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Die Flüchtlinge vom Lake Mossul

Auf der Flucht zu sein ist für viele Menschen der Normalzustand. Von einem Land ins andere, von einer Administration in die andere oder einfach weg vom Krieg, weg vom Hunger. Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs floh eine unklare Menge an Menschen von dort. Viele Organisationen haben aufgegeben zu zählen, andere berichten Werte von 0,5 bis 11 Millionen syrischen Flüchtlingen. Die genauen Zahlen sind hier in Deutschland aber relativ egal. Es sind unvorstellbar viele Menschen, die aus einer Gegend fliehen, welche die meisten Deutschen nur aus den Krisenberichten in den Nachrichten kennen. Oft fliehen sie in andere Länder, welche man ebenfalls nur aus negativen Berichten kennt. Ein Alltag, mit dem man sich ungerne befassen möchte.

Camp Domiz 2013

Nationalstaat oder Administration

Die in Europa verbreiteten Nationalstaaten haben in diesen Gegenden eine andere Bedeutung. Formal ist es richtig, dass rund eine Million Syrer in den Irak flohen. Doch vor Ort ist entscheidend, unter welcher Administration man sich befindet. Und das ist keine Formalia, sondern ein wichtiger Unterschied. Syrien wird von der Zentralregierung verwaltet, diese hat aber de facto keine Kontrolle über das kurdisch kontrollierte Gebiet im Nordosten. Diese wird von der kurdisch-sozialistischen Partei PYD verwaltet, welche der ideologisch ähnlichen, in der Türkei ansässigen, PKK nahesteht. Vereinfacht gesagt, möchte man hier einen vom Volk verwalten Sozialismus.

Das Nachbarland Irak gliedert sich ebenfalls in einen zentral regierten Teil, welcher von der Regierung in Baghdad verwaltet wird, sowie die Autonomen Region Kurdistan im Irak, kurz Kurdistan, im Norden des Landes. Diese autonome Region hat eine eigene Regierung, ein eigenes Militär, eine eigene Polizei, eine andere Sprache und eine andere Kultur. Es gibt eigene Visa und kontrollierte Grenzübergänge zwischen Kurdistan und dem Restirak. Das System orientiert sich an westlichen Demokratien, es wird viel mit Nato-Mitgliedsländern zusammen gearbeitet und die türkische Armee bildet die kurdische Armee, die Peschmerga, aus und stattet sie mit Waffen aus.

Kurden und Kurden

Das Verhältnis zwischen den Kurden in Syrien und denen im Irak ist schwierig zu erklären. Es erinnert an die DDR und die BRD: Man hat ein Volk auf beiden Seiten, welches einfach in Ruhe leben möchte, doch je höher man in Militär und Politik geht, desto mehr kommen die Probleme miteinander zum Vorschein. Im Gegensatz zur DDR und BRD wollen sich die Kurden in Nordostsyrien und im Nordirak nicht gegenseitig schaden – aber auch nicht zwingend miteinander arbeiten.

Die Grenze zwischen beiden Gegenden ist relativ durchlässig, wenn man einen guten Grund hat, die Grenze zu passieren. „Flucht“ ist ein guter Grund. So kamen seit 2011 rund eine Million Flüchtlinge aus Syrien in die Autonome Region Kurdistan im Irak. Die Zahl der Geflüchteten stieg 2013 und 2014 durch das Aufkommen des IS besonders an.

Viele der Flüchtlinge nahmen eine Route im Norden, nur knapp unter der türkischen Grenze. Oft wurden sie erstmal in Camps nahe der kurdischen Stadt Dohuk gebracht. Seit 2013 habe ich dort die großen Camps mit zehntausenden Menschen besucht, so auch das größte Camp „Domiz“.

Provisorische Camps 2013

Weg zur „Ladenstraße“ 2013

Am Ende einer Straße ging es 2013 im Schlamm weiter. Einfach eine matschige Fläche voller Zelte. Wie auf einem Festival-Gelände, nach einem Regenschauer. Mehrmals steckte ich knöcheltief fest und verstand, warum sich alle anderen Plastiktüten über die Füße gezogen und diese mit Gaffertape befestigt hatten. Es gab eine Grundversorgung mit allem, was zum Leben nötig war. Die kurdische Regionalregierung erwartete rund eine Million Flüchtlinge aus Syrien. Noch ahnte niemand, dass ein Jahr später eine weitere Million IDPs (Binnenflüchtlinge) aus dem Rest-Irak kommen sollten. Die irakische Zentralregierung hielt sich aus der ganzen Sache raus. Internationale Organisationen halfen, wo es ging. Unter den gegebenen Umständen war es eine beeindruckende Leistung aller Beteiligten, aber wirklich lebenswert war dieser Ort nicht. 

Camp-Städte 2020

Weg zur „Ladenstraße“ 2020

2020 sieht es anders aus: Im Camp Domiz 1, wie es inzwischen heisst, leben rund 30.000 Personen. In der Autonomen Region Kurdistan im Irak leben insgesamt mehr als 1.5 Millionen Flüchtlinge und IDPs. Über eine vierspurige, asphaltierte Straße kommt man zum Eingang des Camps Domiz 1. Zum Schutz der Bewohner ist es komplett umzäunt und vom Militär gesichert. Die Bewohner können einfach rein und raus, Journalisten und Gäste werden inzwischen streng kontrolliert. „Das ist kein Zoo. Du möchtest ja auch nicht, dass fremde Ausländer mit einer Kamera durch deinen Vorgarten laufen und deine Kinder fotografieren. Aber natürlich sind alle willkommen, die hierüber berichten wollen. Das ist ein Balanceakt,“ erklärt mir der Leiter des Camps. Vorher sprach ich mit dem zuständigen Mitarbeiter des Nachrichtendienstes. Man hat Sorge, dass IS-Sympathisanten versuchen in das Camp zu kommen. Nur, weil ich einen deutschen Pass und eine Presseakkreditierung in Kurdistan habe, bin ich nicht über jeden Zweifel erhaben. Eine kurze Google Recherche zeigt Artikel und Fotos von mir in großen Medien, sie sehen, dass ich seit Jahren in der Gegend unterwegs bin. „Sorry fürs Aufhalten, aber die Leute hier verlassen sich darauf, dass wir sie schützen“. 

Häuser statt Zelte

Das Camp habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder besucht. Es ist kaum wiederzukennen. Eine mehrspurige asphaltierte Hauptstraße zieht sich hunderte Meter lang durch das Camp. Von dieser gehen befestigte Straßen ab. Rechts und links gibt es Geschäfte für alles: Mode, Souvenirs, Flachbildfernseher, Computer, Handies, Brautmode und Kameras. Besser, als in vielen Dörfern in Deutschland. Kinder rennen durch die Gegend und spielen, Bewohner winken mir zu und fragen, woher ich komme. „Oh, Deutschland? Danke Angela! Danke Ursula!“ Deutsche genießen hier einen guten Ruf. „Ihr sagt ‚Mutti‘ zu ihr oder? Wir auch! Sie hat sich um unsere Kinder gekümmert, als der Rest der Welt weggesehen hat! Ihr habt uns aufgenommen! Danke dafür.“ Der Dank an Ursula von der Leyen beruht vor allem auf der Lieferung von MILAN-Raketenwerfern, welche einen Umschwung im Kampf gegen den IS brachte und viele Leben auf der kurdischen Seite geschützt haben. Deutsche rümpfen da oft die Nase – wie kann man sich über Waffen freuen? Aber es ist einfach, die Welt so zu sehen, wenn die eigene Familie nicht von einem fahrenden Selbstmordattentäter zerfetzt wurde. Ich habe die Opfer solcher Angriffe gesehen, bzw. Teile von ihnen. Ich kann gut nachvollziehen, dass sich die Leute dort über diese „Geschenke“ von „Ursula“ freuen.

Camp-Garten

Folgt man den vielen verzweigten Wegen durch das Camp, so sieht man keine Zelte mehr. Die Planen werden als Sonnenschutz oder für Gewächshäuser genutzt. Aber die Bewohner leben inzwischen in kleinen Häusern. Es wirkt wie eine riesige Schrebergartenkolonie. Einige Häuser sind sehr schön verziert, andere bunt angemalt, wieder andere mit Deko-Folien beklebt. Doch einen anderen Teil der Entwicklung kann man mit dem Auge kaum sehen: Die Infrastruktur.

Infrastruktur in Flüchtlingscamps

Die Ladenstraße

Hatte man 2013 noch regelmäßig stundenlange Stromausfälle, so fällt der Strom heute nur noch ab und zu für Minuten aus. Meist, weil jemand eine neue Leitung verlegt hat und etwas schief geht. Dann geht aus jedem Haus ein Kind mit einem Stock zum nächsten Strommast. An diesen sind die Sicherungskästen montiert von denen aus die Leitung zum Haus geht. Bei Problemen fliegen erstmal alle Sicherungen raus, die Kinder recken sich, bis sie mit dem Stock ihre Sicherung erreichen und drücken sie wieder rein. 

Auch die Wasserqualität hat sich verbessert. Statt Wasserkanistern und Dixieklos gibt es nun Frisch- und Abwasser im Haus. Das Wasser ist oft so gut, dass man es als Europäer trinken kann. Ich traue mich dennoch nicht, es zu probieren. In einer Ecke gibt es Obst- und Gemüsegärten, welche schön gestaltet sind. Eine Gruppe alter Frauen sitzt dort und bietet mir Essen an. Ich lehne dankend ab. Es schmeckt meist hervorragend, aber man sitzt lange dort und es kommen immer mehr Leute der Familie, die einen kennen lernen wollen. Sie möchten nichts von einem. Sie freuen sich nur und sind Gastfreundlich. Aber man kommt kaum wieder weg. Die Frauen und ich sprechen keine gemeinsame Sprache, dennoch verstehen wir uns. Sie winken und wenden sich wieder lachend ihrem Gespräch zu. 

Fragt man die Menschen hier, wann sie wieder nach Hause können, dann sagen sie „in zwei bis drei Monaten.“ Es sind immer zwei bis drei Monate, seit Jahren.  Aber die Menschen haben hier Häuser, sie haben Schulen, Gotteshäuser, Shops und Spielplätze. Junge Pärchen heiraten, bekommen Kinder, gehen einem zu eintönigen Alltag nach und treffen Freunde. 

Sie haben das, was der IS ihnen nehmen wollte: eine Zukunft.

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