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Rückkehr der Kurden aus Belarus

„Das sind die Flughafentaxis, die sind zu teuer. Wir gehen zu den normalen Taxis“, sagt der Mann, mit Kind auf dem Arm, zu seiner Frau. Sie stehen am Flughafen von Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak. Er ist gerade mit dem Sonderflug aus Belarus zurückgekehrt, seine Familie hat in Kurdistan auf ihn gewartet. Die Flughafentaxis verfügen über WiFi, englischsprachige Fahrer und nehmen Kreditkarten. Die normalen kurdischen Taxis warten einen Kilometer weiter vor dem Flughafengelände. 

Ein Polizist, welcher das ganze mitbekommen hat, geht zu seinem Streifenwagen und bringt sie zu den preiswerteren Taxis „Es ist schon dunkel und er hat Kinder dabei, da kann man sie doch nicht einfach laufen lassen“, sagt er mir nachher. Aufeinander achten, sich um andere kümmern, ungefragt die Probleme anderer lösen – all das gehört zur kurdischen Kultur. Warum sollte man also von hier fliehen?

Familien fallen sich in die Arme

„Kurdistan“ ist ein mehrfach belegter Begriff. Im Allgemeinen beschreibt er das Siedlungsgebiet der Kurden, welches sich über die Türkei, Syrien, den Irak und Iran erstreckt. In Syrien und der Türkei gibt es große kurdische sozialistische Gruppen, im Westen des Iran eine unterdrückte Minderheit und in Kurdistan-Irak eine kapitalistisch-demokratische autonome Region, welche über ein eigenes Parlament, eigene Visa und eigene Sicherheitskräfte verfügt. Auch zwischen diesen Teilen bestehen Spannungen, vor allem zwischen der PKK im kurdischen Gebiet der Türkei und der angrenzenden Autonomen Region Kurdistan. 

Kurdistan (Syrien)

Dass Menschen aus Syrien fliehen, ist gut nachvollziehbar. Das Land wird von einem menschenverachtenden Diktator regiert und ist durch mehrere Kriege gleichzeitig geprägt. Im Nord-Osten gibt es die „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien“ – auch als „Rojava“ bekannt. Diese wird permanent von der Türkei angegriffen, es gibt keine eigene Industrie, keinen richtigen Dienstleistungssektor und keinen Tourismus. Das von einer sozialistischen Partei verwaltete Gebiet genießt eine gewisse Freizügigkeit, solange die Amerikaner hier ihre Ölfelder ausbeuten. Weder die politische Lage noch das Stromnetz sind hier besonders stabil. Inzwischen übt die Türkei auch Druck aus, indem sie den Wasserzufluss einschränkt. 

Als der Islamische Staat (IS) diese Gegend 2013 überfiel, flohen rund eine Million Menschen in die sichere Autonome Region Kurdistan im Nachbarland Irak. Viele wohnen dort bis heute. In ihrer alten Heimat sehen sie auch auf absehbare Zeit keine Perspektive. In Kurdistan-Irak leben viele in Flüchtlingscamps oder arbeiten im Niedriglohnsektor. Oft eher ein Überleben, als ein Leben. Gerade in einer Kultur, in der die eigene Familie das soziale Sicherungsnetz ist und es keine staatlichen Zahlungen gibt. Lebt man fern von der eigenen Familie, steht man finanziell schnell im Abseits.

Kurdistan (Irak)

Doch viele der Menschen, welche derzeit an der Belarus-Polnischen Grenze festsitzen, kommen aus Kurdistan-Irak. Dort gibt es mehrere 4G-Mobilfunknetze, es gibt Glasfaserinternet Zuhause, eine stabile Strom- und Wasserversorgung, Freizeitparks, Shoppingmalls aber auch traumhafte Landschaften und mit Erbil die älteste durchgehend bewohnte Stadt der Welt. Hier gab es seit der Saddam-Zeit in den 1990er Jahren keinen Krieg mehr. Der Islamische Staat kam bis zur Grenze, aber nie weiter. Selbst 2014 waren die Freizeitparks, nur eine Stunde von der Front entfernt, geöffnet. Dort tummelten sich Familien, welche sich absolut sicher fühlten. 

In den irakisch kontrollierten Gebieten kam es durch den Abzug der irakischen Soldaten zu einem Machtvakuum, welches der IS nutzte und versuchte, die religiöse Minderheit der Jesiden auszulöschen. Der 74. Völkermord an den Jesiden vom 03. August 2014 ist das dunkelste Kapitel der jüngeren Geschichte. Zehntausende wurden ermordet oder verschleppt. Rund 100.000 Geflüchtete leben immer noch in den Camps um die kurdische Stadt Duhok. In ihre Heimat Shingal kehren sie nur langsam zurück, da dort verschiedene politische und militärische Gruppen Gebietsansprüche erheben. In den Camps wollen sie nicht ewig leben, andere Länder nehmen sie nur selten auf. 

Die Kurden in Kurdistan-Irak genießen im Vergleich zu allen Nachbarn ein gutes Leben. Keine Gruppe wird hier verfolgt, es gibt eine freie Wirtschaft, viele Medienunternehmen und Fernsehsender sowie ein Parlament, in dem mehrere Parteien vertreten sind und eine Koalition zweier Volksparteien regiert. Was bringt junge Menschen dazu, von hier nach Belarus aufzubrechen? Ich sprach mit einigen, als sie zurückkehrten.

Donnerstag Abend, 18.52 Uhr: Die Boing 747 der Iraqi Airways fliegt den Flughafen Erbil von Süden her an, zuletzt vorbei an den Büro- und Wohntürmen der Wohnanlage „Empire“. Ein seltener Anblick. Üblicherweise landen hier wesentlich kleinere Flugzeuge.

Wohnanlage „Empire“ in Erbil

Vor dem Ausgang des Flughafens sammeln sich ungewöhnlich viele Menschen. Auch Polizei, Militär und Nachrichtendienst sind anwesend. Das ist in Kurdistan-Irak nicht besonders selten, aber sie so konzentriert hier zu sehen ist ungewöhnlich. Ich spreche kurz mit den Sicherheitskräften, ob sie wissen, wann die Menschen aus Belarus rauskommen. Sie fragen die Kollegen im Terminal und sagen „noch etwa fünf Minuten. Aber bitte denke dran: Das ist sehr emotional für die Familien. Es ist zwar wichtig, dass ihr darüber berichtet, aber nicht alle wollen gefilmt werden. Also achtet bitte darauf“. Datenschutz ist in Kurdistan weniger kompliziert als in Deutschland, aber dennoch ein für mich verständlicher Hinweis. 

Die Rückkehrer

Der Familienvater kam zurück


Eine Frau kommt direkt auf mich zu uns spricht mich an, fragt ob ich Journalist sei. Sie stellt sich als Yezda vor und ist 45 Jahre alt. Sie sagt, ihr Sohn habe sich vor einigen Wochen auf den Weg gemacht – entgegen dem Rat der Familie. „Dass da etwas nicht stimmt, war doch klar. Wenn Deutschland ihn haben wollte, hätte er mit dem Flugzeug hinfliegen können. Aber er wollte nicht hören. Er hat all sein Geld genommen und sich noch welches geliehen. Er sagte, er holt uns alle nach und dann leben wir in Deutschland. Aber was soll ich da? Ich spreche die Sprache gar nicht. Und ich bin hier zufrieden.“

Bald darauf kommt ihr Sohn Aras (19) zusammen mit weiteren Freunden aus dem Flughafen. Seine Mutter und er haben Tränen in den Augen, fallen sich in die Arme, und freuen sich. Er erklärt mir, dass ihm die Sache auch dubios vorkam. Jedoch habe er hier keine Perspektive. In seiner ländlichen Gegend fehle es an Arbeit. Er hat die Schule bis zur neunten Klasse besucht, keine Ausbildung und kein Studium. Ihm wurde erklärt, dass er problemlos in Deutschland Arbeit finden würde. „Dort verdient man 5.000,-€ im Monat. Davon kann ich die Familie gut ernähren!“ erklärt er mir. 

Wir kommen ein bisschen ins Gespräch und ich versuche ihm zu erläutern, dass es auch bei uns Arbeitslose gibt und 5.000,-€ im Monat eher selten sein. Vor allem, wenn man keine Ausbildung und kein Studium hat. Aber auch mit guten Grundlagen ist es schwer genug. Er könnte auch in Kurdistan studieren, etwas lernen, sich in einem Unternehmen hocharbeiten. Er erklärt mir, dass das aber sehr kompliziert sei und er dafür im Zweifel aus seiner Gegend wegziehen müsste – das will er jedoch nicht. Der Umzug nach Deutschland wäre es jedoch wert gewesen, da es dort einfacher sei. Das werde ich in der Kürze nicht abschließend mit ihm diskutieren können. 

Ich frage ihn, wie die Reise ablief. „Da waren diese … Reiseunternehmer aus Belarus. Die haben uns gesagt, dass sie uns nach Deutschland bringen können. Wenn man mit dem Bus einreist, kann man dort leben und arbeiten. Dafür sollte ich 9.000,-$ zahlen. Erst nach Istanbul, dann nach Minsk, dann mit dem Bus weiter. Warum das nur mit dem Bus geht, konnte er nicht erklären. Aber es sei halt so. Merkel habe das entschieden. Aber dort war es schrecklich. Wir haben zwei Wochen lang in diesem Dschungel gelebt. Zuerst sollten wir nach Litauen. Sie haben uns zur Grenze gebracht und gesagt, wir sollen einfach rüberlaufen. Aber die wollten uns nicht dahaben. Ich war mit den Füßen in Litauen. Aber sie haben uns zurück geprügelt. Und hinter uns waren die aus Belarus, die haben uns auch verprügelt und gesagt, wir müssen gehen. Immer und immer wieder. Ich dachte, ich sterbe.“ – „Und in Polen?“ frage ich. 

„Die Soldaten wollten uns sterben lassen“


„Da war es genau so. Die Polen wollten uns gar nicht. Wir dachten erst, die wüssten nicht, dass wir die Reisegruppe nach Deutschland sind. Aber sie wussten es. Die wollten uns aber nicht da haben! Da habe ich verstanden, dass wir nur vorgeführt werden. Wie Puppen an der Strippe. Ich konnte es vorher echt nicht glauben. Aber die Soldaten aus Belarus haben uns immer wieder geschlagen. Sie haben gesagt, wenn wir nicht rübergehen, sterben wir im Dschungel!“. 

Von belorusischen Soldaten verprügelt


Ein Mann kommt dazu und zeigt auf dem Handy seine Verletzungen. Er sagt, die belarusischen Soldaten haben ihn so zugerichtet: „Vor zwei Tagen wurde gefragt, wer zurück will. Natürlich wollte ich zurück! Sie haben unser Geld genommen und sind weggerannt! Wie konnte ich so blöd sein? Ich will nie wieder nach Europa! Wie kann man so mit Menschen umgehen? Warum macht ihr das mit uns? Sieh: Ich kann immer noch nicht richtig laufen.“ Er ist außer sich und wird von anderen Männern getröstet und beruhigt. 

Auch er sagt, dass er vor nichts direkt geflohen ist, ihn lockte einfach die Aussicht auf ein besseres Leben. Politische Stabilität, ein soziales System, gut bezahlte Jobs, wie er es im Fernsehen gesehen habe. Die irakische Zentralregierung drangsaliert die kurdische Regionalregierung, wo es geht. Vom Iran gesteuerte Milizen kontrollieren Teile des Irak und vom Iran gesteuerte Politiker sitzen in Bagdad in allen irakischen Ministerien. 

Zu der Zeit, als in Deutschland die Mauer fiel, ließ die irakische Regierung noch Kurden vergasen und lebendig beerdigen. Dass Menschen in die EU wollen, in der es seit 75 Jahren keinen Krieg mehr gab, ist nachvollziehbar. Dennoch streben auch einige Deutsche nach einem besseren Leben im Ausland. Wie man den Reality-TV-Formaten entnehmen kann, sind diese auch nicht besser auf ihr neues Leben vorbereitet, als die Kurden mit denen ich hier spreche. 

Doch diese Menschen, die nach Belarus reisten, hatten nicht damit gerechnet zum Spielball eines anderen Diktators zu werden. Sie wurden von staatlichen Sicherheitkräften misshandelt und von deren Handlangern um ihr Geld gebracht. Nun sind sie zurück bei ihren Familien. Einige schämen sich für ihre Naivität, andere sind sauer auf Europa, wieder andere sehen vor allem ihren finanziellen Ruin. „Ich habe mein Haus verkauft, damit wir beide dahin konnten“, sagt ein weinender Mann, der seine Frau im Arm hält. 

Nach und nach lichtet sich der Ausgangsbereich des Flughafens. Einige wurden von ihren Familien abgeholt, andere teilen sich ein Taxi in eine entfernte Stadt, da es keinen richtigen Nahverkehr gibt. Es blieben nur wenige zurück, die nicht wissen, wo sie nun hin sollen, oder wie sie nach Hause kommen. Zwei Soldaten sprechen Menschen auf dem Parkplatz an „Fährt einer von Euch nach Slemani? Könnt ihr den Jungen mitnehmen? Er weiß nicht, wie er nach Hause kommt.“

Gegen 22:00 Uhr sind alle Interviews gegeben, alle Menschen in irgendeiner Weise versorgt und auf dem Weg nach Hause. 

Der belarusische Diktator Lukaschenko hat sein Ziel erreicht: Rund um die Welt sieht man im Fernsehen, wie sich die EU mit Wasserwerfern und Reizgas gegen unbewaffnete Flüchtlinge „verteidigt“. Der Westen telefoniert wieder mit der belarusischen Regierung, und Lukaschenkos Handlanger konnten Millionen verdienen. Die Rechten in Deutschland können sich freuen, dass der „Kampf“ gegen die Flüchtlinge gewonnen wurde und sich darüber lustig machen, wie naiv diese auf der Suche nach einem besseren Leben seien.

Nur an die Menschen selber denkt kaum einer. Als ich mich von den Sicherheitskräften am Flughafen verabschiede, sagen sie mir: „Danke, dass du hier warst. Aber wenn du deine Regierung siehst sag ihnen, dass man so einfach nicht mit Menschen umgehen kann. Das tut man einfach nicht.“

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