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Kharkiv – Alltag an der Front

Ich war nach drei Wochen wieder in der Ukraine und habe an der Front in Charkiw in den Kellergängen die russische Artillerie dröhnen gehört. Als ich in Kyiv war, schlugen ganz in der Nähe die russischen Raketen in Wohnhäusern ein, die UN-Generalsekretär António Guterres begrüßen sollten, der tags zuvor mit Putin in Moskau über humanitäre Hilfe gesprochen hatte. Es ging mir darum, mit eigenen Augen zu sehen und mit Menschen darüber zu sprechen, wie sich die Lage entwickelt.

Antrieb einer russischen Rakete in Charkiv

Zwei Monate nach Kriegsbeginn, rund einen Monat nach unserer letzten Reise, sieht die Ukraine überraschend anders aus. Das Wetter ist besser und selbst in Kyiv und Charkiw kehren die Menschen auf die Straße und in die Parks zurück. Man kann trotz des Krieges in weiten Teilen sicher über die Autobahn fahren, in Hotels wohnen, das Internet nutzen und ab und zu Streetfood probieren. Ein Land im Krieg ist oft anders, als man in Deutschland meint. Der Krieg ist nicht überall gleichzeitig in gleichem Maße präsent. Der Plan Russlands war es, das ukrainische Volk, dessen Kultur und das ganze Land zu vernichten. Das ist ganz offensichtlich gescheitert. Sie haben Leid und Tote produziert, ganze Städte in Schutt und Asche gelegt – aber das Leben geht weiter und das Land geht nicht unter. Im Gegenteil: Die Ukrainer stehen enger zusammen als jemals zuvor, als jemals erwartet. 

Kaffee und Kuchen in Charkiw

Da man weiterhin nicht in die Ukraine fliegen kann, reisen derzeit alle auf der Straße oder Schiene ein. Der Stau an der polnisch-ukrainischen Grenze war mehrere Kilometer lang. Die Fahrzeuge werden immer in Gruppen in die Grenzanlage gelassen, bis alle Spuren voll sind. Es gibt eine extra Spur für Rettungsdienst, diplomatische Fahrzeuge und Presse. Dadurch blieb uns eine stundenlange Wartezeit erspart und wir hatten die polnische Aus- und die ukrainische Einreise in 25 Minuten bewältigt. Nach dem Überqueren der Grenze werden die Satellitentracker aktiviert, damit das Büro zu Hause auch beim Ausfall des Handynetzes sehen kann, wo man sich befindet. Auf dem Handy aktiviert man in der Warn-App für Luftangriffe die aktuelle Region, dann geht es weiter. 

Stau vor der polnisch-ukrainischen Grenze
Stau vor der polnisch-ukrainischen Grenze Richtung Ukraine

Erste Station nach der langen Autofahrt von Berlin durch Polen ist Lviv/Lemberg. Nur wenige Tage zuvor war ein Gebäude in Lviv von einer Rakete getroffen worden. Bei der Fahrt zum Hotel erinnert es einen daran, dass es auch im vermeintlich ruhigen Westen des Landes gefährlich werden kann. Die Explosion schleuderte Backsteine 100 Meter weit. Wir sehen sie. Sie liegen immer noch überall herum.

Zerstörte Gebäude in Lviv

Im vor drei Wochen noch voll ausgebuchten Journalistenhotel in Lviv herrschte gähnende Leere. Auf die Frage, wo alle seien, sagt Mitarbeiterin Anna: „Im Osten. Kyiv ist wieder sicher, da sind fast alle außer der Typ von BILD und CNN, die senden wahrscheinlich live von unter dem Stahlwerk.“  Gemeint ist, dass sowohl Bild-Vize Paul Ronzheimer, als auch die CNN Teams bekannt dafür sind, als erste und aus den gefährlichsten umkämpften Gebieten zu berichten. Derzeit wird das Azovstal-Stahlwerk in Mariupol von der russischen Armee belagert. Unter dem Stahlwerk befindet sich ein riesiger Bunkerkomplex aus der Zeit des Kalten Krieges, in dem sich Tausende Menschen verstecken. Das Lazarett im Stahlwerk wurde von den Russen gezielt bombardiert. Vermutlich werden die Eingeschlossenen sterben. 

Auf dem Weg Richtung Osten kommen wir an Friedhöfen vorbei, die einfach zu klein geworden sind. Beerdigungen finden in einem Park statt, der an einen Friedhof angrenzt. Die Grabreihen werden einfach hinter der Friedhofsmauer fortgeführt. Außerhalb der Stadt sehen wir einen neuen Friedhof, der auf einer Fläche zwischen bewirtschafteten Feldern unter Bäumen angelegt wurde. 

Da die orthodoxen Christen Ostern eine Woche später feiern als die römische Kirche, sind an diesem Wochenende die Straßen voller Menschen mit Körben voller Blumen. Auf den Plätze vor den Kirchen treffen sich die Gläubigen. Es ist Frühlingsanfang. Erste Blumen blühen auf den Wiesen. Junge Menschen stehen in der Sonne zusammen, lachen und unterhalten sich. Die Straßen sind dagegen relativ leer. Teilweise handelt es sich um neu gebaute breite Autobahnen, teilweise um löcherige Landstraßen, die man sich mit Traktoren teilt. Immer wieder trifft man auf kleine Militär-Konvois: Richtung Osten. Panzer werden auf Tiefladern transportiert und Versorgungsfahrzeuge liefern Material an die Front. Ab und zu halten wir kurz in einem Checkpoint der Armee. Die Soldatinnen und Soldaten sind höflich und zügig. Man gewöhnt sich schnell an die kurzen Kontrollen.

Beschädigter gepanzerter Land Cruiser
Beschädigter gepanzerter Land Cruiser

Vor Kiev werden die Kontrollen strenger, wodurch teilweise hunderte Meter lange Staus entstehen. Man fährt weiterhin durch mehrere hintereinanderliegende Verteidigungsringe, die in Erwartung des Großangriffs aufgebaut worden waren. Im großen Journalistenhotel treffen wir auf viele neue Gesichter. In den vergangenen drei Wochen, seitdem Kyiv sicher ist, kamen hier auch mehr deutsche Nachrichtenteams an. Die Teams, die bis dahin durchgehend vor Ort waren, sind weiter nach Osten gegangen oder nutzen das Hotel nur noch als Ausgangspunkt für die Fahrten Richtung Osten, zur Front. Auf dem Parkplatz steht ein gepanzertes Fahrzeug, das bei Charkiw durch Schrapnelle beschädigt worden ist: Eine Mahnung an alle, die schnell unvorsichtig werden. 

Die Frage, wo man welche Fahrzeuge herbekommt, ist weiterhin allgegenwärtig. Die britischen und amerikanischen Teams setzen auf gepanzerte, zertifizierte Fahrzeuge. Deutsche Medien scheinen diese nicht zu haben. So entstehen schnell Gespräche zu unserem Fahrzeug und den Vor- und Nachteilen. Der Vorteil ist die Sicherheit. Ein klarer Nachteil ist der Verbrauch und das Gewicht. Ein gepanzerter Land Cruiser wiegt rund fünf Tonnen, den sicheren Umgang sollte man in entsprechenden Kursen lernen

Aber selbst normale PKW sind immer wieder Mangelware. Viele Autovermietungen haben geschlossen oder erlauben keine Fahrten in die Gebiete, in welche die Journalisten wollen. Im Hotel tummeln sich daher auch Verkäufer und Vermieter gepanzerter Fahrzeuge und anderer Sicherheitsdienstleistungen, wie mein Reisepartner Fidelis Cloer. Er kennt viele der Journalistenteams aus anderen Kriegsgebieten. 

Geschlossene Türen während der Ausgangssperre
Geschlossene Türen während der Ausgangssperre

Von 21 bis 6 Uhr herrscht in Kyiv Ausgangssperre. Die Ausgangssperre führt auch dazu, dass in die vielen vorübergehend verlassenen Wohnungen der Geflüchteten nicht eingebrochen wird. Während dieser langen Zeit sitzen viele der Hotelgäste zusammen, unterhalten sich über vergangene gemeinsame Erlebnisse und darüber, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Journalistenhotels sind auch eine Informationsbörse.

Zerstörte Tankstelle auf dem Highway E40 vor Kyiv

Ein häufiges Ziel der Teams ist Charkiw im Osten, an der russischen Grenze. Die Stadt wird seit Wochen von der russischen Armee angegriffen. Westliche Berater vor Ort vermuten, dass es hierbei nicht darum geht, die Stadt wirklich einzunehmen, sondern darum, ukrainische Kräfte zu binden. 

Die Straßen Richtung Charkiw werden leerer, je weiter man nach Osten kommt. Stellenweise ist die ganze Autobahn gesperrt. An einer Stelle wurde eine Brücke zerstört und man muss den kleinen Fluß über eine improvisierte Überfahrt überqueren. Es gibt auf dem gesamten Weg Internet, Benzin und Tankstellen-Shops. Die Orte, die man durchfährt, sind belebt. Geschäfte haben geöffnet, Menschen stehen Schlange, um ihre Autos zu waschen. In den Parks spielen Menschen mit ihren Hunden. Nirgends ist es richtig voll, aber überall gibt es belebte Straßen. Unterwegs ziehen wir die Schutzwesten an, legen Helme und Erste Hilfe Kits griffbereit. Niemand will hier paranoid wirken, aber alle haben Sorge vor der russischen Artillerie und den Raketen.

Streetfood in Charkiv
Streetfood in Charkiw

Je dichter man der Front kommt, desto zahlreicher und größere werden die Checkpoints. Teilweise ziehen sich die improvisierten Stellungen über mehr als 50 Meter. Es gibt Zeichen und Codewörter, mit denen sich die Einheimischen an den Checkpoints identifizieren und schneller durchkommen. Für Fremde dauert es aber auch nie besonders lang. Auch in Charkiw sind die Straßen belebt. Fast alles sieht auf den ersten Blick intakt aus. Während der Einfahrt in die Stadt bis zur Stadtmitte muss man die zerstörten Häuser einzeln identifizieren. Die völlig durch Raketen und Artillerie zerstörten Stadtteile liegen im Norden Charkiws. An der „Brücke der Liebenden“ steht ein kleiner Streetfood-Markt, an dem man frischen Kaffee, Bagels, Bier und Saft bekommt. Davor strahlen zwei gewaschene und polierte Motorräder in der Abendsonne. Daneben trinken einige junge Leute mit Soldaten in Schutzweste und Sturmgewehr ihren Kaffee. Im Hintergrund grollt die Artillerie. Die Front liegt nur wenige Kilometer weit entfernt. 

Beschädigtes Gebäude in Charkiv
Beschädigtes Gebäude in Charkiw

Das Verwaltungsgebäude in der Stadtmitte wurde getroffen, andere Gebäude in der Gegend ebenfalls. Im Internet ging das Foto einer Rakete herum, die auf dem Marktplatz steckt und nicht explodiert ist. Bei näherer Betrachtung handelt es sich jedoch um eine Kunstinstallation, welche von den Menschen vor Ort auch gar nicht als echter Einschlag angepriesen wird: Ein Teil einer echten Rakete auf einem Standfuß. Diese soll auch in Zukunft die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und an den Schrecken erinnern. 

Nebenan ist eine Postfiliale geöffnet, Menschen bringen Pakete und holen welche ab. „Das ist ganz einfach. Ein Paket von Lviv nach Charkiw braucht derzeit zwei Tage. Die Post ruft an, wenn es da ist.“ Erklärt eine junge Frau. Die Menschen haben Angst vor dem Krieg, sind aber auch abgestumpft und erschöpft. Irgendwann nimmt man das Grollen der Artillerie nicht mehr wahr. Man reagiert, durch Schlafentzug entkräftet und gewissermaßen apathisch, nicht mehr auf den Luftalarm. Man sitzt einfach mit seinem Kaffee in der Sonne und wartet. 

An der Brücke der Liebenden unterhalten sich die Menschen über Ihren Alltag. Wer ist bereits weg und wohin? Nur bis Kyiv, bis Lviv oder gar nach Polen oder Deutschland? Und was berichten die Leute von dort? Oft sollen die Einheimischen, in der Heimat gebliebenen, gucken, ob die Häuser der Geflohenen noch stehen. Ab und zu sollen sie auch etwas aus der Wohnung holen und in die neue, temporäre Heimat schicken. Umgekehrt erhalten Sie Post mit Dingen, welche sie gerade brauchen, die aber derzeit schwer zu bekommen sind. Dazu zählen auch spezielle medizinische Utensilien, bestimmte Kontaktlinsenflüssigkeiten oder einfach Souvenirs aus den Aufenthaltsorten der Freunde.

Eine Kellnerin erzählt uns, dass sie heute Geburtstag hat und neunzehn geworden ist. Wir gratulieren und bedauern, dass sie an so einem Tag arbeiten muss. „Meine ganze Familie ist weg. Ich bin froh zu arbeiten, dann habe ich wenigstens Menschen um mich rum. Seid ihr heute Abend auch zum Buffet da?“ – fragt sie uns. Wir verneinen, da wir weiter müssen. Aber es stimmt einen nachdenklich. Sie erzählt das Fremden und sucht offensichtlich auch Anschluss am Abend. Es muss schwer sein, so jung so alleine in einer solchen Gegend zu sein. 

Ein traurigeres Thema ist die Frage, wer gestorben ist. „Es sind so viele. Irgendwann nimmt man es nur noch wahr, aber man weint nicht mal mehr“, erklärt ein junger Freiwilliger der „territorial defence“, der seit einem Monat im Einsatz ist und davor eine Woche angelernt wurde. Er führt zum Beispiel einfache Fahrzeugkontrollen durch oder besetzt einen der Aussichtsposten, um das umgebende Gelände zu überwachen. Menschen wie er sind durch den Freundeskreis immer gut informiert und können schnell Kontakt zu anderen Soldaten herstellen, wenn man Fragen hat. Die Menschen hier helfen einem gerne und freuen sich, wenn man ihnen Fragen stellt. 

zerstörtes Geschäft in Charkiv
Zerstörtes Geschäft in Charkiv

Doch während die Front aus deutscher Sicht immer etwas nicht richtig greifbares ist, was weit weg ist, so ist es hier ein anderer Stadtteil etwa 15 Autominuten entfernt. Bei all der Sonne und dem einfachen Straßenleben vergisst man das nicht. Es ist bizarr zu überlegen, ob man den Cappuccino mit Vanille- oder Caramelaroma haben möchte, während man eine schusssichere Weste trägt, Helm und Erste-Hilfe-Kit am Gürtel hat und mehrere Torniquets in den Taschen, an der Weste und am Rucksack. Bei Torniquets handelt es sich um eine Art Gürtel, mit dem man Arme und Beine mit schweren Schussverletzungen abbinden kann, um einen starken Blutverlust zu stoppen. Bei einem Treffer in eine der großen Adern hat man circa eine Minute Zeit, sich selber zu versorgen und etwa zwei bis drei, um eine andere, bis dahin inzwischen bewusstlose Person zu retten. Also muss man mehrere zur Hand haben und diese schnell einsetzen können. Man ist hier in Reichweite von Artillerie, Marschflugkörpern und Kampfjets. Es ist völlig anders, als 20, 50 oder gar 100 Kilometer weiter. Es ist auch psychisch anstrengender, da man weiß, viel schneller reagieren zu müssen.

Dass man sich in Charkiw weiterhin relativ sicher und dauerhaft bewegen kann, erkennt man an den vielen Reportern vor Ort, die teilweise durchgehend seit einem Monat anwesend sind. Auch hier gibt es Journalistenhotels, diese sind aber ausgelastet. „Wir haben da noch was, glaube ich“, sagt uns eine Kollegin. „Aber das ist ein bisschen kompliziert. Also ihr dürft später nicht sagen, wo ihr genau untergebracht wart, da der Ort nicht bekannt werden soll. Das Gebäude sieht von außen leer aus. Der Eindruck soll erhalten bleiben.“ Unser Weg führt zu einem großen und unscheinbaren Gebäude in einer Straße, in dem scheinbar alle Geschäfte, Büros und Wohnhäuser verlassen wurden. Durch einen Nebeneingang, durch einen Keller, geht es in Versorgungsgänge von denen weitere Räume abzweigen. „Also, hier ist noch genug Platz. Hier wohnen Leute, die vorher in den umliegenden Geschäften gearbeitet haben. Es gibt Essen. Dort befinden sich die Duschen und dahinten einen Hund, falls ihr in streicheln wollt.“ Ein Mann ergänzt: „Und es gibt guten Kaffee!“ Tatsächlich, mitten auf dem Flur steht ein moderner Kaffeevollautomat, der alle Wünsche erfüllt und von der Größe her auch eine ganze Büroetage versorgen könnte. Alleine dieser Anblick, die Geschichten der Leute hier, diese ganzen Eindrücke wären einen TV-Beitrag der Nachrichtensender wert. Aber es ist aus guten Gründen nicht gewünscht.

Auch hier tief im Keller hört man die ganze Zeit die russische Artillerie. Ab und zu gibt es zusätzlich Luftalarm, der vor anfliegenden Raketen warnt. All das ist zermürbend und kaum sinnvoll in Worte zu fassen. Im ganzen Land, aber vor allem im Osten, schläft man schlecht. Mehrmals in der Nacht wird man von den Sirenen geweckt und muss entscheiden, ob man den Alarm ernst nehmen will oder nicht. In Charkiw schlafen viele der Leute um uns herum in Kleidung – Schuhe, Weste und Helm griffbereit. Man gewöhnt sich dran und dennoch ist es unbequem. Man wacht in verschwitzten, stinkenden Sachen auf, duscht sich ganz schnell, um nicht gleich im Bademantel und mit Schaum in den Haaren vor den Raketen wegrennen zu müssen. In einem Slapstick-Film wäre das eine lustige Szene, im echten Leben ist es das leider nicht. Einer der Anwesenden berichtet, dass vor wenigen Tagen eine Person einen Splitter von einer Artilleriegranate ins Auge bekommen hat und am Ende an dieser Verletzung gestorben ist. Einer der Fälle, in denen einem Weste und Helm nichts weiter nützt. Um solche Menschen zu versorgen, ist der Rettungsdienst hier ständig im Einsatz. Clarissa Ward von CNN begleitete eines der sehr jungen Teams und geriet dabei selbst in Lebensgefahr.

CNN begleitet die Retter
CNN begleitet die Retter

Die Menschen hier blicken mit Sorge auf die Situation im Azovstal-Stahlwerk. Auch dort zogen sich Menschen in den Untergrund zurück, um vor den Angriffen sicher zu sein. Auch dort war es eine Weile lang sicher. Auch dort wollten sie nicht weg. Und dann wurde ihre sichere Unterkunft zur Falle, aus der sie nicht mehr rauskamen. Was, wenn man schläft, die russische Armee die Stadt überfällt und man auf einmal inmitten der russischen Armee aufwacht? Oder wenn die Stadt belagert wird und man hier festhängt? Eine Weile lang kann man noch das Wasser aus den Leitungen und Heizungen trinken, aber dann wird es knapp. Und kapitulieren oder sich ergeben funktioniert nicht. „Wenn wir nicht aufpassen, werden wir gefesselt und ermordet wie die Leute in Butscha. Aber ich wohne hier. Das ist mein Zuhause. Ich kann doch nicht einfach Flüchtling werden und mein Leben aufgeben?!“ sagt ein Mann, der den Tränen nahe ist. Eine wirkliche Antwort erwartet er nicht. Er musste es nur loswerden.

Weiter im Süden berichtet eine alte Frau dem Journalisten Paul Ronzheimer, „Wo soll ich hin? Ich bin alt und krank, niemand braucht mich. Wenn mein Dorf von den Russen eingenommen wird, schlucke ich einfach mein Gift.“ Die Geschichten sind hier überall gleich schlimm.

Wir müssen uns auch fragen, wie sinnvoll und wie gefährlich unser Aufenthalt hier ist. In den zwei Kriegsmonaten wurden 243 Verbrechen der russischen Armee gegen Journalisten registriert. Wir wären in so einem Fall genau so wenig sicher. Wir verbringen die Nacht mit wenig Schlaf und häufigem Aufwachen. Mal ist es ein Luftalarm, mal der Lärm der Artillerie und manchmal einfach irgend ein Geräusch, welches einen Aufschrecken lässt. 

Verpackte Statuen in Kyiv
Verpackte Statuen in Kyiv

Zurück in Kyiv fühlt man sich seit Wochen sicher. Trügerische Sicherheit? Die Experten sind unterschiedlicher Meinung. Ab und zu heulen die Sirenen, weil Raketen grob in diese Richtung fliegen könnten, in den Oblast Kyiv, aber es passiert in der Stadt nie etwas. Die Menschen verlassen nicht mal mehr den Balkon, wenn es Luftalarm gibt. Doch an diesem Abend ist es anders. Kurz vor der Ausgangssperre stehen viele Gäste vorm Hotel, genießen den Frühlingsabend, unterhalten sich, machen Fotos vor den sicher verpackten Statuen vor der Kirche. Der UN-Generalsekretär António Guterres ist in der Stadt, niemand erwartet, dass etwas Relevantes passiert, bis er die Ukraine verlassen hat.

Einige Handys spielen das Sirenengeräusch ab: Es gibt wieder einen Luftalarm. Viele haben die App bereits deinstalliert. „Die weckt einen nur noch mehr, ich geh eh nicht in den Keller“, sagt sogar ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes. Es folgt der Luftalarm per Sirene und per Läutwerk der Kirche. Doch einige Minuten später folgt ein lauter Knall. Dann herrschte plötzlich Ruhe. Weiter weg hört man erschrockene Schreie. Allen geht vermutlich das Gleiche durch den Kopf: Sekunden zwischen den Echos zählen, nochmal an den Knall erinnern und versuchen die Ausbreitungsgeschwindigkeit zu erkennen. Diese Werte macht den Unterschied zwischen einem geplatzten Reifen bzw. einem Böller (breitet sich langsamer und nicht so weit aus) und einer relevanten Explosion (breitet sich schneller und weiter aus) aus. In die Ruhe sagt ein Journalist: „Boar. Noch so ein Knall und Ich überlege die Weste zu holen!“ – ein paar andere lachen, andere rennen los – nicht um die Schutzausrüstung zu holen, sondern die Kamera. Das Schlimmste, was einem Journalisten passieren kann, ist, dass er keine Story hat. Das Zweitschlimmste ist, dass er stirbt. Die Routine und der Galgenhumor lassen die Leute all das aushalten.

Aus dem Handy eines Kollegen schreien kurz später Kinder in Todesangst, die diese Routine nicht haben. Er hat binnen Sekunden ein Video aus einer anderen Ecke Kyivs erhalten. Weitere solche Videos gehen am Abend herum, alle haben es gesehen. Untereinander necken sich Journalisten durchaus, wenn sich die anderen erschreckend oder sie machen Witze übereinander. Bei so einem Video nicht. Es macht alle betroffen. Es zeigt die Opfer des Krieges, die nicht einfach weg können und die von diesen Erlebnissen traumatisiert werden.

„Man müsste da eigentlich hin und mit den Kindern drüber sprechen, das der Welt zeigen. Aber wir können ja schlecht hin und sagen ‚Hey, wie ist das eigentlich, wenn du Angst um dein Leben hast‘“. Erklärt ein Kollege. Ein anderer zeigt die Bilder von einer dreijährigen, die er getroffen hat, und die Stolz ihre Katze der Weltpresse präsentiert, während sie neben einem zerstörten Panzer spielt.  

Obwohl die Ausgangssperre beginnt, brechen die Teams zur Unglücksstelle auf. Mehrere russische Marschflugkörper haben Kyiv und die Umgebung erwischt, eine traf ein Wohnhaus mitten in der Stadt. In solchen Situationen wird akzeptiert, dass Journalisten über die Ausgangssperre hinaus in der Stadt unterwegs sind, solange sie dann vom Einsatzort auf dem kürzesten Wege zur Unterkunft fahren.  

Am nächsten Morgen erfahren wir, dass unser aller Kollegin Vira Hyrytsch bei dem Einschlag getötet wurde. Eine weitere Zeile auf der Liste der Getöteten. Eine weitere Familie und ein weiterer Freundeskreis, der leiden muss, ein weiteres Leben unsinnig beendet. Und alle werden ein weiteres Mal daran erinnert, dass die Arbeit hier sehr, sehr gefährlich ist. Selbst im „sicheren“ Kyiv. 

In der Journalistenschule und im Volontariat lernt man vieles. Aber man lernt eigentlich nichts für diesen Einsatz. Die Todesangst, die langen langweiligen Autofahrten, die Alpträume und das kalte und schnelle Duschen. Gerade der theoretisch erlernte Punkt der journalistischen Neutralität bleibt irgendwann einfach auf der Strecke. Christiane Amanpour prägte den Satz „Truthfull, not neutral“ – „Wahrheitsgemäß, nicht neutral“ zu berichten. Und das trifft es gut. Wie soll man neutral über den Mord an einer Kollegin berichten? Über einen Menschen, dessen verblichene Existenz sich einreiht in die lange Liste getötete Kolleginnen, Bekannter und Freundinnen – der Leute, die man beim Frühstück nicht mehr sieht und deren Koffer Nachts vom Sicherheitsteam in einen Kurierwagen in der Garage gebracht werden, damit man sie sicherstellt und die Familie sie erhält. Der Hass auf die russische Armee wird größer und offener. Es fällt den Menschen hier schwerer, sie zurückzuhalten. Und welchen Grund sollte man haben, diese Gefühle zu verbergen? Man ist kein Roboter. Man steht Monstern gegenüber, die sich an keine Konvention halten und täglich Kriegsverbrechen begehen. Warum sollte man diesen gegenüber Höflichkeitsfloskeln berücksichtigen? Man lässt es irgendwann.

Schießbude im Park in Lviv
Schießbude im Park in Lviv

Die russische Armee ermordet weiterhin Menschen, unsere Bundesregierung zahlt weiter Geld an die Mörder und es werden weiterhin Städte und ganze Landstriche zerstört. Doch auch nach so einem Abend geht am nächsten Morgen die Sonne über der Ukraine auf. Die Menschen gehen weiter in den Park, machen Musik, tanzen, trinken ihren Kaffee und spielen mit den Hunden. Sie gehen in die Kirche, in Vereine, zur Arbeit und zum Ehrenamt und feiern ihre traditionellen Feste genauso wie Partys in den Clubs. Die Kultur entwickelt sich weiter und die Kunstwerke sind gut geschützt hinter den Sandsäcken. Das Leben geht weiter. Russland hat sein Ziel verfehlt, genau dieses Leben zu zerstören. 

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