Hong Kong: von Hello Kitty bis Hallo Kotti
Eigentlich war ich von der Hong Kong Baptist University (HKBU) eingeladen, um einen Vortrag über die Lage in Kurdistan zu halten. Da bietet es sich an, ein paar Tage länger zu bleiben. Zum einen wegen des Jetlag, zum anderen, um die üblichen Touri-Sachen zu machen: Macao, Victorias Peak, doppelstöckige Straßenbahn fahren. Natürlich hatte ich die Proteste in Hong Kong verfolgt. Ich wollte mit den Leuten an der Uni drüber sprechen und mir ein grobes Bild der Lage machen. Kurzzeitig hatte ich überlegt, die „PRESS“-Weste, Gasmaske, Nachtsichtgeräte usw. mitzunehmen. Mir wurde gesagt, dass derzeit unklar ist, welche Schutzausrüstung es durch den Zoll in Hong Kong schafft. Meine Erfahrung ist auch, dass die Lage aus der Ferne viel wilder aussieht, als sie vor Ort tatsächlich ist. Ich konnte ja nicht ahnen, wie falsch ich diesmal lag.
Kurdistan Vortrag
Mein Vortrag zu Kurdistan lief problemlos. Das türkische Generalkonsulat fühlte sich genötigt, den Vizekonsul zu schicken, der in der Frage- & Antwortrunde eine einseitige Erklärung vorlesen musste. Es war schon etwas erbärmlich. Ich unterhielt mich mit einigen Studenten über die Proteste, die Ziele, die Lage.
Proteste in der Theorie
An sich sehr simpel: Hong Kong war vor rund 20 Jahren noch britisch und hatte westliche Presse- und Meinungsfreiheit sowie zensurfreies Internet. Seitdem es zu China gehört, befinden sich viele dieser Dinge in einem Spannungsfeld. China möchte seine Macht nun ausrollen und mehr Druck auf die Menschen in Hong Kong ausüben. Das wollen viele dort verständlicherweise nicht. Das Framing Chinas ist „Das sind Terroristen, die sich unabhängig machen wollen“. Diese Forderung hörte ich interessanterweise nie in den Tagen. Es geht vielen einfach drum, den Status Quo zu behalten.
Wochentags gibt es wohl seltener und weniger Proteste, oft auch nur in den Gegenden, in denen viele junge Menschen wohnen. Wie bei uns zu demonstrieren, ist immer weniger möglich. Demonstrationen werden verboten, Forderungen, die gegen die Regierung in Peking gehen, schnell als „Aufstand“ eingestuft. Immer wieder werden Demonstrationen gewalttätig aufgelöst. Am Ende ist für Außenstehende schwer zu beurteilen, wer angefangen hat, wer eskaliert hat und was passiert ist. Und die alte Frage: Warum muss man z.B. ein Café zertrümmern? Wie immer war die Sache selbst vor Ort schwer zu sortieren. Im Prinzip: Wenn man nicht legal und friedlich demonstrieren kann, bleiben die Friedlichen zuhause. Die Gewaltbereiten aber nicht. Diese können dann nicht normal demonstrieren, sondern lassen ihrem Frust freien Lauf und greifen chinesische Unternehmen an, beziehungsweise chinesische Lizenznehmer internationaler Marken. Das ist auch der Grund, warum Starbucks-Filialen angegriffen werden.
In Hong Kong wohnte ich in einem Hotel in Tsuen Wan. Ausgesucht, weil die Zimmer groß und bezahlbar sind und das Hotel an der MTR (U-Bahn) lag. Als ich vom touristischen Ausflug nach Macao zurück kam, wollte ich in der Gegend etwas essen gehen. Es gibt in den Straßen von Tsuen Wan neben mittelgroßen Shopping Malls auch Unmengen kleiner Restaurants und anderer Shops.
Proteste in der Praxis
Ich stieß an der MTR-Station Tsuen Wan auf mehrere hundert Menschen bei einer Trauerveranstaltung. Am Tag zuvor war ein Demonstrant gestorben, der von einem Parkdeck fiel, als er vor der Polizei floh. Er hiess Chow, er wurde 22 Jahre alt. Tausende Menschen standen ruhig zusammen, schwiegen zusammen, sangen zusammen. Kein Anzeichen von Gewalt, Hass oder sonst etwas. Als Europäer fällt man in der Masse auf. Leute fragten mich, ob ich wisse, worum es gehe und erklärten mir nochmal geduldig alles. Sie lieben ihr freies Hong Kong, mit Demonstrationsrechten, mit freiem Internet, mit einem ganz eigenen Lebensstil. Die Zentralregierung in Peking verachten sie. „Wer will denn in einer Diktatur leben? Das sind Mörder, die ihre Taten mit Gewalt und Zensur verstecken müssen. Sei vorsichtig, die Polizei hier kommt auch vom ‚Mainland‘“, warnen sie mich. Woher die Polizisten kommen, kann man recht gut sagen. Sprechen sie untereinander Mandarin, sind sie ziemlich sicher aus Mainland-China. In Hongkong wird Kantonesisch oder Englisch gesprochen. Seit 1997 gehört Hong Kong zu China, ist aber eine Sonderverwaltungszone. China will ihnen ihre Sonderrechte nun immer schneller entziehen.
Aber hier sind nicht nur junge Menschen, auch wenn die Gruppe von 18-25 wohl den größten Teil ausmacht. Es sind Rentner dabei, normale arbeitende Leute in ihrer Businesskleidung, Familien, die vorsichtig am Rand stehen. Alles ist gut koordiniert, obwohl niemand eine offensichtliche Führungsrolle einnimmt. An einer Wand kann man Blumen niederlegen bzw. in ein Gitter stecken. Davor gibt es eine Schlange, in der sich alle einreihen. Da, wo die Schlange einen Fußgängerüberweg kreuzt, gibt es eine zwei Meter breite Lücke, damit man niemanden behindert. Neben der Wand wird mit Kerzen der Text „Stand with HK, R.I.P. Chow“ geschrieben. Obwohl mehrere Leute gleichzeitig Kerzen abstellen und sie nicht miteinander kommunizieren, entsteht der Schriftzug in Sekunden. Alle scheinen zu wissen, wie der Text lauten soll und wie groß das Ergebnis sein soll.
Ich kann mich zwischen den Leuten frei bewegen. Selbst im engsten Gedränge gehen die Leute wie selbstverständlich zur Seite und sorgen dafür, dass ich irgendwie durch komme. Mitten drin steht ein europäischer Mann im Hawaii-Hemd, der ähnlich aus der Masse heraussticht wie ich. Es ist HongKongHermit, den ich von Twitter kenne. Er berichtet umfassend von den Demonstrationen, ordnet Sachen ein, teilt interessante Links zu Artikeln. Er trägt inzwischen immer ein Hawaii-Hemd. Er fällt eh auf und sieht daher keinen Sinn mehr darin, sich zu verstecken. Wir unterhielten uns eine Viertelstunde am Rande des Gedränges und er erklärte mir die aktuelle, sehr wirre Lage. „Hast du gar keine Weste und Helm dabei?“ fragt er mich. Ich bin erst irritiert, hatte mir die Verwaltung in Hongkong doch erklärt, dass ich keinen ballistischen Schutz (wie schusssichere Westen und Helme) einführen darf. Doch es geht um etwas anderes: Journalisten tragen hier üblicherweise reflektierende Warnwesten mit der Aufschrift „Press“ und einen passenden Helm, etwa wie einen Fahrradhelm. Damit sollen sie sich eindeutig von Demonstranten und Polizei abheben und es soll ihrem Schutz dienen. Früher hat das wohl funktioniert, inzwischen nicht mehr, wie ich bald erleben sollte.
Alles sehr interessant, aber eigentlich wollte ich etwas essen. Ein paar Straßen weiter kamen 100-200 Vermummte mit Eisenstangen, Spraydosen und Ketten in der Hand vorbei. Die Eisenstangen zogen sie über den Asphalt hinter sich her. Psychologische Kriegsführung. In wenigen Sekunden hatten sie eine kleine Kreuzung mit umherliegenden Absperrungen und ähnlichem blockiert und zogen weiter. Das sind also die Proteste, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Nicht, was ich gesucht hatte, aber das, was mich interessierte. Ich hatte nicht mal meine Kamera bei, der Handyakku war vom Tag fast alle und ich hatte keine Schutzausrüstung bei. Nun… beste Voraussetzungen, um mal gucken zu gehen. Ich hatte in Hong Kong mehr „Hello Kitty„-Lifestyle erwartet. Jetzt ist es eher wie am Kotti.
Mit Akkuschraubern und Funkgeräten ausgerüstet zogen sie schnell von Kreuzung zu Kreuzung. Mit den Akkuschraubern werden die Gitter zwischen Bürgersteig und Straße abmontiert. Zum einen kann man so besser vor der Polizei flüchten, zum anderen dienen diese als Baumaterial für die Barrikaden. Selbst „Barrikaden“, die nur aus zwei zur Seite gelegten Straßenschildern bestehen, halten hier den Verkehr auf. Niemand steigt aus, um sie zur Seite zu schieben. Mal aus Angst, als Unterstützer der Pekinger Regierung zu gelten, mal aus Sympathie für die Demonstranten.
Ich lief am Ende der vermummten Demonstranten mit, um zu verstehen was sie genau wo wie machen. Ich wurde einfach ignoriert. Umgeben von 100-200 mit Eisenstangen bewaffneten Leuten, deren „Arbeit“ ich gerade dokumentiere und von denen man nicht weiß, wie sie einem gesonnen sind. Nicht angenehm, aber auch nicht bedrohlich. Sie zogen von Kreuzung zu Kreuzung und legten eine nach der anderen still. Von den höher gelegenen Fußgängerüberwegen aus riefen ihnen andere Leute zu, ob oder von wo sich Polizei nähert. Als ich gerade eine Barrikade fotografierte, sah ich aus dem Augenwinkel etwas von oben fliegen: Eine Eisenstange. Sie verfehlte mich nur knapp. Der Vermummte neben mir rief wütend etwas nach oben, der Vermummte von oben rief zurück „Sorry! I didn’t see you! Sorry, sorry, sorry!“. Sehr höflich, er wollte die Stange wohl nur mit auf die Barrikade werfen, nicht auf mich.
So schnell, wie die Gruppe kam, war sie auch wieder weg. Ich hatte nur ein paar Fotos gemacht und sah niemanden mehr. In einer dunklen Ecke zwischen Mülltonnen saßen einige von ihnen. Sie zogen die schwarze Kleidung aus, an denen man sie erkennt. Im Rucksack waren bunte „Snoopy“- und „Frozen“-T-Shirts, dazu ein Starbucks-Becher und ein Selfiestick. Und in einer Minute sahen sie wie normale Leute in dieser Gegend aus. Alle umstehenden Leute ignorierten, was dort geschah. Ich stand daneben und guckte mir das Treiben an. Auch damit hatte niemand ein Problem. Es kommt auch vor, dass sich die Leute umziehen, aufteilen und zu anderen Menschen ins Cafe an den Tisch setzen. Die Menschen an den Tischen reagieren da gar nicht großartig drauf und machen einfach mit. Die stille Zustimmung für die Proteste wird auf 75% geschätzt – genaue Zahlen hat niemand. Bis jetzt war nirgends Polizei zu sehen. An mir liefen Leute mit Eimern voller Ziegelsteine vorbei. Als sie sahen, dass ich darauf starrte, erklärt einer: „Wir werfen die nicht auf Menschen! Wir wollen niemanden verletzten. Wir werfen die auf die Straße. Dann können die Polizisten nicht mehr drüber rennen oder schnell fahren“. Sehr interessanter Ansatz.
Wenn die Polizei kommt
Mir schien, dass die Aktion gelaufen war. Mein Magen meldete sich und erinnerte mich, dass ich doch essen gehen wollte. Da guckte ein Polizist mit Granatwerfer um die Ecke und verschwand direkt wieder. Ich rannte hin, um zu sehen, was los ist. Er stand direkt vor der Tsuen Wan-Station, aus der lautes Geschrei kam. Später sah ich auf Fotos, dass die Polizei eine Gasgranate in der Station gezündet hatte. Der Polizist gehörte zu einer Gruppe von vielleicht zwanzig Polizisten, die die Fußgängerbrücken abliefen. Ausgerüstet mit Helm, Schild, Pfefferspray, Granatwerfern, Pumpgun und Pistole. Die Polizisten wollten nicht, dass man ihnen folgt. Sie drohten sofort mit Schlagstöcken und Pfefferspray, einer zog seinen Revolver. Schnell war eine Gruppe Journalisten und anderer Live-Streamer hinter ihnen, der ich mich anschloss. Die anderen waren das ganze Treiben wohl schon gewohnt und wenig beeindruckt. Relativ entspannt standen sie einem Meter vor den üppig bewaffneten Beamten. Hinter den Filmenden sammelten sich immer mehr Demonstranten, die die Polizisten anbrüllten. Die Polizisten versuchten erfolglos, Herr der Lage zu werfen und riefen nach Verstärkung, woraufhin andere Polizisten von der Straße aus mit den Granatwerfern und Pumpguns nach oben drohten. Ich verließ die Fußgängerbrücke und bekam dabei noch den Rand einer Reizgas-Wolke ab. Jemand zog mich weiter und kümmerte sich um mich. Auf der Straße ist mehr Platz, um der ganzen Situation auszuweichen, das schien mir sicherer.
„Black Flag“ – brüllte mir jemand entgegen. Das heißt, dass Reizgas eingesetzt wird. Die Polizei hält vorher eine schwarze Flagge hoch, auf der genau das angekündigt wird. Direkt danach wurden die ersten Opfer des Einsatzes an uns vorbei geschleppt und am Rande der Straße versorgt. Aus den umliegenden Läden kamen die Verkäufer mit selbstgefüllten Sprühflaschen, in denen ein Mittel ist, welches das Reizgas teilweise neutralisiert. Schnell wurden viele Läden geschlossen und sicher gemacht. Auf den kleinen Straßen einige hundert bis wenige tausend Menschen, die sich die Sache ansahen oder die Polizei anbrüllten. Immer wieder kamen Leute zu mir und warnten mich, erklärten grob, wie die Polizei vorgeht und fragten, wo ich hin muss.
Ich hatte für den Abend genug gesehen und mir wurde mehr und mehr klar, wie unklar mir hier alles war. Wer agiert wie warum? Wer gehört zu wem? Wer nicht? Wie geht die Polizei mit wem um? Ich bin sonst entweder auf Demonstrationen in Berlin unterwegs oder an der Front in Kurdistan. Beides anders. Aber in beiden Fällen kann ich mein Gegenüber sehr gut einschätzen. Und in beiden Fällen habe ich eine Regierung und Sicherheitskräfte um mich herum, die Pressefreiheit ernst nehmen. Hier in Hong Kong war ich mir nicht mehr so sicher.
Die Shops hatten zu, die Restaurants hatten zu, das Restaurant in meinem Hotel hatte zu, die MTR hatte zu. Die letzte Rettung war der 24h-McDonalds mit eher eingeschränktem kulinarischen Angebot. Drinnen schliefen einige Leute. „Sie lassen die Obdachlosen hier schlafen, wo sollen sie sonst hin bei dem Gas?“, erklärt mir jemand.
Friedlich demonstrieren
Am nächsten Tag sah ich mir weiter touristische Sachen wie den Viktorias Peak an. Das Äquivalent zum Tippelsberg in Bochum – der höchste Punkt der Gegend. Auch wenn es inzwischen Hochhäuser in ähnlicher Größe gibt. Am Abend wollte ich mir den Heli-Port am Hafen ansehen. Auf dem Weg dorthin liefen Demo-Santitäter an mir vorbei. Wo diese sind, sind auch Proteste. Also lief ich ihnen nach. Direkt am Fluss, am Tamar Park, fand eine weitere Trauerfeier statt. Tausende, laut Veranstalter hunderttausend Menschen hatten sich über den Abend versammelt. Wieder war alles extrem organisiert, ruhig und gesittet. Es war weit und breit keine Polizei zu sehen. Lediglich die Verwaltungsgebäude gegenüber waren mit wenigen Polizisten gesichert, die hinter einem Absperrband herum saßen. Es wurde gesungen, Reden gehalten und es waren Unmengen Journalisten da. Dutzende. Vielleicht hundert. Und ebensoviele Sanitäter. Das Rote Kreuz hatte einen eigenen Stand mit Tragen und flaschenweise das Mittel gegen verätzte Augen. Die Leute sind offen, höflich, sprechen gerne mit einem, sind aber extrem fotoscheu. Sie sagen mir, dass ein falsches Foto ihre ganze Zukunft ruinieren kann. Sie haben große Sorge, dass China bald die komplette Macht übernimmt und sich an allen rächt, die auch nur auf einer Demonstration rumgesessen haben. Die Trauerfeier war genehmigt worden, sie durfte bis 21:30 Uhr gehen. „Es ist wie bei Cinderella! Du musst bis 22 Uhr weg sein, danach fährt nichts mehr“. Der Nahverkehr wird immer früher eingestellt, um es den Leuten schwieriger zu machen, zu den Protesten zu kommen. Unter anderem ist es diese Kooperation mit der Polizei, die die MTR bei den Protesten verhasst gemacht hat. Gegen 21 Uhr machte ich mich auf den Weg, um sicher ins Hotel zu kommen. Dort angekommen sah ich die Bilder von der Räumung durch die Polizei. Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte das so schnell kippen?
Bubble Tea holen
Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Wer spielt hier warum welche Rolle? Warum ist die Polizei, auf die die Hong Konger so lange stolz waren, so gekippt? Liegt es an den „Mainland“-Chinesen, die drunter gemischt wurden? Waren sie immer so und die Leute haben es nicht gemerkt? Kann man als westlicher Mensch sicher vor ihnen sein? Wenn man einen Bogen drum macht, geht es vermutlich. Aber sonst? Es scheint, als müssen sie niemandem gegenüber mehr Rechenschaft ablegen. Niemand macht sie für ihr Handeln verantwortlich. Wenn man also dazwischen gerät, hat man vermutlich verloren.
Gegenüber vom Hotel sind mehrere mittelgroße Malls. Mir fällt auf, dass ich noch keinen Bubble Tea hatte und keine Malls angesehen habe. Das ist nicht zu spannend, aber man sollte sich sowas in jedem Land mal angesehen haben, um die Unterschiede zu verstehen. Und nun sollte ein Gestolper von einer wirren Situation in die nächste beginnen. In der ersten Mall standen alle Leute um einen Laden rum und machten Fotos. Also ging ich mal hin. Es war eine gerade zerschlagene Starbucks Filiale. Ich machte das obligatorische Foto. Ein Sicherheitsmann sagte mir, dass es hier echt nicht sicher sei „Die Polizei kommt bestimmt gleich. Geh weg!“. Dem folgte ich mal. Ich hatte ja noch andere Malls zur Auswahl. Über die Fußgängerbrücke begab ich mich in die nächste Mall. Kaum drinnen, begann ein Riesengeschrei und die Leute rannten panisch in eine Richtung. Ich hielt es für das Schlaueste, erstmal mit zu rennen. Dann sah ich nur noch kurz Nebel, dann nichts mehr. Hustend ging ich zu Boden und wurde von irgendwem weg gezogen, irgendwas wurde in mein Gesicht geschüttet, langsam ging es wieder. Ich war in das berüchtigte chinesische Reizgas geraten. Aber warum? Was war los? Neben mir lag eine Frau mit einem Kind, daneben ein Kinderwagen. Auch sie wurden von Freiwilligen versorgt. Die Leute mit den Gasmasken zeigten in Richtung Tür, die jemand auf hielt. Ich ging einen Schritt raus, sah aber schon die Polizei mit Gasmasken und den üblichen Waffen in unsere Richtung rennen. Ich verstand immer noch nicht ganz, wo das Reizgas her kam, wo sie doch weiter weg waren. Dann verstand ich, dass die Mall halbwegs umstellt war. Ein völlig chaotisches Katz-und-Maus Spiel mit jeder Menge Unbeteiligter drum herum. Die Luft in der Mall wurde besser. „Hier ist nur was rein gezogen. Wenn du die Granate abbekommen hättest, würdest du kotzend auf dem Boden liegen. Da ist Cyanid drin“ erklärt mir jemand. Cyanid? Ich tippe auf einen Übersetzungsfehler. Später google ich: Es soll wohl Cyanwasserstoff (HCN) in dem Gas gemessen worden sein. Das würde die üble Wirkung erklären. Eine kleine Gruppe von Leuten spannt Schirme auf, dahinter gibt es Getöse. In der Ecke war eine andere Starbucks Filiale, die im Schutz der Schirme zerlegt wurde. Ich machte wieder mein Foto und sah zu, dass ich erstmal raus kam.
Essensbeschaffung ist in Tsuen Wan ein gefährliches Unterfangen. Also was tun? Proteste hatte ich nun gesehen. Wenn sie um mich rum stattfinden, gehe ich auch eher gucken, um sie einschätzen zu können. Aber auf viel mehr bin ich dann doch nicht scharf.
Nudeln mit Reizgas
Am Abend hatte ich das Problem des Vortages: Ich hatte Hunger. Die MTR Station Tsuen Wan wollte ich eigentlich meiden, auf der anderen Seite wollte ich dort einen anderen Journalisten treffen. Also kurz hin. Auf dem kurzen Weg dahin kamen mir Leute entgegen gerannt: „Black Flag! Run!“. Dabei sah ich hier gar kein Gas. Nur ganz am Ende der Straße, rund 50m weiter. In meiner deutschen Naivität dachte ich mir, dass es so schlimm ja nicht sein kann. Einen Atemzug später wusste ich es besser. Auch diese kleinen Mengen sorgten für einen Hustenanfall und tränende Augen. Ein Kind mit Gasmaske lief vorbei und lachte mich aus. Es gab für Leute wie mich keinerlei Warnung seitens der Polizei. Keinen Hinweis, kein gar nichts. Als normaler Besucher der Stadt ist man also komplett von den Protestlern abhängig. Diese warnen einen, ziehen einen raus, versorgen einen. Sie leiteten auch die Autos um, die in die Strasse einbiegen wollen. Also gingen wir in die andere Richtung weiter. Dort kam Reizgas aus den Nebenstrassen. Also liefen wir weiter und weiter. Bis wir ein offenes Restaurant fanden. Während wir dort aßen, wer hätte es gedacht, flog Reizgas über die Straße. Die Bedienungen machten ganz routiniert die Türen zu und sagten „Hey, kein Problem, einfach weiter essen!“. Sie sagten uns auch Bescheid, als wir wieder gehen konnten.
Anschließend fuhren wir nach Kowloon, um einen Deutsch-Hongkonger zu treffen, der sich besser mit der Lage auskennt. Auf der berüchtigten Nathan-Road war einiges los, als wir ankamen. Ein ziviler Mini-Van fuhr mit offener Tür die Straße lang. Von drinnen schoss ein Polizist „Pepper-Balls“ in die Menge. Das sind Paintball-Waffen, die statt Farbkugeln Pfefferspray-Kugeln schießen. Das charakteristische „Flop“ vom Abschuss erkennt man gut. Hier war es eher ein „Flopflopflopflopflopflop“. Warum und auf wen er schoss? Unklar. Besonders gezielt kann das nicht gewesen sein. Hinter ihm waren Transportbusse der Polizei, ein Wasserwerfer und andere Fahrzeuge. In einer Nebenstraße stieg das Reizgas hoch. Vom Bürgersteig aus flog etwas gegen einen der Polizeibusse. Die Polizei setze den Wasserwerfer und noch mehr Pepperballs ein. Ich versuchte aus sicherer Entfernung ein paar Fotos zu machen, doch die Wagen näherten sich und weitere Pepperball-Schützen nahmen die Wagen als Deckung. Also Zeit für den geordneten Rückzug.
Was machen eigentlich die Leute, die drum rum wohnen? Das Reizgas steigt manchmal bis zur zweiten Etage hoch. Vermutlich ist das einfach Pech für sie.
Abreise!
Neuer Tag, neues Glück. Ich fragte im Hotel nach, wo ich sicher Bubble Tea bekäme. Die Leute im Hotel sind höflich und sagen, es sei alles sicher. Einfach in eine der Malls gehen…. Also… am besten eine ohne Starbucks. Das versuchte ich. Und es gab Bubble Tea. Und es kam die Polizei. Alles wie immer. Diesmal war aber weit und breit niemand, gegen den sie vorgehen konnten. Es gab keinen Protest, es gab keine großen Menschenmengen. Es gab eigentlich gar nichts zu sehen. Außer ihnen. Mit Gasmaske, Granatwerfer, Pumpgun. Am helllichten Tag, mitten in der Shoppingmall. Neben ihnen liefen Leute in Zivil, mit Gasmaske und Kamera. Sie filmten alle Menschen ab. Ich fing an, mit dem Handy ein paar Bilder zu machen. Sofort wurde ich aus nächster Nähe gefilmt und fotografiert. Alle anderen, die ein Foto gemacht hatten, auch. Ein uniformierter, aber nicht vermummter Beamter kam zu mir und fragte auf Englisch, wer ich sei und was ich hier warum mache. Dabei filmte der „Zivilist“ mit Gasmaske mich die ganze Zeit weiter. Andere vermummte Polizisten riefen den Kameramann her, sprachen mit ihm und zeigten auf mich. Kurz drauf wurde ich von einem Polizisten informiert, dass ich sofort alle Aufnahmen einzustellen habe. Ebenfalls die Berichterstattung. Und er erklärt mir, dass sie nun wissen, wer ich sei und ich abzureisen habe. Ich hatte ein Ticket für die nächste Nacht gehabt, was ich aber problemlos hätte verschieben können. Angesichts der sich entwickelnden Situation in Hong Kong hatte ich das auch überlegt. Der Polizist erklärte mir, dass ich in große Probleme geraten werde, wenn ich diesen Flug nicht nehme und morgen nochmal angetroffen werden würde.
Rechtlich hat die Polizei das gar nicht zu entscheiden. Fraglich, ob sie wegen dieser Fotos etwas machen könnten. Aber: Wer sollte mich hier vor Willkür schützen? Die Polizei? Die Regierung von Hong Kong? Die Regierung in Peking? Das ist der große Unterschied zu Deutschland und zu Kurdistan. Dort gibt es garantiert sichere Bereiche. Dort gibt es Leute, an die ich mich wenden kann. Hier nicht. Ich fragte lokale Journalisten, was sie dazu sagen. Die Einheit, die mich kontrolliert hat, seien „Raptors“ gewesen, also eine Einheit, die nicht für Diplomatie bekannt ist. Alle rieten mir, zu gehen. Nicht, weil sie die Lage besser einschätzen konnten, sondern weil sie es eben auch nicht konnten. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Journalisten und Rettungskräfte behindert und verletzt worden. Zur normalen Ausrüstung dieser Leute gehört hier eine Gasmaske und ein stabiler Helm. Und die Sachen brauchen sie täglich. Alleine das zeigt, in was für einer Lage man sich hier befindet.
Am morgen war einem jungen Mann in den Bauch geschossen worden. Die Uni, an der ich meinen Vortrag gehalten hatte, war geschlossen. Für mich war es einfach an der Zeit zu gehen.
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