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Repo Man Kabul

Kabul

Fidelis Cloer entwickelt, baut und vertreibt seit mehr als dreißig Jahren gepanzerte Fahrzeuge. Rund 200 seiner in der Widerstandsklasse VR7 gepanzerten Land Cruiser gingen nach Afghanistan, auch die Fahrzeuge der ehemaligen Präsidenten lieferte er. Nachdem die Taliban die Macht in Afghanistan an sich gerissen hatten und Armeen und internationale Organisationen flohen, ließen diese vermutlich hunderte gepanzerte Fahrzeuge am Flughafen in Kabul zurück. Einige Klienten beauftragten Fidelis Cloer damit, die zurückgelassenen Fahrzeuge zu finden und zu sichern. „Bei den Taliban zurückgelassene Fahrzeuge suchen und wiederbeschaffen. Wenn das eine Fernsehshow wäre, hieße sie wohl ‚Repo Man Kabul’ oder so“, sagte er lachend. Doch wie sollte man an die Fahrzeuge heran kommen, welche im durch die Taliban beherrschten Afghanistan festhingen? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Also machten wir uns auf den langen Weg nach Kabul.

Taliban haben Lügen gelernt

Vor Ort erklärt uns ein Einheimischer: „Was die Taliban in 20 Jahren gelernt haben, ist: Marketing. Sonst ist alles gleich“. Sie spielen ihr Spiel zielführend, nachdem sie von erfahrenen Leuten beraten wurden. Den Taliban ist natürlich bekannt, dass auch  Saudi-Arabien und China Tourismus haben und als Handelspartner anerkannt werden. Ist man erstmal anerkannt, hat man keine großen Probleme mehr. Auch das sieht man bei diesen Staaten. Daher haben wir im Alltag, auf der Straße, bei unseren Gesprächen und beim Zugang zu gesicherten Geländen keine Probleme. Es wird immer drauf geachtet, dass die Taliban gegenüber den Ausländern ein gutes Bild abgeben. „Ich fahre seit 15 Jahren nach Kabul. Ich konnte hier noch nie einfach spazieren gehen. Das ist doch verrückt“, sagt Fidelis, während wir ohne ballistische Westen und Helme durch die Straßen wandern und die Gebäude angucken. In diesem Moment sehen die ganzen Sprengschutzwände und gepanzerten Fahrzeuge im Straßenbild völlig deplatziert aus. Sie sollten vor den Taliban schützen, welche nun aber an der Macht sind. Wir sind umgeben von Terroristen, welche sich uns gegenüber freundlich verhalten. 

Die Straßen Kabuls

Fidelis Cloer vor dem Gebäude der EU

Fidelis klopft beim Gebäude der EU-Vertretung und fragt, ob jemand zuhause ist. Laut eines Facebook-Posts sollte der Vertreter seit zwei Tagen zurück sein. Uns öffnet ein Taliban. Er erklärt, dass er zusammen mit Contractern (kommerziellen, bewaffneten Sicherheitskräften) das Gebäude sichert, damit niemand plündert. Es sieht hier wirklich nicht nach Plünderung aus. Der Taliban sagt, er hätte noch niemanden gesehen, aber er könne sich melden, wenn jemand kommt. Es gab nach der Machtergreifung der Taliban wenige Plünderungen, diese wurden von ihnen selber schnell unterbunden. Auch Plündern passt nicht mehr ins Image.

Uns begleitet Yunis, einer von Fidelis lokalen Kollegen. Er betreibt eine private Sicherheitsfirma und hat unter anderem westliche Militärstützpunkte vor den Taliban geschützt. Nun hat er ein Gästehaus für Journalisten. Zu Gast sind derzeit auch einzelne Frauen, die dort wohnen und ein- und aus gehen. Nach der Machtergreifung der Taliban hatte er große Angst und befürchtete Racheakte. Doch die bleiben aus. Er läuft in westlicher Kleidung auf der Straße herum. Als nebenan die Badri-Brigade, eine Eliteeinheit der Taliban, einzog, liehen sich diese einen Wasserkocher. Das war sein ganzer Kontakt mit ihnen. „Es ist verrückt. Ich wollte erst nicht raus. Zuerst bin ich in lokaler Kleidung einkaufen gegangen, dann in westlicher. Es gibt kein Bier und keine Musik mehr. Aber selbst für mich ist es derzeit ungefährlich. Aber das Geschäft mit der Sicherheit ist weg. Die Taliban sagen, dass sie das Land sicher halten und man keine Sicherheitsfirmen oder gepanzerte Fahrzeuge mehr braucht“. 

Nachdem fast alle internationalen Organisationen und Armeen das Land verlassen haben, ist auf den Straßen viel weniger Verkehr. Es ist ruhig. Selten hört man, weit weg, einzelne Schüsse. Vermutlich ein Versehen oder Übungen. Die Taliban sind angehalten, nicht zum Spaß in die Luft zu schießen, da dies dem Image schadet.

Im Serena Hotel treffen sich nach wie vor die meisten Journalistinnen und Journalisten. Hier liefen wir auch Jürgen Todenhöfer in die Arme, welcher mit lokalen Kontaktleuten sprach. Auch alle anderen großen Redaktionen und Agenturen geben sich hier die Klinke in die Hand. Wir tauschen Visitenkarten, Kontakte und Informationen aus und setzen unseren Weg fort. 

Werden alle Ortskräfte gejagt?

Russischer Mi-8 Hubschrauber über Kabul

Unterwegs treffen wir Sharif, einen Afghanen, der 2015 auf dem Landweg nach Deutschland geflohen war. Er durfte arbeiten, lernte Anlagenbauer und arbeitete als solcher in Deutschland. Vor drei Monaten kehrte er nach Afghanistan zurück, um eine Frau aus seinem Heimatort zu heiraten. Sie sollte dann mit ihm nach Deutschland kommen, doch er kommt trotz Visum nicht mehr zurück, wie er uns erklärt. Was er dabei hat, ist ein Antrag auf ein Arbeitsvisum – mehr nicht. Im weiteren Gespräch stellt sich heraus, dass er eine Duldung hatte, welche wohl mit seiner freiwilligen Ausreise erloschen ist. Ihm wurde von Freunden erklärt, dass er mit seinem Visumsantrag sowas wie ein Visum hätte – besser sei aber, wenn die Botschaft es noch stempeln würde. Dass ein Arbeitsvisum aber mehr ist, als eine Formalie in einer Botschaft, war ihm nicht klar. Nun wurde ihm geraten einen Journalisten zu suchen, der schreibt, dass die Taliban ihn suchen würden, da er früher in der Afghanischen Armee gedient habe. Wenn das in einer Zeitung stünde oder im Fernsehen laufen würde, könne er einfach zurück. Wir verbringen viel Zeit damit ihm zu erklären, dass das alles nicht so ist und er vermutlich nicht ohne weiteres zurück nach Deutschland kommt. 

Sein Problem hier ist derzeit keine Verfolgung, sondern Perspektivlosigkeit. Die westlichen Armeen und Organisationen haben tausende Arbeitsplätze geschaffen, zeitgleich hatte sich die afghanische Bevölkerung in den vergangenen 20 Jahren fast verdoppelt. Nun fallen auf einen Schlag viele Einkommensquellen weg. Die Arbeitslosigkeit explodiert, es gibt Dürren und der Winter steht vor der Tür. Im ganzen Land gibt es zu wenig zu Essen und es droht eine humanitäre Katastrophe. Er kommt aber nicht aus Kabul, sondern aus einem entfernten Dorf. Nachdenklich tritt er den 24 Stunden dauernden Rückweg an.

Fachkräftemangel unter den Taliban

Die Taliban haben durchaus gezielt Menschen gesucht und entführt. Wo sie gelandet sind, ist unklar. Dabei handelte es sich meist um die oberen Spezialeinheiten. Wenige Menschen, die sehr viele Details über die Amerikaner berichten können oder welche an wichtigen Kommunikationspunkten saßen. Viele Beobachter vermuten, dass der pakistanische Geheimdienst diese nun verhört. Aber nach allen Berichten der Menschen vor Ort gab es keine systematische Jagd auf alle, die mit den Westlern zusammengearbeitet haben. Die Taliban haben keine Erfahrung mit der Verwaltung und Organisation einen Staates. Sie konnten bei unserer Einreise nicht mal das Röntgengerät für das Gepäck bedienen. Dies startete erst, als ein früherer Mitarbeiter den richtigen Knopf drückte. Daher bitten die Taliban die Bevölkerung explizit zur Arbeit zurück zu kehren, damit der Staat weiter funktioniert. Ein Gehalt wird derzeit nicht gezahlt. So einen Zustand überlebt ein Staat ein bis zwei Monate, dann kippt es. 

Der verlassene Hund

Wandbild vor einem Botschaftsgebäude

Auf der Suche nach Fidelis` Fahrzeugen klappern wird die Botschaften ab. Ein Komplex, auf dem mehrere westliche Botschaften waren, wird ebenfalls von den Taliban gesichert. Wir erklären ihnen, wer wir sind und warum wir auf das Gelände wollen und erhalten Zugang. Vor einer Botschaft wirbt ein meterhohes Wandbild für Pressefreiheit, davor liegen zurückgelassene ballistische Westen und Helme. Es stehen Land Cruiser mit verlängertem Passagierraum herum, welche als Evakuierungsfahrzeuge dienten. Im fensterlosen Laderaum finden zehn Personen platz, vorne können bis zu drei Personen hinter gepanzerten Scheiben sitzen. Die Taliban haben einige Botschaften leer geräumt und die Einrichtung auf die gesicherte Straße davor gestellt. Ein ganzes Fitnesstsudio, Büros, Kleidung. Wir dürfen uns die Sachen nicht genau angucken: „Die Sachen gehören weder euch noch uns. Aber die Botschaft gehört einem privaten Vermieter. Wenn die Sachen drin bleiben und die Miete nicht mehr bezahlt wird, könnte dieser alles wegwerfen“. Es ist so bizarr wie in den vergangenen Tagen. Inhaltlich kann man dieser Logik sicher zustimmen, aber es von einem Taliban zu hören, ergibt eigentlich keinen Sinn.

Einsamer Diensthund

Nachdem wir alles gesehen haben, kommt ein anderer Taliban zu uns und fragt, ob wir uns mit Hunden auskennen. Sowohl Fidelis als auch ich haben mit Hunden gearbeitet und selbst welche gehabt. „Dahinten wurde einer zurückgelassen. Er sieht traurig aus und wir wissen nicht, was wir tun sollen“. In einem Hundegehege finden wir ein Malinois-Weibchen, einen gut ausgebildeten belgischen Schäferhund. Um zu sehen, wie es dem Hund geht, nehmen wir ihn erstmal aus seinem Käfig. Während ich meinen Gürtel als Leine verwende, um mit dem Hund rumzurennen, erklärt Fidelis, wie man mit ihm umgehen muss. Wir bieten an, den Hund direkt mitzunehmen und sicher unterzubringen, bis die Inhaber zurück sind. Auch hier heisst es, dass sie ja kein fremdes Eigentum weiter geben dürften, wir aber bitte genau erklären sollen, was sie tun und lassen sollen. Es sollte noch einen Tag dauern, bis wir den westlichen Inhaber ermittelt und informiert haben. Dieser weiß auch nicht, wie er mit der Situation umgehen soll.

Panzerfäuste vor dem Flughafen

Zwei AT4 Panzerfäuste in einem verlassenen Pickup

Wir hatten Kontakt zum bisherigen Chef des Flughafens, dieser war nun aber durch einen Taliban ersetzt worden. Also fuhren wir zum Flughafen um zu klären, ob und wie wir die verlassenen Fahrzeuge sehen können. Auf dem Parkplatz des Flughafens standen bereits Dutzende von ihnen. Oft waren sie nicht mal abgeschlossen und es lag umfangreich Ausrüstung herum: AT4-Panzerfäuste, tausende Schuss Munition, Helme, ballistische Westen, Pässe, Dokumente von Botschaften, Gasmasken, Antennen für Satelliten-Kommunikation und vieles mehr.

Viele der gepanzerten Fahrzeuge sehen aus, als seien die Frontscheiben absichtlich „blind“ geschossen worden. Ein gepanzertes Fahrzeug ist abgeschlossen, drinnen liegt noch ein Portemonnaie auf dem Boden. Das Fahrzeug hat eine bekannte Sicherheitslücke, über die wir die Heckklappe entriegeln könnten um nachzusehen, wem das Fahrzeug gehörte. Interessant wäre es, aber es hätte keinen wirklichen Nutzen und das Fahrzug wäre ab dem Punkt für alle anderen Menschen zugänglich. Also nichts, was man in dieser Situation tun möchte. 

Niemand stört sich daran, dass wir hier eine Fahrzeuginventur machen. Ein Mann erzählt uns, dass er versucht hat vor einem Monat als Ortskraft evakuiert zu werden. Er hatte einen Rucksack mit Bargeld, Dokumenten und seinem Handy dabei. Im Gedränge verlor er den Rucksack mit allen Dokumenten. Dann stand er ohne irgendetwas am Gate und wurde abgewiesen. Er versteckte sich eine Woche lang. Dann meldeten sich die Taliban bei ihm auf dem Handy. Er solle zur Polizeiwache kommen. Da er nun „enttarnt“ war, sah er keinen Grund mehr sich zu verstecken und ging hin. Dort angekommen wurde er nach seinem Ausweis gefragt. Er erklärte, dass er diesen verloren habe. Die Taliban sagten, dass er deswegen da sei. Sie hätten einen Rucksack mit seinen Sachen und seiner Handynummer gefunden. Er solle mal gucken, ob etwas fehlt und ihn dann mitnehmen.

Er wusste selber nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. In den Medien und von Freunden hatte er gehört, dass die Taliban das Land nach Verrätern durchsuchen, nun geben sie ihm seine Sachen zurück. Auf der anderen Seite mehren sich die Berichte von einzelnen Gräueltaten, über welche die Talibanführung derzeit aus PR-Gründen nicht glücklich ist. 

Der neue Chef des Flughafens

Nach der Runde auf dem Parkplatz betreten wir das Verwaltungsgebäude unter dem Tower. Der Sekretär des Flughafenchefs ist noch der Gleiche wie früher. Im Büro des Flughafenchefs steht die Taliban-Flagge. Uns werden Äpfel aus US-Produktion angeboten und wir können unser Anliegen vortragen. Der Flughafenchef erklärt, dass wir aufgrund der Starts und Landungen von Passagier- und Frachtmaschinen derzeit nicht in die Hangars können. Abends sollte dies aber möglich sein. Er sagt, die Botschaften sollen sich doch einfach an die Taliban wenden, wenn sie ihre Fahrzeuge zurückhaben möchten. Die Taliban hätten Interesse an einem guten Kontakt. Eine halbe Stunde lang erklärt er uns die Situation am Flughafen und im Land, bis er seinen nächsten Termin hat.

Katarischer VIP-Jet wird gut bewacht

Wir kommen wieder und werden erneut freundlich empfangen. Diesmal gibt es Tee und Bonbons. Immer wieder laufen bewaffnete Qataris, welche exzellentes Englisch sprechen, herum. Sie hätten derzeit rund 50 private Sicherheitskräfte auf dem Gelände, welche einen Bereich sichern, der für die Taliban Sperrgebiet sei, erklärt uns einer von ihnen. Mit der Hand am Teleskopschlagstock fügt er hinzu: „Und was immer ihr sucht: Hier ist es nicht. Geht woanders hin!“. Also entscheiden wir uns den Flughafen genauer anzusehen. Wir erhalten die Erlaubnis alles, auch den militärischen Teil, zu sehen. Soldaten der Spezialeinheit 313 sollen uns dabei begleiten und wir dürfen nichts Notieren oder Fotografieren. 

Der Flughafen

Die Soldaten sind ausgestattet, wie alle modernen Soldaten: M4 Sturmgewehr mit ACOG Optik, Helm mit 3M Peltor XPI und dem anderen üblichen Zubehör. Sie bitten uns in ihrem Toyota Hilux Pickup mitzufahren und einfach zu sagen, was wir wo sehen wollen. Dabei müssen sie auf dem Gelände immer wieder mit anderen Taliban sprechen, um auf Parkplätze oder in Hallen zu kommen. Die Befehlsstruktur ist mir weiterhin unklar. Auf dem Flughafen stehen und liegen dutzende zivile und militärische gepanzerte Fahrzeuge – auch von Fidelis Klienten. Auf einem Teil stehen alte Mi-24 Kampfhubschrauber, aber auch zwei neuere, an denen gearbeitet wird. Die MD500 und UH60 Blackhawks der Amerikaner scheinen alle fluguntauglich zu sein. Daneben ungenutzt, mehrere Reihen leichte Kampfflugzeuge vom Typ A-29 Supertucano und Cessna AC-208. Die einzigen flugbereiten Hubschrauber scheinen wenige russische MI-8 zu sein. Aber an vielen Fluggeräten wird gearbeitet. Es scheint, als wolle man sie wieder nutzen. In den Fahrzeugen liegen Unmengen ballistische Westen, Helme, Munition, eine Schrotflinte, mehrere zerlegte Sturmgewehre und Unmengen Verbandsmaterial. Teilweise wurde ins Amaturenbrett geschossen, Teilweise fehlen Steuergeräte und einige Fahrzeuge sehen aus, als sei einfach eine Granate reingeworfen worden.​​​​​​​

Auf vielen Autos ist mit Spraydosen eine Markierung angebracht worden. Auf einem Kleinbus steht „ITALY“ auf einigen Pickups „QRF“ (Quick Reaction Force) auf einem steht „please do not steal“ (bitte nicht klauen). So geht man nur mit dem Fahrzeug um, wenn man nicht erwartet, es noch einmal zu nutzen. Nur wenige Autos wurden einfach abgeschlossen und stehen gelassen. Diese stehen immer noch unangetastet herum.

Der Ort des Anschlages

Buch „The Escape“

Die Bilder der Evakuierung und der verzweifelten Menschen die mitwollten, gingen um die Welt. An einem der Zugangstore zündete ein Selbstmordattentäter eine Bombe, die eine unklare Zahl von Opfern forderte. Wir wissen genau, wie viele westliche Menschen ermordet wurden, bei den Einheimischen heißt es „etwa 100-200 inklusive der später Verstorbenen“. An der Stelle sieht man immer noch einen schwarzen Fleck an der Wand und am Zaun. Auf dem Boden liegen Kleidungsstücke mit getrocknetem Blut und man kann an vielen Details abschätzen, welche Wucht die Explosion hatte. Es gab Gerüchte, dass es in Wirklichkeit eine Mörsergranate oder ein Drohnenschlag gewesen sei, dafür spricht vor Ort aber wenig. Die Wand sieht aus, wie nach einem typischen „Sideblast“ (explosion seitlich des Objektes). Die hohe Zahl der Opfer ist vor allem durch das Gedränge und die schlechte medizinische Versorgung zu erklären. Die Menschen wurden gegeneinander geschleudert und haben sich gegenseitig zerdrückt. Die Druckwelle hat bei vielen zu inneren Verletzungen geführt. Wer noch laufen konnte, wollte weiter auf das Gelände und nicht versorgt werden. Traurig genug, dass an dem Tag so viele Menschen sterben mussten. Inzwischen zeigt sich, dass viele von ihnen in dem Moment gar nicht vor den Taliban hätten fliehen müssen, was ihren Tod nochmal unsinniger macht. Aber wer hätte das zu der Zeit ahnen können?

Nur wenige Meter weiter stehen verlassene Fahrzeuge, Gepäckstücke, persönliche Gegenstände. Hier entstand auch das Foto von westlichen Soldaten, die ein Kleinkind annehmen und über die Mauer in Sicherheit heben. Auf einem Betonsockel liegt ein Buch: David Baldaccis „The Escape“ („die Flucht“). Ein dystopisches Szenario und das einzige Objekt, von dem ich ein Foto machen darf. 

Nach mehreren Stunden auf dem Gelände haben wir alles gesehen. Die Taliban verabschieden sich höflich von uns und stecken uns noch Blumen ans Auto. 

Die Ausreise

Ausreise über die afghanisch-uzbekische Grenze

Sowohl Fidelis als auch ich müssen weiter zu anderen Terminen in anderen Ländern. Die Ausreise sollte sich in diesem Fall aber ähnlich kompliziert gestalten, wie die Einreise. Von Kabul aus finden wenige Flüge ins pakistanische Islamabad statt. Diese sind auf Wochen ausgebucht. Der 400 km Flug kostet in der Touristenklassen mehr als 1.000,- €. Daher überlegen wir, mit dem Auto nach Islamabad zu fahren. Dann brauchen wir aber ein Visum. Ob wir dieses kurzfristig erhalten, ist unklar.

Eine zweite Möglichkeit wäre die Einreiseroute in entgegengesetzter Richtung zu nehmen. Dies bedeutet 24 Stunden im Taxi nach Taschkent. Dabei könnten wir die Strecke Kabul – Mazar-i-Sharif sowie Termiz – Tashkent fliegen und die Fahrzeit auf zwei Stunden reduzieren. Aber es gibt nur einen Flug bis Mazar-i-Sharif und anschließend elf Stunden im Taxi.

Die dritte Möglichkeit wäre ein Flug mit der katarischen Luftwaffe. Diese haben es angeboten, fliegen derzeit jedoch nicht. 

Islamabad liegt keine 400 km Luftlinie von uns, wir wollen von dort aus nur weiter, aber wir können aufgrund einer Formalia nicht dort hin. Für Inhaber eines EU-Passes ein seltenes Gefühl – für die meisten Menschen auf der Welt völlig normal. 

Resume

Wie soll man das ganze beschreiben? Es ist bizarr und wirr. Ein Land, beherrscht von Terroristen, welche sich uns gegenüber freundlich geben und hilfsbereit sind. Sie sind unfähig den Staat zu führen, hatten dies auch nie vor, aber auch sie hatten nicht damit gerechnet, dass die afghanische Regierung so schnell flieht und die Armee keine Gegenwehr leistet. Niemand mag eine Prognose abgeben, wie es in Afghanistan in einem Monat, einem Jahr oder zehn Jahren aussieht. Mein Besuch hier war eine subjektive Momentaufnahme eines Landes im Umbruch, aber bisher ohne das erwartete Chaos.

Kurz: Es ist eine der Reisen, die so verworren war, dass es nicht mal für ein Resume reicht. 

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