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Afghanistan unter den Taliban

Als die Taliban im August 2021 die afghanische Hauptstadt Kabul erreichten, hatten sie nie die Absicht, das Land zu regieren, erklärt mir ein Taliban in Kabul. Er sagt, sie wollten ihre Stammesgebiete beanspruchen, sie wollten Anteil an der Macht haben und ihre Bevölkerung versorgen. Und sie wollten, dass sie niemand bekämpft. Daher bezahlten sie auch afghanische Soldaten dafür, dass sie ihre Waffen niederlegen. Als sie die Hauptstadt erreichten, floh die Regierung in sichere Staaten. Viele Familien der Regierenden hatten sich durch Vetternwirtschaft und Korruption Millionen ergaunert, welche ihnen einen schönen Lebensabend bescheren werden. Den meisten Afghaninnen und Afghanen war dieser Luxus nicht vergönnt. Sie sehen einem Winter und einer Hungersnot entgegen.

Wandbild nahe der ehemaligen US-Botschaft in Kabul: „Mit Gottes Hilfe haben wir die Amerikaner besiegt“

Verschiedene westliche Beamte, welche während des Abzugs des Westens in Kabul waren, erklären mir, dass auch in diesen chaotischen Tagen alle Absprachen von den Taliban eingehalten wurden. Sie konnten ihre Ortskräfte ausfliegen, sie konnten selber zwischen ihren Standorten im Land und dem Flughafen Kabul hin- und herfahren. Wenn Personen nicht ausgeflogen wurden, lag es fast immer daran, dass sie kein Land aufnehmen wollte. „Da müssen wir uns nichts vormachen. Moral hin oder her: Die meisten Leute wollte niemand haben.“ Und es ist einfacher, das den Taliban in die Schuhe zu schieben“, sagt eine der Mitarbeiterinnen. Damals versuchten Zehntausende den Flughafen zu stürmen, um einen Platz in einem der Evakuierungsflugzeuge zu erhalten. Diese waren aber lange zuvor und an bereits ausgesuchte Personen vergeben. Teilweise wurden amerikanische Kampfhubschrauber eingesetzt, um die Fliehenden abzudrängen. Auch heute stehen an den afghanischen Außengrenzen lange Schlangen von Afghaninnen und Afghanen. Die meisten könnten derzeit ausreisen – haben aber kein Land, welches sie einreisen ließe.

Wandbild am Flughafen Kabul: „Fuck you Taliban – United States Marine Corps“

Nachdem die Taliban das Land regieren sollten, gab es viel Unklarheit in den eigenen Reihen. Die Taliban sind keine homogene und klar geordnete Gruppe. Es gibt verschiedene Gruppen, Stämme und persönliche Beziehungen zueinander. Es gibt Taliban, welche sich den Respekt anderer verdient haben, es gibt welche, die gar keine „Karriere“ machen wollen. Doch nun mussten sie sich irgendwie einig werden. Es gibt Taliban, welche dem westlichen Narrativ politischer und geistlicher Hardliner entsprechen. Sie wollen ungebildete Frauen, welche Burka tragen. Es gibt sehr ungebildete Taliban, meist aus den Stammesgebieten kommend, welche mit kindlicher Freude und Naivität die neue Welt um sie herum entdecken. Diese waren zum Beispiel auf den viel verbreiteten Autoscooter- und Tretbootbildern zu sehen. Und es gibt dem Westen offen entgegenstehende Taliban. Oft sprechen sie gutes Englisch, haben Zeit im Ausland verbracht und eine moderate Ansicht. Auf die Frage, ob Mädchen die Schulen wieder über die siebte Klasse hinaus besuchen werden, antwortet ein ranghoher Taliban: „Natürlich! Ich habe auch Töchter. Die sollen gebildet sein und einen guten Mann finden. Ungebildete Frauen haben oft ungebildete Männer. Aber das braucht Zeit und wir müssen es unseren Leuten erklären und klare Regeln dafür aufstellen.“ Ein anderer berichtet, dass er in Deutschland war und dort zur Gebetszeit auf den Bus wartete. Also betete er an der Bushaltestelle. Anschließend fragte ihn eine wartende Frau, warum er denn in der Bushaltestelle Yoga mache. Auch er hat für Taliban sehr liberale Ansichten, aus unserer Sicht immer noch sehr strenge konservative.

Ein amerikanischer Analyst erklärt: „Wir haben auch mit Saudi-Arabien und Qatar gute diplomatische Beziehungen. Die Saudis haben Jamal Kashoggi bei lebendigem Leib zerlegt. Und wir stehen weiter an ihrer Seite. Bei der Messlatte sind die Taliban auch kein größeres Problem. Nicht, dass ich das gutheiße. Aber wenn, dann gilt die gleiche Messlatte halt für alle“.

Afghanische Grenzbeamtin weist Männer hinter die Haltelinie zurück

Im Westen hat man meist die Bilder der fliehenden Afghanen im Kopf, welche sich in Panik an die Fahrwerke der ausfliegenden amerikanischen C17 Frachtmaschinen hingen und dann in den Tod stürzten. Heute zeigt der Flughafen ein anderes Bild. Die Passkontrolle wird von Frauen ohne Burka durchgeführt, eine weitere Frau achtet darauf, dass die Warteschlangen eingehalten werden und weist die in- und ausländischen Männer zurecht. Ein Passagier hat eine Whiskeyflasche sichtbar in der Duty-Free-Tüte und darf diese ohne Nachfrage einführen. Szenen, die nicht in ein westliches Narrativ passen und vielleicht auch ein Bonus für westliche, männliche Ausländer. Das Handynetz und Internet funktioniert. Die deutschen Handynetzbetreiber haben hier Roamingpartner und die Hotels und Restaurants haben geöffnet.

Die Afghanen vor Ort erklären, dass sie selber keine Taliban gesehen haben, die auf der Suche nach Ortskräften von Tür zu Tür gingen, um diese zu ermorden. Es habe gezielte Suchen nach hochrangigen Zielen gegeben. Zum Beispiel Übersetze, von wichtigen westlichen Personen, und Menschen, welche über spezifisches Wissen über das westliche Militär verfügen. Einige Afghanen nutzen die Gelegenheit auch, eine alte Rechnung gewaltsam zu begleichen. Aus einigen Städten wurden Plünderungen und Fälle von Lynchjustiz gemeldet.

Ein großer Teil der Taliban sind einfache Kämpfer. Sie haben ihre Arbeit erledigt und haben nun wenig zu tun. Afghanistan ist ironischerweise sicher, seitdem die Taliban an der Macht sind. Jedoch fehlt es an Fachkräften. Dies sahen wir auch, als wir im September einreisten. Schon damals konnten wir sicher, unbegleitet und ohne Probleme durch das gesamte Land fahren. Damals konnte keiner der Anwesenden den Gepäckscanner bedienen und mussten auf einen ehemaligen Grenzschützer warten. Somit werden alle bisherigen Fachkräfte gebeten, zur Arbeit zurückzukehren, um den Staat am Leben zu halten.

Gebäude für Hochzeitsfeiern in Kabul

Die Taliban suchen auch den Kontakt zum Westen. Erste westliche Unternehmer sind wieder im Land. Einige westliche Botschaften sind auch wieder besetzt. Taliban, welche Englisch sprechen und den Kontakt zum Westen halten, können sich dadurch in den eigenen Reihen profilieren. Die westlichen Menschen wiederum können die Taliban nutzen, um Zugang zur Taliban-Administration zu erhalten.

Ihre Bürokratie ist auf den ersten Blick kaum einfacher als die anderer Staaten. Man braucht für alles eine Genehmigung, auf Papier mit Stempel. Journalisten müssen sich eine Presseakkreditierung holen, Unternehmer müssen ihr Unternehmen anmelden. Auf der anderen Seite kollidiert dies immer wieder mit den Familien- und Clanstrukturen. So kann der ältere Bruder ohne Amt dem jüngeren Bruder mit Amt immer noch auftragen, eine bestimmte Genehmigung auszustellen.

Als die Taliban die Regierungsgebäude übernahmen, nutzen sie auch Residenzen und Büros der Ministerien, um dort Soldaten unterzubringen. Ein Vermieter einer solchen Liegenschaft beschwerte sich und erklärte den Taliban, dass er das verstehe, aber auch auf die Miete angewiesen sei. Die Taliban hatten jedoch den alten Mietvertrag. Die Miete war noch sechs Monate im Voraus bezahlt. Darauf beriefen sie sich wiederum. Die im Voraus bezahlte Zeit ist noch nicht abgelaufen, es bleibt abzuwarten, wie es dann weiter geht.

Taliban Soldat in Kabul

Die zurückgelassenen Fahrzeuge und Ausrüstungsgegenstände der westlichen Organisationen und Armeen darf niemand mitnehmen. Sie sollen als Zeichen des guten Willens sichergestellt und dann zurückgegeben werden. Es wird erwartet, dass noch in diesem Jahr die ersten westlichen Botschaften wieder eröffnen und nicht nur den aktuellen Notbetrieb fahren. Die russische Botschaft war als eine der wenigen durchgehend besetzt. Es gab in den Wochen nach der Machtübernahme einige Plünderungen und etliche Gegenstände werden wohl nie wieder auftauchen. Doch im Großen und Ganzen soll es verhindert werden. Daher ist auch der Zugang zum militärischen Bereich des Flughafens untersagt. Mehrere Checkpoints der Taliban sollen verhindern, dass Plünderungen stattfinden. Ausnahme ist das Mitnehmen der Lebensmittel für den eigenen Bedarf. Auf dem Gelände wohnen dutzende bis hunderte Taliban, welche mit der Sicherung beauftragt sind und welche sich nun vom zurückgelassenen, meist amerikanischen, Soldatenessen (EPAs und MREs) ernähren.

Mitarbeiter der eigenen Sicherheitsbehörden erklären, dass der Flughafen gut zu sichern ist. Jedoch hätten sie mehrmals auf dem Landweg eingereiste westliche Bürger wegen des Verdachts der Spionage festgenommen. Ich wurde mehrmals für einen Amerikaner oder Russen gehalten, ohne dass das weitere Folgen hatte. Auch ohne meinen Pass zu zeigen, konnte ich einfach weiter. Der Verdacht hängt also nicht pauschal von der Nationalität ab. Ein deutscher Unternehmer befand sich drei Tage in ihrem Gewahrsam – allerdings durchsuchten sie sein Gepäck nicht und ließen ihm sein Handy. So konnte er den mitgebrachten Tequila trinken und mit seinen Freunden sprechen. Auf der anderen Seite gab es einige Fälle, bei denen die jeweiligen westlichen Regierungen Vertreter schicken mussten, um ihre Bürger zurück zu holen. Aber auch das funktionierte ohne größere Probleme.

Fidelis Cloer schleppt ein Kundenfahrzeug ab, welches ein Taliban fuhr

In Afghanistan ist auch der deutsche Unternehmer Fidelis Cloer, welcher im Auftrag westlicher Regierungen gepanzerte Fahrzeuge ausfindig macht, sicherstellt, repariert und den Botschaften zurück gibt oder sie im Kundenauftrag ausfliegt (wir berichteten). Die Autos zu finden ist nicht einfach. Zunächst müssen sie im gesamten Land ausfindig gemacht werden. Regelmäßig muss er die Fahrzeuge von den Taliban zurückholen und diesen erklären, dass sie sich nun ein anderes Fahrzeug beschaffen müssen. Doch auch hier sind die Formalia klar geregelt: Sobald der Auftrag des Eigentümers vorliegt, darf der Taliban die Herausgabe des Fahrzeugs nicht mehr verwehren. Inzwischen klingelt sein Telefon permanent: Botschaften suchen gepanzerte Fahrzeuge, ein Transportunternehmen vier Busse und ein Bauunternehmer eine Planierraupe sowie ein paar Kräne. Mehr als 100 Fahrzeuge sind bereits auf dem Sicherstellungsgelände und werden nach und nach an die Eigentümer zurückgegeben.

Eine Frau, mit welcher ich hier zusammenarbeite, erklärt, dass die Lage für sie natürlich schwieriger geworden sei. Sie brauche kein Burka tragen und dürfe Arbeiten gehen, aber das Leben bestehe ja aus mehr, als diesen beiden Dingen. Ihr fehlt es, mit ihren Freundinnen in Bars und Discos zu gehen und den Kontakt zu den westlichen Menschen zu haben. „Hier in Kabul hat sich einiges geändert. Und meine Kinder werden in einer anderen Welt aufwachsen. Aber ich komme aus einem Dorf in der Helmand Provinz, dort sind die Uhren seit langem stehen geblieben. Das gab es auch unter dem früheren Präsidenten Kazai Burkas und da wurden gebildete Frauen immer schon komisch angesehen.“ Aktuell wünscht sie sich nur, dass die Lage sich nicht weiter verschlechtert. Sie hofft, dass sich die Taliban, gerade in diesen Punkten, dem Westen öffnen müssen. 

Immer wieder schwingt bei Einheimischen die Sorge mit, dass man sich nicht dem Westen, sondern dem Osten öffnet. Zu China gibt es eine kleine Grenze und dort hat man Interesse an den Rohstoffen. Es gab Gerüchte, die Chinesen wollen die Bagram Airbase als Frachtflughafen benutzen, doch derzeit hört man nichts mehr von ihnen. 

Straßenszene in Kabul

Die in Deutschland vorherrschende Frage ist die, nach den Frauenrechten. Dabei scheinen viele Menschen zu meinen, dass Afghanistan in den vergangenen zwanzig Jahren ein freies Land gewesen sei. Die Frauen vor Ort berichten anderes. Auch unter der letzten gewählten Regierung gab es Burkas, Arbeitsverbote für Frauen und Mädchen, die nicht zur Schule gehen durften. Seltener in den großen Städten, häufiger auf dem Land. Genau so gab es aber hautenge Kleidung, Makeup und Parlamentarierinnen und Ärztinnen. Es hing oft von der lokalen Community und der jeweiligen Familie ab. Die Situation der Frauen hat sich also nicht vom westlichen Niveau auf das jetzige verschlechtert, sondern von einem bereits schwierigen Niveau auf ein sehr schlechtes.

Es wird von vielen Fällen berichtet, in denen Männer die liberaleren Regeln immer schon abgelehnt haben und die sich nun freuen, ihre Frauenfeindlichkeit mit der Talibanherschaft legitimieren zu können. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin westlich orientierte Afghaninnen und Afghanen, welche im geheimen Parties feiern und Alkohol trinken.

Verkaufsstand auf einer Straße in Kabul

Eine ausländische Journalistin erklärt mir: „Es ist bizarr. der Alltag ist für mich nun sicherer, als vorher. Ich habe auch angefangen einen Schal über den Haaren zu tragen, um keine Diskussionen mit den einfacheren Taliban zu haben. Sie haben das nie explizit gefordert, aber man wurde ab und zu drauf angesprochen und dadurch aufgehalten. Man fängt also an, erst ein bisschen Freiheit aufzugeben, um einfacher durch den Alltag zu kommen. Und dann vermutlich immer mehr. Und bei den lokalen Frauen beobachte ich das auch – nur eben viel stärker. Daher vermute ich, dass der Widerstand gegen diese Regeln zurückgehen wird. Man hat einfach nichts davon, sich dagegen zu wehren, wenn man keine Chance auf Erfolg hat und kein anderes Land aufnehmen möchte.“

Am Ende des Tages bleibt es dabei, dass die Taliban nun die defacto-Regierung Afghanistans stellen. Sie regieren, oder besser verwalten, derzeit rund vierzig Millionen Menschen. Das Land kann sich selber nicht ernähren. In den Supermärkten sind noch alle Waren vorhanden, jedoch können sich diese immer weniger Menschen leisten. Der Winter beginnt, der Hunger und die Kälte kommen. Andere Staaten werden irgendwie helfen, um ein Massensterben zu vermeiden oder zumindest einzugrenzen. Und dafür ist es nötig, eine Kommunikationsebene über Botschaften aufzubauen und aufrecht zu erhalten. „Ich spreche einfach mit Leuten. Das ist mein Job. Wie man politisch mit den Taliban umgeht, kann meine Administration dann entscheiden. Ich will erst mal weiteres unnötiges Leid verhindern. Dann sehen wir weiter“, fasst es einer der in Kabul anwesenden Diplomaten zusammen.

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