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Die Ausschreitungen von Bat Yam und Lod

Der Nahostkonflikt ist für Außenstehende oft schwierig zu verstehen. Mal ist er stärker, mal ist er schwächer, mal gibt es Friedensgespräche und mal militärische Interventionen. Doch so schlimm, wie an elf Tagen im Mai 2021 war es in Israel seit 2014 nicht mehr. Der Auslöser für den damaligen Gaza-Krieg war die Entführung und Tötung israelischer Jugendlicher durch die Hamas. In sieben Wochen wurden tausende Raketen der Hamas abgefeuert, mehr als 10.000 Menschen in Gaza verletzt und mehr als 2.000 getötet. Seitdem war es relativ ruhig, sofern man in diesem Konflikt von Ruhe sprechen kann.

Bat Yam – Fotograf: Gilabrand

Seit 2019 fanden in Israel vier Parlamentswalen statt. Die größte Zahl an Stimmen hatte stets die konservative Likud Partei unter der Führung des Hardliners Benjamin Netanyahu, welcher es jedoch nie schaffte eine Regierung zu bilden. Anfang Mai fiel die Aufgabe der Regierungsbildung an die Opposition, welche erstmals auch eine arabische Partei mit in ihr Bündnis aufnehmen wollte. Die Hoffnung, dass dies ein erster Schritt in Richtung Frieden sein könnte, keimte auf. 

Parallel näherte sich ein bereits Jahrzehnte andauernder Rechtsstreit um drei Häuser im Stadtteil Sheikh Jarrah (Jerusalem) dem Ende. Die Häuser gehörten bis 1948 Juden, welche enteignet und vertrieben wurden. Inzwischen werden sie von Palästinensern und deren Nachfahren bewohnt, welche wiederum aus ihren ehemaligen Häusern vertrieben wurden. Das Gericht sprach die Häuser den ehemaligen jüdischen Besitzern zu. Aus Sicht der einen ist dies ein Sieg des Rechtsstaates, aus Sicht der anderen eine institutionelle Diskriminierung. 

Für die Hamas in Gaza war es ein gutes Symbolbild. Die Propaganda der Hamas lebt vom Narrativ der gierigen und menschenverachtenden Juden. Die Terror-Organisation wurde bei den Wahlen zum palästinensischen Legislativrat 2006 von 44 % der Wählerinnen und Wählern gewählt und stellte somit die größte Fraktion. Seitdem fanden keine Wahlen mehr statt. Wie hoch ihre Unterstützung in der Bevölkerung heute ist wird häufig diskutiert, jedoch gibt es keine Datenbasis dafür. Da die Hamas einen großen Einfluss auf die Bildungs- und Medienlandschaft in Gaza und dem Westjordanland hat, wird ihre Propaganda dort von weiten Teilen der Bevölkerung unreflektiert aufgenommen. Doch auch in Israel hat die Hamas einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die arabisch-israelische Bevölkerung, welche rund 20 Prozent der Einwohner ausmacht.

Die bevorstehende Räumung der drei Häuser wurde zum Anlass vieler gewalttätiger Proteste genommen, welche am 07. Mai 2021 vorerst in einer Auseinandersetzung weniger Besucher der Al-Aqsa-Moschee und israelischer Sicherheitskräfte gipfelte. Hierbei verfolgten die israelische Polizei einzelne Personen bis in die Moschee und setzte Blend- und Reizgasgranaten ein. 

Die Moschee in Jerusalem ist für Moslems der drittheiligste Ort ihrer Religion. 

Die Bilder dieser Auseinandersetzung nahm die Hamas zum Anlass, um ab dem 09. Mai 2021 aus Gaza heraus Raketen auf Israel zu feuern. Diese werden nicht von militärischen und gekennzeichneten Anlagen aus verschossen, sondern vom offenen Gelände und aus dicht besiedelten Wohngebieten. Die Raketen können nicht gelenkt werden und folgen einer Flugbahn welche vom Winkel der Abschussrampe, dem Wind und weiteren Faktoren abhängen. Somit ist es kaum möglich zu zielen. Die Raketen können lediglich auf eine Stadt genau ausgerichtet werden. Ein Großteil von ihnen wird vom israelischen Raketenschild „Iron Dome“ abgefangen. 

Infolge dieser neuen Eskalation des Konfliktes kam es zu Demonstrationen und Ausschreitungen in vielen Städten Israels. Besonders in den sogenannten „gemischten Städten“, also Städten in denen sowohl Juden als auch muslimische Araber wohnen, prallten gewaltbereite Gruppen beider Seiten aufeinander. 

Am Montag dem 10. Mai 2021 schossen jüdische Israelis dann auf arabische Israelis und gaben an, von diesen bedroht worden zu seien. Ein Mann wurde getroffen und starb. Die jüdischen Israelis wurden am darauffolgenden Tag festgenommen. Ihnen wird Mord vorgeworfen. Der Richter Tal Anar sagte gegenüber Pressevertretern, dass eine Notwehrsituation „nicht mit den objektiven Ergebnissen [der Untersuchung] übereinstimmt“.

Traurige Berühmtheit erlangten während der mehrere Tage andauernden Ausschreitungen unter anderem die Städte Lod und Bat Yam. In Lod brannten am 11. Mai 2021 eine Synagoge, in den darauf folgenden Tagen zwei weitere Synagogen. In Bat Yam hatten sich radikale Juden seit Tagen auf ein Aufeinandertreffen mit arabischen Israelis vorbereitet. In Whatsapp-Gruppen mit Namen, wie „Moslem-Nutten“ organisierten sich hunderte meist junge Menschen. Es wurde Propaganda verbreitet und gegen arabische Israelis gehetzt. Wie groß die Basis dieser Gruppen wirklich ist, lässt sich bis heute nicht sagen. Die Polizei geht „im Kern von einigen Hunderten“ aus. Am 12. Mai 2021 wurden in den Gruppen mehrmals die Aufrufe verbreitet, sich in Bat Yam für eine „Jagd auf Araber“ ab 18:00 Uhr vorzubereiten. Man solle Kippa tragen und Israelflaggen mitbringen. Ziel sei es die „Ehre“ der jüdischen Bevölkerung Israels wieder herzustellen und zu zeigen, dass man sich nicht in die Opferrolle stecken lassen würde.

Im Laufe des Abends wollte der arabische Israeli Saeed Mousa mit seinem Auto zum Strand fahren. Sein Fahrzeug wurde von der Menge angegriffen. Inzwischen waren mehrere Kamerateams vor Ort, welche die folgenden Ereignisse teilweise live im Fernsehen übertrugen. Saeed Mousa versuchte zurückzusetzen, um der Menge zu entkommen. Dabei rammte er aber ein parkendes Fahrzeug. Sein Versuch anschließend vorwärts durch die Menge zu fahren und zu fliehen wurde von der Menge im Internet später zum Angriff auf sie selbst umgedeutet. Das sollte den folgenden Angriff auf Saeed Mousa rechtfertigen. Saeed wurde aus dem Auto gezerrt und von mehreren Tätern verprügelt, bis er regungslos liegen blieb. Die Bilder gingen um die Welt, die anwesenden Journalisten wussten selber nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Einige vermuteten, Saeed sei gerade getötet worden. Teilweise wandten sie sich von der Szene ab und kehrten ins Studio zurück, teilweise filmten sie weiter, wie arabische Geschäfte zerstört und in Brand gesetzt wurden. Die Polizei war zu diesem Zeitpunkt kaum anwesend und schritt auch im Laufe des Abends kaum ein. 

Die radikalen Gruppen beider Seiten nehmen seither die Taten der jeweils anderen als Begründung für ihre eigenen Angriffe. Dabei wird die Reihenfolge der Ereignisse oft so angepasst, wie es der eigenen Propaganda nützt.

In den Städten wurde der Notstand ausgerufen. Es wurde zusätzliche Polizeikräfte geschickt. Der Premierminister Benjamin Netanyahu kommentierte die Nacht mit den Worten: „Ich habe den ganzen Tag über Berichte darüber erhalten, was hier in der Stadt [Lod] passiert, und ich sehe das äußerst ernst. Es ist eine Anarchie von Randalierern, die wir nicht akzeptieren können. Wir werden Recht und Ordnung wieder herstellen.“ (“I have been receiving updates all day on what is happening here in the city and I view it extremely gravely. It’s anarchy from rioters that we cannot accept. We will restore law and order.”) 

Am Ende waren viele Fragen offen und der Riss in der Gesellschaft war so groß, wie lange nicht. 

Zwei Wochen später treffe ich in Bat Yam Aviv (21) und Yoram (25), welche angeben Zeugen, aber nicht Teilnehmer der Ausschreitungen hier in der Stadt gewesen zu sein. „Die Araber müssen verstehen, dass das unser Land ist. Die haben 26 Länder in denen sie leben können. Und wenn sie so stark sind, wie sie meinen, dann wären sie nicht so verprügelt worden.“ („The Arabs have to understand, that this is OUR country. The already got 26 countries to live in. And if they are as strong as they think, they wouldn’t have been beaten like this“). Mitleid für Saeed Mousa haben sie nicht. „Er ist einfach in die Menge gefahren. Ein Verrückter, der uns Juden umbringen wollte! Davon gibt es doch jede Menge Videos und 13 (israelischer Fernsehsender, Anm. d. Red.) waren auch da! Das hat er verdient.“ („He crashed into the crowd. Crazy guy who wanted to kill us Jews! There are tons of videos and 13 was there too! He deserves it.“). 

Auf die Frage, woher sie von der Sache wussten, geben sie an, in einigen der WhatsApp-Gruppen zu sein. Das sei hier normal. Dort tausche man Informationen aus, informiert sich über Veranstaltungen und sei einfach auf dem Laufenden über das, „was die Araber wieder planen“. Eine organisierte Szene sei das Ganze jedoch nicht. Es gäbe keine zentrale Figur, keinen Treffpunkt, keine Webseite, keinen Namen und keine Erkennungszeichen. Es sei lediglich eine Gruppe von Gleichgesinnten. Den Aufruf zur Gewalt hätten sie zwar gesehen, aber für einen Scherz gehalten. „Bis der Verrückte kam, war doch alles friedlich“. Die zerstörten arabischen Läden wollen sie nicht bemerkt haben. 

Eine Straße weiter in einem Café sitzt Yael (50), welche seit 2000 hier wohnt. „Dass es Probleme gibt, war doch allen klar. Beide Seiten mögen sich nicht, beide Seiten trauen sich nicht. Aber sowas? Wie soll man das flicken? Ein Araber halb totgeschlagen, eine Synagoge angezündet? Keiner will wegziehen, all betrachten es als ihre Stadt. Ich habe keine Ahnung, wo das enden soll. Die Täter kommen jetzt vor Gericht. Schön. Aber ein Gericht kann ja keine Nachbarn zwingen, sich wieder zu grüßen“. Sie ist den Tränen nahe und winkt ab. „Danke für deine Zeit, aber mehr habe ich dazu nicht zu sagen“. 

Landesweit wurden im Nachgang der Proteste mehr als 1.500 Personen festgenommen, etwa ein Drittel jüdische Israelis, zwei Drittel arabische Israelis. Es konnten drei Personen zwischen 16 und 25 Jahren ermittelt werden, welche Saeed Mousa verprügelt haben. Sie stehen bereits vor Gericht. 

Die jüdischen Täter haben kaum Unterstützer in Israel. Weder die liberalen noch die orthodoxen Juden noch der Premierminister, ein konservativer Hardliner, wollen mit ihnen zu tun haben. Aber der Schaden, den wenige Menschen in dieser Nacht angerichtet haben, ist immens.

Auf beiden Seiten haben die Unbeteiligten Sorge, dass die radikalen Kräfte auf der anderen Seite wachsen könnten. Dies begünstigt wieder die Empfänglichkeit für radikale Propaganda auf der eigenen Seite. In Bat Yam sind die Straßen heute leerer als vor den Ausschreitungen. Nachbarn grüßen sich nicht mehr, das Mistrauen und die Missgunst steigt. Die radikalen Kräfte haben das erreicht, was sie wollten: Einen Keil in die Gesellschaft treiben. 

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