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Israels blutiger Frühling – Chroniken des Terrors II

Malte Ian Lauterbach berichtet in seiner Serie „Spuren des Terrors“ über die Leben und Geschichten der Opfer der letzten Terroranschläge in Israel und informiert über die Lage vor Ort. Innerhalb der ersten zehn Wochen des Jahres kommen bei Terroranschlägen mehr als 10 Leute ums Leben. Quasi täglich kommt es zu Gefechten zwischen islamischen Milizen und der israelischen Armee im Westjordanland und regelmäßig heulen in Städten im Süden des Landes die Sirenen, Menschen strömen in Massen die Bunker, wenn wieder Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert werden. Im ganzen Landen gibt es massive Proteste gegen die rechte Regierung unter Ministerpräsident Netanyahu. Frieden im Nahen Osten scheint unmöglich zu sein, so ist der Konsens auf den Straßen.

Die Opfer des Anschlags in Jerusalem. Quelle: IDF, bearbeitet durch den Autor.

Freitag, 27.01.2023
Ein lauwarmer Wind weht durch die ruhigen Straßen von Neve Yaakov, einem kleinen jüdischen Stadtteil von Ostjerusalem. Hier leben etwa 20 000 Einwohner, hauptsächlich orthodoxe Juden. Entlang der vielen, kleinen Straßen reihen sich eine Vielzahl von koscheren Geschäften, Restaurants, ein Gemeindezentrum und mehrere Schulen und Synagogen. Es ist ein friedlicher Freitagabend, Schabbat und auf den Straßen sind die meisten Leute zu Fuß unterwegs. Die Uhr schlägt 08:13, und plötzlich zerreißen Schüsse die Ruhe und den Frieden des Abends.
Plötzlich herrscht Chaos, während die Menschen in Deckung rennen und versuchen, den Kugeln des Schützen zu entkommen.

Für die Anwesenden laufen die nächsten Minuten wie in Zeitlupe ab, berichten die Überlebenden später. Aus einem fahrenden Auto eröffnet ein junger Palästinenser mit einer Pistole das Feuer auf Passanten. Noch bevor das Auto überhaupt komplett zum Stehen gekommen ist, treffen tödliche Schüsse Irina Kolkova, eine 56 Jahre alte Ukrainerin, die in Israel als Pflegekraft arbeitete.
Kurz danach treffen tödliche Schüsse den 68 Jahre alten Shaul Hai, der gerade auf dem Weg zu einer naheliegenden Synagoge war. Der junge Täter verlässt sein Auto, schießt danach weiter ungezielt auf die fliehenden Passanten vor der Synagoge.

Eli Mizrahi (48 Jahre alt) und seine Frau Natali (46) sind gerade am Abendessen mit Eli’s Vater Shimon, als der Klang der Schüsse plötzlich durch die Nachbarschaft hallt, während der Angreifer seinen tödlichen Angriff weiterführt. Die beiden springen auf, um den Verwundeten zu helfen, Eli Mizrahi versucht den Schützen aufzuhalten, spricht ihn direkt an, zögert die Angriffe zumindest für eine kurze Zeit heraus, gibt mindestens eine kleine Chance für die Passanten sich zu verstecken oder zu flüchten. Zwei weitere Schüsse hallen durch die Straße und Eli’s Vater muss dabei zuschauen, wie sein Sohn und seine Schwiegertochter von dem Schützen erschossen werden. Die beiden waren erst für zwei Jahre verheiratet. Noch bevor die ersten Krankenwagen und die Polizei am Tatort auftauchen, flüchtet der Schütze mit seinem Auto vom Tatort, wird wenig später von der Polizei gestellt und stirbt dann in einem Feuergefecht, nach dem er das Feuer auf einen Polizisten eröffnet.

Am nächsten ist die traurige Bilanz 7 Tote und 3 Schwerverletzte, der schlimmste Anschlag in Israel seit mehr als einer Dekade. Noch heute liegt einer von ihnen im Koma. Polizeipräsident Shabtai bezeichnet am selbigen Tag den Anschlag „einen der schlimmsten Anschläge, die Israel seit Jahren erlebt hat“. Auch Premierminister Benjamin Netanjahu spricht von „einem der schlimmsten Anschläge, die wir seit Jahren erlebt haben“. Aus der ganzen Welt kommen Kondolenzsprüche, der britische Botschafter in Israel, Neil Wigan, wendet sich direkt nach den Anschlägen auf Twitter an die ganze Welt. „Ich bin entsetzt über die Berichte über den schrecklichen Anschlag in Neve Yaakov heute Abend. Ein Angriff auf Gläubige in einer Synagoge am Erev Schabat ist ein besonders schrecklicher Terroranschlag. Das Vereinigte Königreich steht an der Seite Israels“. Die französische Botschaft in Israel twitterte, der Vorfall sei „umso verabscheuungswürdiger, als er an diesem Tag des internationalen Gedenkens an den Holocaust begangen wurde“.

Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, verurteilte den tödlichen Anschlag vom Freitag, wie sein Sprecher sagte. „Es ist besonders verabscheuungswürdig, dass der Anschlag an einem Ort der Verehrung stattfand, und das ausgerechnet an dem Tag, an dem wir den internationalen Holocaust-Gedenktag begehen“, sagte er. Auf palästinensischer Seite könnte die Reaktion nicht inverser sein, als die Neuigkeiten um das Massaker sich rasant verbreiten. In den Städten Nablus und Jenin bricht Jubel und Feuerwerk aus, die Milizen verteilen hier und in Gaza City im Gazastreifen Süßigkeiten auf den Straßen aus, um das Werk ihres „Märtyrers“ zu feiern. Um dem Täter nicht noch mehr unverdiente Medienpräsenz zu geben, reduziere ich die Fakten, die ich über ihn teile, auf ein Minimum. Mit knapp 21 Jahren reiht er sich in die endlose Reihe an jungen Leuten ein, die in einem Konflikt sterben, der angefangen hat, lange bevor sie auf die Welt gekommen sind. Radikalisiert durch ihre Lebenssituation, gefangen in einer Spirale der Gewalt.

Menschen, die mehr Medienpräsenz verdienen, sind Eli und Natali Mizrahi, die bei ihrem Versuch, den Aufschlag aufzuhalten und den Verletzten zu helfen, selber zu Opfern des Täters wurden. Ihre Selbstlosigkeit und ihr Mut im Angesicht eines so schrecklichen Ereignisses beeindrucken mich zu tief. Eli Mizrahi war ein hingebungsvoller Familienvater, der in der Gemeinde für seine Freundlichkeit und Großzügigkeit bekannt war. Der tragische Tod von ihm, seiner Ehefrau und allen anderen, die bei der Schießerei ums Leben gekommen sind, hat die Gemeinde schwer getroffen und sie werden sich an die tragischen Ereignisse für den Rest ihres Lebens erinnern.

Freitag, 10.02.2023
Ramot, Jerusalem.
Zwei Wochen später.

An einem kalten und regnerischen Freitagnachmittag in Jerusalem herrscht Verkehrschaos, während sich die Fahrzeuge kurz vor Beginn des Schabbats stauen. Inmitten des Trubels drängt sich eine kleine Gruppe von Menschen an einer Bushaltestelle im Ramon-Viertel zusammen. Zu der Gruppe gehören zwei junge Brüder, Yaakov Israel Pally, 6, und Asher Menachem Pally, 8, sowie der 20-jährige A. Shlomo Laderman, der kürzlich geheiratet hat.

Es ist noch unklar, wohin die Gruppe unterwegs war oder was sie dachte, als das Auto plötzlich auf sie zufuhr und drei unschuldige Menschen tötete. Der Anschlag in Ostjerusalem, bei dem mindestens fünf weitere Personen verletzt wurden, wurde von dem 31-jährigen Hussein Qaraqa verübt, einem israelischen Staatsbürger, der im Stadtteil Issawiya lebte. Qaraqa wurde noch am Tatort von einem Polizeibeamten erschossen. Nach dem Vorfall wurde festgestellt, dass Qaraqa auf seiner Facebook-Seite Anschläge auf israelische Soldaten und Zivilisten ankündigte. Außerdem wurde bekannt, dass er erst wenige Tage zuvor aus einer psychiatrischen Klinik in Nordisrael entlassen worden war.

Da sich der Anschlag kurz vor Beginn des Schabbats ereignete, wurden die Opfer gemäß dem jüdischen Gesetz noch am selben Tag beigesetzt. Die beiden Brüder wurden Seite an Seite auf einem der Jerusalemer Friedhöfe beigesetzt und hinterließen trauernde Familien und die frisch verheiratete Frau von Shlomo Laderman.

Yael Goldberg, eine Einwohnerin Jerusalems, drückte den Opfern und ihren Familien im Gespräch mit BSN ihr Beileid aus: „Es bricht einem das Herz, wenn man daran denkt, dass unschuldige Menschen bei einem solch sinnlosen Gewaltakt ums Leben gekommen sind. Mein Mitgefühl gilt den Familien der Opfer“. Ihre Worte spiegeln die Gefühle vieler Menschen in der Gemeinde wider, die von dem Anschlag auf ihre Stadt erschüttert sind.

Während sich diese Terrorwelle durch Jerusalem und durch ganz Israel zieht, beginnen im Westjordanland erneut Gefechte zwischen israelischer Armee und palästinensischen Milizen. Im Kreuzfeuer sterben nicht selten auch Zivilisten. Während die israelische Armee in Nablus Tatverdächtige verhaftete, wurden die engen Straßen von Nablus zu einem Schlachtfeld zwischen den verschiedenen Milizen und der israelischen Armee. Während sich die Menschen in Sicherheit brachten, erfüllten Tränengas und Schallbomben die Luft und sorgten für Chaos und Verwirrung.
Mit mehr als 60 Palästinensern, die seit Anfang des Jahres in Gefechten mit der israelischen Armee getötet wurden, darunter 11 Minderjährige, eine Frau und zwei ältere Männer, steigt die Zahl der Opfer des andauernden Konflikts weiter an.

Demonstration in Jerusalem.

Während im ganzen Land die Proteste anhalten (BSN berichtete hier), erschüttert erst vor kurzem ein weiterer Anschlag das Land. Entlang der wichtigsten Verkehrsader Tel Avivs der Dizengoff-Straße, an der an diesem lauwarmen Donnerstagabend Tausende in die Bars und Cafés strömen, eröffnet ein junger Mann das Feuer. 3 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Wie auch 2022 ist der Mann Sympathisant der Hamas, der durch die Grenze geschmuggelt wurde.
Während die Lage im Land von Tag zu Tag, Woche zu Woche immer angespannter wird und Ramadan, oft als Katalysator der Gewalt dienend, am 22. März beginnt, befürchten viele eine Wiederholung der Ereignisse aus 2021, wo innerhalb von 11 Tagen über 4000 Raketen nach Israel abgefeuert wurden, was enormen Druck auf das Abwehrsystem Iron Dome und die Region erzeugte. 290 Menschen auf beiden Seiten starben im Konflikt auf beiden Seiten. Fast zwei Jahre später ist diese Narbe nie richtig verheilt.

Nur die Zeit alleine weiß, was als nächstes geschehen wird. Frieden wird Jahrzehnte dauern, das ist sicher.

Danke an F. Bork und W. Jawich, für Mithilfe bei Recherche und Korrektur.

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