Man macht Twitter auf und schon beschwert sich jemand: Im Klamottengeschäft gab es die eigene Größe nicht. Diskriminierung! Klar, in der gleichen Mall gäbe es einen Laden mit der gewünschten Größe oder bei Amazon oder einfach woanders in der Stadt. Aber es muss hier sein. Jemand anderes beschwert sich, dass es im Supermarkt keine vegane Biomilch gibt. Jemand anderes regt sich furchtbar auf, weil er oder sie in einer E-Mail mit dem falschen Geschlecht angesprochen worden war. Passiert, irgendwie ein bisschen doof. Aber ist das echt so schlimm, dass man sich den Tag davon verderben lassen will? Wie ich lerne: „Ja. Oder soll ich mich jetzt immer in eine Geschlechterrolle fügen und neue Klamotten kaufen, nur weil jemand meinen Namen nicht kennt?“.
Aus der Außensicht hat das alles etwas von einem Irrenhaus. Es ist ein Wettbewerb, wer mehr Gründe findet, sich selber den Tag zu vermiesen. Und jede Kleinigkeit muss eine Diskriminierung, Zensur oder schlimmeres sein. Die Skala ist nach oben offen. Inzwischen wird schon von Zensur gesprochen, wenn Facebook eine Seite sperrt. Die Leute haben also nichtmal mehr Zugang zu einem Wörterbuch. Traurig. Und diese extrem wichtigen Begriffe werden dadurch völlig abgenutzt und nicht mehr ernst genommen. Das ist eine noch traurigere Entwicklung.
Ich bin derzeit in einem Bildungszentrum neben einem jesidischen Flüchtlingscamp in Kurdistan-Irak. Die Leute hier freuen sich. Die Sonne scheint, die Kinder spielen und die Schafe prügeln sich mit der Mülltonne. Ich frage, ob es Probleme gibt. Ein älterer Mann sagt mir, dass ihn Rückenschmerzen plagen. Das ist alles. Die Kinder sind auch immer gut gelaunt. Viele lernen schon im Grundschulalter Englisch. Ich überlege eine Hotline einzurichten, welche berufsempörte Deutsche anrufen können, um einem der Campkinder ihr Herz auszuschütten. Die Kinder lernen dann direkt, wie schlecht es in anderen Teilen der Welt ist und können hilfreiche Tipps geben wie: „Dann geh doch zum nächsten Geschäft“. Es ist beeindruckend, wie viel schlauer die Kinder hier im Vergleich zu deutschen Berufsempörten sind.
Das kann man nicht vergleichen
Erkläre ich den meckernden Menschen, wie es in einem Camp aussieht und wie man dort den Alltag verbringt, so reagieren sie sauer. Sie erklären, dass es darum ja nicht ginge und dass man das auch gar nicht vergleichen könne. Nanu? Ich dachte, es ginge um Diskriminierung. Und wenn einen eine Terrormiliz aus seiner Heimat vertrieben und die Familie getötet hat, dann wäre Diskrimierung doch der mindeste Begriff, den man verwenden dürfte. Die simple Erklärung ist: Das sei da halt normal, das sei etwas anderes.
Ok, der Argumentation folgend könnte man auch sagen, dass es normal sei, dass es bei H&M nur Mode für Menschen mit einem BMI unter 10 gibt. Das Argument gilt jedoch nicht, weil… naja… meist endet die Diskussion dort einfach. Gerne mit einem noch beleidigteren Hinweis darauf, dass ich das Leid der anderen ja gar nicht wahrnehme und verstehe. Hier geht es nicht um triviale Dinge, wie die Familie verlieren, sondern um die Ausstattung spezifischer Geschäfte in den Malls!
Nachrichten machen schlechte Laune
Ein weiterer Diskussionsstrang ist häufig: „Weiss ich nichts von. Ich lese keine Nachrichten. Das macht mir schlechte Laune!“. Den Nachrichten nicht folgen zu müssen, ist auch ein unreflektiertes Privileg. So kann man die Augen vor der Mehrheit der Welt verschließen, die mit ihrem Leben zweiter Klasse halt klar kommen sollen. Aber dann ist den Berufsempörten wieder so langweilig, dass sie sich Gründe ausdenken, über die sie sich aufregen können. Also sind sie wieder unglücklich. So ganz scheint der Plan also nicht zu funktionieren.
Man könnte ja auch einen anderen Ansatz verfolgen und das Leben derer, die nun schlecht leben, besser machen. Das geht. Ganz praktisch und ganz einfach. Und ganz individuell. Man könnte einfach alles Einkommen spenden, welches man nicht braucht und nur noch Leitungswasser trinken und Reis essen. Und natürlich keinen Fernseher oder ähnliches haben. Und man würde immer noch besser leben, als zwei Drittel der Weltbevölkerung. Aber auch so Vorschläge werden als lächerlich abgetan. Wer möchte denn im obersten Drittel der Welt leben, wenn er zu den Top 10 Prozent gehören kann? Daher ist es auch für den Rest der Welt unterhaltsam, wenn die oberen 10 % der Welt gegen das obere eine Prozent der Welt demonstrieren und das mit ihren 1.000,-€-Smartphones streamen. Also mit Geräten, die so teuer sind, dass man in vielen Gegenden der Welt drei Jahre davon leben könnte.
Aber Stopp! Ich rede ja wieder von den Anderen. Denen zweiter Klasse, die in unserer Betrachtung nicht zählen und nichts wert sind. Ich soll doch bei den oberen 10 % bleiben, die im ganzen Leben keinen Krieg erlebt haben, die kostenlosen Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung, Wohnung, Strom und Wasser haben. Genau die, die beim Lesen dieser Zeilen wieder den nächsten Tweet in den Fingern haben mit „ACHJA!?!=!=! Kostenlos!?!!?! Und was ist mit den Steuern, die..ähh… halt im Zweifel andere zahlen, wenn ich es nicht…fuck.. falsch argumentiert…“.
Manche werden auch sagen, dass ich mit meinem blöden Argument jede wichtige Gesellschaftskritik in der ersten Welt für unwichtig erkläre. Nun, wenn man den Unterschied zwischen Kritik und Berufsempörten nicht mehr sehen kann, dann sollte man sich einfach auf Twitter über mich und meinen blöden Artikel beschweren.
Zensur!
Und Zensur… naja… das ist, wenn der Staat euch durchgehend an der Meinungsäußerung hindert. Bei euch ist es anders: Euch will niemand zuhören. Das kann man auch frei mit „Fack ju Göthe“ so ausdrücken: Wenn niemand deinen Tweet lesen will, dann ist es ein Scheißtweet.
Das hat nichts mit Zensur zu tun. Und wenn eine Facebook Seite gesperrt wurde: Mach halt eine Homepage auf, Druck eine Zeitung, ruf es über den Marktplatz. Willkommen in der Demokratie.
Und nun?
Am Ende haben wir also Leute, die meinen, sich gegen Zensur und schlimmste Diskriminierung zu stellen und die Welt dabei selber in zwei Klassen teilen. „Uns“, die wir für Gerechtigkeit in Shoppingmalls kämpfen und „die“, die in den Kriegsgebieten die Fresse halten sollen, weil man sie nicht sehen will, weil es einem beim Latte Macciato schlechte Laune bereitet.
Ein Kommentar