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Ein ganzes ukrainisches Dorf im Geisel-Keller der Russen

Russland wollte die Ukraine in drei Tagen einnehmen, noch am Tag der Invasion wollten sie die Hauptstadt Kyiv erreichen. Der deutsche Finanzminister Christian Lindner erklärten dem ukrainischen Botschafter am Morgen des Überfalls, dessen Land habe eh nur noch wenige Stunden. Zwischen der belorussischen Grenze und Kyiv liegt die Großstadt Chernihiv, die 38 Tage lang belagert, jedoch nicht eingenommen wurde. Beim Versuch, die Stadt zu umstellen, wurden viele Dörfer überfallen, so auch Yahidne im Süden Chernihivs, an der Schnellstraße M01 nach Kyiv. 

Die Schule von Yahidne – mit Gedenk-Stele und Tür mit der Aufschrift „Kinder“

Eingenommen wurde dieses Dorf, in dem laut letzter Volkszählung 318 Personen lebten, von der 5. Garde-Mot-Schützenbrigade, die aus der russischen Autonomen Republik Tuwa an der Grenze zur Mongolei stammt. „Die sprachen nicht mal richtig russisch. Wir sprechen das unser Leben lang, aber die haben uns kaum verstanden“, erklärt mir ein Überlebender vor Ort. 

Nachdem einige Dorfbewohner in ihre Häuser und Keller gesperrt worden waren, wurden sie ab dem 3. März 2022 im Keller der lokalen Schule zusammengepfercht. Fast das gesamte Dorf und Besucher aus Chernihiv. Diese hatten die Großstadt verlassen, weil sie einen Vorort für sicherer hielt. So ging es zeitgleich auch vielen Menschen aus Kyiv, die nach Bucha geflohen waren. Im Keller der Schule wurden – laut der Überlebenden – 368 Personen zwischen eineinhalb Monaten und 92 Jahren alt auf rund 190 Quadratmetern eingesperrt. Der Keller umfasst mehrere unterschiedlich große Räume, einen kleinen Flur und eine Treppe. Die wenigen Lichtschächte bringen kaum Licht, eine Heizung oder Toiletten gibt es nicht. Es war zu der Zeit noch kalt, draußen lag Schnee.

Kellerraum, in dem 159 Erwachsene und 39 Kinder gefangen gehalten wurden. Links unter der Bank lagen die Leichen.

Auf der Tür zum Keller der Schule stand mit roter Farbe „Achtung Kinder“ – in der Hoffnung, Schulen mit Kindern würden nicht angegriffen werden. Diese Hoffnung hatten auch die Bewohner Mariupols, als sie metergroß, aus der Luft zu lesen, „Kinder“ auf den Platz vor dem Theater von Mariupol schrieben. Die Russen bombardierten es dennoch. 

Die beiden Etagen der Schule von Yehidne wurde als Militärbasis genutzt, die Dorfbewohner im Keller sollten als menschlicher Schutzschild dienen. Ein Kriegsverbrechen. Eines von hunderten an diesem Tag. Und am Tag davor. Und am Tag danach. Wie belanglos ein Kriegsverbrechen geworden ist, sieht man daran, dass es für die Täter keine Folgen hat. Nicht jetzt und wohl kaum in ihrem späteren Leben. Es gab im ersten Stock der Schule sowie auf dem Hof ausreichend Toiletten für alle. Das Gelände war vom russischen Militär gesichert. Dennoch durften die Geiseln keine Toiletten nutzen. Man wollte sie zum Spaß demütigen. Sie suchten Plastikeimer, in welchen sie ihre Notdurft verrichteten. Diese durften sie manchmal, maximal täglich, draußen ausleeren. 

In diesem Raum wurden 37 Personen, davon neun Kinder, gefangen gehalten

Es gab kaum Licht, es war kalt und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Der Platz reichte nicht zum Hinlegen. Viele mussten durchgehend sitzen – einen Monat lang. Manche auf Stühlen, der Rest auf dem Boden. „Hier habe ich gesessen! Auf diesem Stuhl. Mehr Platz war nicht. Meine beiden Enkel konnten ab und zu auf dem Boden schlafen“. Er führt uns durch jeden Raum, erklärt, was wann wo passiert ist und wie er es geschafft hat, nicht verrückt zu werden. Er musste für die Enkel da sein, stark bleiben, einfach überleben. „Nach ein paar Tagen durften wir immerhin Feuer machen und draußen im Brunnen Wasser hohlen. Aber es gibt nur eine mechanische Pumpe. Die anderen mussten jeden Tag mehr als tausendmal pumpen, um Wasser für uns alle zu holen. Aber das konnte man kaum trinken. Das ist nicht zum Trinken gedacht.“ 

Ein überlebender zeigt den Kalender an der Tür

Sie malten Kalender an die Wände, um einen Überblick zu behalten. Und sie schrieben an die Wände, wann Personen starben. Alle kannten sich. Es waren Freunde, Bekannte, Nachbarn. Die Toten lagen mehr als eine Woche zwischen den Lebenden, bis sie diese beerdigen durften. Sie erhielten eine Stunde Zeit, um Gräber auszuheben, eine Beerdigung abzuhalten und wieder in den Keller zu gehen. Der Priester, der zu den Geiseln gehörte, versuchte eine würdige Beerdigung abzuhalten. Doch nicht mal die versprochene Zeit gestand man ihnen zu. Zum Spaß eröffneten Russen das Feuer auf die Gruppe. Die Menschen sprangen zum Schutz in die Gräber, einige wurden verletzt. Alle mussten zurück in den Keller. 

Kondenswasser zum Trinken in einer Plastikflasche (rechts) sammeln

Im Keller fanden sich verschiedene Stühle und alte Tafeln, welche die Geiseln als Tische und Sitzgelegenheiten nutzten. Mit alten Regenrinnen und aufgeschnittenen Flaschen sammelten sie unter der Decke Kondenswasser zum Trinken. Unregelmäßig erhielten sie wenig Essen. Einmal warfen die Soldaten ein dreckiges, schimmliges Brot in einen Raum und filmten zu ihrer eigenen Belustigung, wie die Geiseln es aßen.

An einem Tag brachten die Soldaten eine russische Zeitung: Selenskyj habe kapituliert, Kyiv sei gefallen. Die Geiseln mussten bereits am ersten Tag ihre Handys abgeben, hatten keinen Zugang zu Informationen. Sie glaubten der Propaganda nicht, wussten aber auch nicht, was die draußen erwarten würde. 

Russische Propaganda sollte die Geiseln verwirren

Durch das lange Sitzen hatten viele Druckstellen und offene Wunden, die sich entzündeten. Einer der Soldaten sagte ihnen: „Wem es hier nicht passt, der kann sich ja aufhängen!“

Nach 27 Tagen, am 30. März 2022, zogen die Russen ab. Die Geiseln wussten nicht, was los war. War es wieder ein sadistisches Spiel und jede Geisel, die herauskam, wurde erschossen? Oder waren sie wirklich weg? Einige Geiseln gingen vorsichtig raus. Einer rannte nach Hause, holte ein Radio: Es liefen nirgends Nachrichten. Handys hatten sie keine mehr. Doch dann die Klarheit: Im Radio lief ukrainische Musik! Sie wussten, sie waren in Sicherheit.  

Am Ende meines Besuches vor Ort frage ich, was die Menschen hier tun würden, wenn sie die Soldaten nochmal wieder sehen könnten. „Sie haben unser Leben zerstört, das Leben eines ganzen Dorfes, das unserer Kinder. Und das alles nur zu ihrem Spaß. Ich würde sie einfach abknallen.“

Das erste Exponat: Ein Turm von einem Panzer

Aus der Schule und dem Gelände drumherum soll ein Erinnerungsort werden. Es wird bereits geplant, wie er gestaltet werden soll. Es gibt bereits eine Stele, die an das grausame Ereignis erinnert, und erste Exponate, wie den Turm eines Panzers. 

An vielen Orten in der Ukraine wird jetzt schon an Gedenkstätten und Museen gearbeitet. Es werden viele sein. Vermutlich in jedem Dorf. 

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