langweilig. Von den Amerikanern lernte ich „War is boring – until it’s not“ („Krieg ist langweilig – bis er spannend wird“) und genau so ist es bei den Messen und Konferenzen. Es gibt oft nur das eine Gespräch, welches am Ende von Belang war. Und dieses sollte ich ausgerechnet, welch ein Klischee, in der Hotelbar finden. Die „Skybar“ bot einen guten Blick über die Stadt und eine Art Ball der einsamen Herzen: Eine lange Bar mit einzelnen Sitzen auf beiden Seiten. Dort kann man sich einfinden, wenn man alleine reist und Kommunikationsbereitschaft signalisiert. Dort traf ich auf eine Person, welche ebenfalls an der Veranstaltung teilnahm, dem Akzent nach aus Russland stammte und sich als Sanya [Name geändert] vorstellte.

Da meine Arbeit zum Teil öffentlich ist, erzählte ich, wie ich in den vergangenen Jahren Kurdistan-Irak besuchte und wie die Lage am Rande von Mossul war. Die Stadt war erst vor Kurzem von der Terror-Miliz IS übernommen worden. Ich war wenige Tage später in einem noch nicht besetzten Vorort. Während in Kurdistan-Irak bis zu 26 westliche Nationen stationiert sind, wuchs 2014 auch der Einfluss der Iraner und russischer „Berater“ auf die irakische Zentralregierung in Baghdad.

Sanya kannte die Gegend und hatte bereits einen Vortrag von mir zum Thema wahrgenommen, aber selber nicht angesehen, und kannte TV-Auftritte von mir. Im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, dass Sanya irgendwo zwischen russischer Armee und dem militärisch-industriellen Komplex agierte und über einige Grauzonen sprach. Wir blieben in den folgenden Jahren im unregelmäßigen Kontakt und teilten unsere jeweiligen Informationen. Beide immer im Spannungsfeld zwischen Vorsicht und Offenheit. In seltenen Fällen waren wir nur wenige Kilometer voneinander entfernt in verschiedenen Schlachtfeldern des IS-Krieges unterwegs – ich auf der Seite der Koalition, Sanya auf der syrisch-russischen Seite.

Einladungen auf’s Schlachtfeld

Mossul 2020

Ab Ende 2015 war Sanya regelmäßig auf der syrischen Seite und berichtete viel. Russland hatte ein großes Interesse daran, den Diktator Assad an der Macht zu halten. So konnten sie ihren Einfluss auf die Region sicherstellen, während Assad das Land im tödlichen Griff hatte. Russische Hersteller konnten in Syrien neue Waffensysteme testen, ohne die eigene Bevölkerung zu gefährden. Auf der anderen Seite ist Krieg eine teure Angelegenheit. Eine von Sanyas Aufgaben war daher, die Reisen potentieller Käufer der Waffensysteme zu arrangieren. Diese wurden auf das Schlachtfeld eingeladen und konnten dann vor dem Monitor, aus dem Hubschrauber oder dem Panzer sehen, wie was funktioniert und wie effektiv man damit Krieg führen kann. Abends gab es viel Wodka und Kaviar und nach einigen Tagen ging es wieder an den Verhandlungstisch. „Berater“ vieler asiatischer und afrikanischer Staaten nahmen das Angebot gerne an.

Sanya fragte, ob ich die russischen Berater im Irak wahrgenommen hätte. Hatte ich nicht, da diese nur in seltensten Fällen auch in den Norden nach Kurdistan kommen. Wenn sie kommen, dann meist um Kurzurlaub zu machen: Motorboot fahren auf dem Lake Dukan, Ski fahren auf dem Mount Korek oder die sechstausend Jahre alte Altstadt von Erbil angucken.

Die russischen Berater empfahlen der Regierung in Baghdad regelmäßig, die Einflussnahme anderer Staaten auf die Entscheidungen der Regierungen zu unterbinden. Ironisch, dies als anderer Staat zu empfehlen. Neben den Amerikanern sollten auch die iranischen Berater und deren offizielle und inoffizielle Soldaten das Land verlassen. Die Amerikaner hatten dabei Priorität – mit dem Iran kann Moskau politische und militärische Deals machen, solange diese keine Probleme mit ihrem Einfluss auf Syrien bringt.

Der irakischen Regierung wurde auch die Hilfe durch die Wagner Group, einer russischen Privatarmee voller Söldner, angeboten. Diese waren bereits erfolgreich in Syrien eingesetzt worden. Sie agieren abseits der Öffentlichkeit und abseits staatlicher Kontrollen. Seit 2017 flogen Teile der nun einsatzerprobten Truppe in die Ukraine, um dort russische Interessen auf der Krim und in Teilen des Donbas zu sichern. Auf dem Boden eingesetzte Söldner waren in den Krisengebieten der vergangenen Jahrzehnte eigentlich Domäne der britischen und amerikanischen Anbieter. Die ex-Sowjet Soldaten sah man vor allem im Luftraum über Afrika. Dort flogen sie alles, was Flügel und einen Propeller hatte, und solange man zahlte, waren Start, Ziel und Ladung eher nebensächlich.

Söldner ohne Postanschrift

Darstellung des Syrien-Krieges ab 2015 im zentralen Museum der russischen Streitkräfte

Sanya erklärte mir damals, wie diese Gruppe einfach ein vorhandenes Loch füllte. Man brauchte zuverlässige und verschwiegene Soldaten in einem Gebiet, in dem keine Amerikaner agieren. Weite Teile der russischen Armee galten als zu unzuverlässig. Gerade im Zeitalter von Smartphones und geltungssüchtigen jüngeren Soldaten wird es schwierig, jede Bewegung geheim zu halten. Ein weiterer Vorteil der Söldner ist, dass es keine offiziellen Verlustzahlen gibt, keine Einsatzpläne, die in Jahren freigeklagt werden könnten und keine noch so kleine Öffentlichkeit, die ein Anrecht auf Information hat. Doch im Gegensatz zu Academi oder Executive Outcome kennt man von der Wagner Group keinen Standort und keine Webseite. Es ist eine paramilitärische Organisation, welche man nicht wirklich greifen kann. Ansässig irgendwo in Russland, unter der schützenden Hand der russischen Sicherheitsbehörden. Einzig greifbar ist die mit ihnen verknüpfte Slavonic Corps, welche in Hong Kong sitzt und militärische Dienstleistungen anbietet. In den vergangene Jahren weitete die Wagner Group ihr Einsatzgebiet auf Afrika und Südamerika aus.

Während früher vermutet wurde, dass es zwischen Speznas und Wagner eine „Drehtür-Politik“ gibt, mehren sich inzwischen die Stimmen derer, die Vermuten, dass es einfach das Gleiche ist. Zwei Namen für eine Gruppe voller linientreuer Soldaten, welche man weltweit einsetzen kann und welche selber Einnahmen generieren können.

Sanya kennt meine Verbindung zu MH17, behandelt das ganze neutral. Keine Beileidsbekundung für den Verlust, keine Entschuldigung für die Landsleute, aber auch keine Rechtfertigung. Auf meine Fragen, wer, wann und wo in der Ukraine bei was eingesetzt war, bekomme ich keine klaren Antworten. Erst, wenn ich konkreter frage. Den ersten Videos nach war zu vermuten, dass der Flughafen von Donetsk von GRU Speznas, der Spezialeinheit des russischen Militärnachrichtendienstes, eingenommen worden war. Das Szenario und das Vorgehen zeigen genau das, was in das bekannte Vorgehen dieser Einheit passt. Sanya kommentiert das mit den Worten „wer sonst“, was als Bestätigung gewertet werden kann. Nie gibt es ein „Ja“ oder „Nein“, aber immer eine klare Richtung. Meine Vermutung, dass es eine enge Verbindung zwischen Wagner und Speznas, beziehungsweise dem Nachrichtendienst GRU an sich gibt, bestätigt Sanya ebenfalls. Geführt wird Wagner unter anderem von Dmitriy Utkin, welcher selber ukrainischer Staatsbürger war.

Unsere Treffen sind meist zu kurz, um alles zu besprechen. Auch nach Jahren vertrauen wir uns nur bedingt. Die Informationen der jeweils anderen Person haben sich immer als korrekt herausgestellt, scheinbar haben wir nie wegen der jeweils anderen Person Probleme bekommen und wir finden uns immer wieder auf Veranstaltungen. Dennoch bleibt die Verbindung kompliziert.

Die Ukraine wurde alleingelassen

Derzeit sollen mehr als 100.000 russische Soldaten vor der Ukraine stehen, zehntausende auf der Krim und tausende Wagner Group Söldner im Donbas. Die Informationslage ist weiterhin schwierig. Der Plan, so heisst es, sei es den Donbas und Teile der Ukraine bis zum Fluß Dnepr einzunehmen. Nach dem Fall der Sowjetunion wäre so etwas nicht möglich gewesen. Die Ukraine war die drittgrößte Atommacht der Welt. Der Westen versuchte, sie zum Abrüsten zu bewegen. Die ukrainische Regierung hatte Sorge, sich beim Angriff einer Atommacht nicht wehren zu können.

Daher wurde 1994 im Budapester Memorandum vereinbart, dass die Atommächte USA, Großbritannien und Russland für die Sicherheit der Ukraine sorgen, sollte diese mit Atomwaffen bedroht werden. Als Russland 2014 die Krim annektierte, fühlte sich keiner der Unterzeichner zuständig. Schließlich habe es keine explizite Drohung mit Atomwaffen gegeben. Somit müssten die drei Staaten ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Man hat die Ukraine alleine gelassen und sich abgewendet.

Kriegspläne

Wieso also sollte sich die Welt anders verhalten, wenn das „Waggonspiel“, wie Sanya es nennt, durchgeführt wird. Dabei handelt es sich um den Plan, wie die Ukraine genau besetzt werden soll. Russische Schiffe der Flotte des Kaspischen Meeres sollen zunächst zur Krim verlegt werden. Diese sollen dann binnen einer Nacht den Dnepr besetzen. Damit dies reibungslos funktioniert, braucht man Luftlandetruppen wie Speznas, sowie erfahrene, aber linientreue Soldaten am Boden, so wie die Wagner Group. Dann soll der konventionelle Krieg mit Kampfjets, Panzern und Bodentruppen starten.

Doch zuvor müssen auf der Bühne der Welt einige Dinge abgeklärt werden. Die Erdgaspipeline Nord Stream 2, welche russisches Gas in die Europäische Union leitet, soll fertiggestellt sein. Zusätzlich braucht man die Sicherheit, dass die EU-Staaten keine Truppen in die Ukraine schicken und möglichst keine Sanktionen verhängen. Dass der Bau der Pipeline von europäischer Seite nicht gestoppt werden soll, wurde bereits verkündet. Dass man sich nicht auf Sanktionen gegen Russland einigen kann, den Truppenaufmarsch aber verurteile, ebenfalls.

Technisch muss die Krim und der Donbas unabhängig von der Ukraine funktionieren. So muss vor allem die Strom- und Wasserversorgung sichergestellt sein. An beidem wird derzeit mit Hochdruck gebaut. Derzeit vermutet Sanya, dass dies Ende Juli fertiggestellt ist, und das „Waggonspiel“ dann „anrollt“. Andere Quellen gehen vom 08. Mai aus, dem Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges.

Die Rolle des Westens

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass der Westen die Ukraine im Stich lässt, wenn es darauf ankommt. Bei vergangenen NATO Einsätzen sah man, wie langsam und unkoordiniert vieles funktionierte. Die UN-Schutztruppen sahen in Srebrenica und Ruanda einfach bei den Massenmorden zu, halfen den Opfern aber nicht. Ob der Ukraine also jemand zur Hilfe eilen wird, ist eher unklar. Die Einzigen, die immer wieder schnell reagierten, waren die USA, welche dafür wiederum regelmäßig kritisiert wurden.

Aber auch bei diesem Planspiel bleiben viele Fragen offen. Eine davon ist: Welches Ablenkungsmanöver kommt noch, um die Truppen der USA zu binden? Es gibt viele Vermutungen: Die Arktis besetzen, China könnte das Süd-Chinesische Meer einnehmen, man könnte einen Konflikt auf dem Balkan provozieren, der Iran könnte mit seinen Milizen die US-Verbündeten im Irak und Syrien angreifen oder bisher Unbeteiligte könnten die Gelegenheit nutzen, ihre Agenda mit Waffengewalt durchzusetzen.

Um es mit Brechts Worten zusammenzufassen: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen. Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ 

Zuletzt aktualisiert: 07.05.2021

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