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Ukraine: Museale Darstellung des Krieges in zukünftigen Gedenkstätten

Mehr als ein Jahr nach Beginn der Invasion der Ukraine besteht Putin weiter darauf, angeblich nur militärische Ziele anzugreifen.

Das geht mir durch den Kopf, während mir in Kharkiv der ausgebombte Streichelzoo in einem Familienfreizeitpark gezeigt wird. „Das waren alles gut ausgebildete Ziegen aus einer militärischen Spezialeinheit! Das kann ich bestätigen“ – erklärt ein ukrainischer Soldat grinsend, welcher zufällig vorbeikommt. Immerhin hat er seinen Humor nach allem, was diese Stadt nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt erlebt hat, nicht verloren.

Durch Schrapnelle beschädigte Figur im Maxim-Gorki-Park Kharkiv
Durch Schrapnelle beschädigte Figur im Gorky-Park Kharkiv

Im Gorky-Park ist schon viel wieder aufgebaut und repariert. Viele der Fahrgeschäfte haben Splitter von Granaten oder Raketen abbekommen, einige verladbare Hütten sind abgebaut worden. An der Achterbahn sieht man ein gesprenkeltes Muster, welches an weiße Giraffenflecken auf grünem Grund erinnert. Jeder dieser Punkte ist eine reparierte Stelle in der grünen Konstruktion, welche anschließend mit weißem Rostschutz versiegelt wurde.

Man kann sich vorstellen, wie Familien hier den Tag im kostenlos zugänglichen Parkt verbracht haben, der mit kostenpflichtigen Fahrgeschäften und verschiedenen Verkaufsständen gepflastert ist. Ein gutes Konzept, welches alle teilhaben lässt. Anders, als die üblichen Freizeitparks mit einem pauschalen Eintritt für alle.

Durch Schrapnelle beschädigtes Fahrgeschäft im Maxim-Gorki-Park Kharkiv
Durch Schrapnelle beschädigtes Fahrgeschäft im Gorky-Park Kharkiv

Die Grünanlage ist gepflegt, die Mülleimer sind geleert. Mehr als 20 Mitarbeiter des Parks sind auch heute unterwegs und kümmern sich um alles. Normalität wiederherstellen und erhalten, wo es geht. In einem nahegelegenen Süßigkeitenladen Vedmedyk gibt es alles, was das Herz begehrt. Die Decke ist traumhaft gestaltet, die Ladeneinrichtung vermutlich hundert Jahre alt, aus massivem Holz. Aus Pressspan hingegen sind die Holzplatten vor den Fenstern, die Kunden im Falle eines Raketenangriffes vor Glasscherben schützen sollen.

Die Druckwelle lässt Fenster oft im Umkreis von mehr als hundert Metern zerbersten. 

Süßigkeitenladen Vedmedyk in Kharkiv (Innenraum)

Das Werbeschild über der Eingangstür hat bei einem vergangenen Angriff einige Buchstaben verloren und ein Schrapnell abbekommen. Doch das trübt die gute Stimmung drinnen nicht. Die Menschen lernen einfach damit zu leben. 

Süßigkeitenladen Vedmedyk in Kharkiv von außen

Unsere Gruppe umfasst gerade mal zehn Personen. Alle sind angereist, um die touristische und künstlerische Zukunft der Stadt zu besprechen. Ich bin der einzige ausländische Teilnehmer.

Eingeladen wurde ich von Mariana Oleskiv, der Vorsitzenden der Staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung der Ukraine. Wir lernten uns am Rande der ITB in Berlin kennen. Ich hatte zuvor einen abgeschossenen russischen Panzer in Berlin ausgestellt, sie die Messe besucht. Anschließend besuchte sie in die Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen“ sowie die Ausstellung über Memes im Krieg im Berlin Story Bunker. Wenn in Kharkiv Kunst und Kultur rund um den bald vergangenen Krieg entsteht, gehört es zu ihren Aufgaben, das bei Touristen bekannt und für diese zugänglich zu machen.

Meme-Ausstellung im Berlin Story Bunker

Von Berlin nach Kharkiv sind es rund 2.000 Kilometer. Normalerweise ein kurzer Flug, welcher aber aufgrund des Krieges und der Flugabwehr nicht stattfindet. So ist es eine dreitägige Anreise in Etappen. Zunächst von Berlin zur polnisch-ukrainischen Grenze, dann über die Grenze bis Kyiv, dann nach Kharkiv. Zurück das gleiche. Sechs Tage im Auto oder Zug für ein mehrstündiges Meeting nahe der Front dürfte die meisten Teilnehmer abgeschreckt haben. Doch es sollte sehr viel interessanter werden, als man denkt. 

Mariana Oleskiv und Enno Lenze in Kharkiv

Abgeholt werden wir am Bahnhof von der Stadt Kharkiv. Das luxuriöse Kongresshotel in der Stadt hat ein Lager mit allen relevanten Staatsflaggen, daher stand für mich auch die deutsche Flagge im Konferenzraum. Alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer repräsentieren verschiedene Teile der Verwaltung der Stadt oder des Oblast Kharkiv sowie die staatliche Tourismusagentur, Museen, Künstler und Tourismusorganisationen.

Ich habe in den vergangenen Jahren in verschiedenen Krisengebieten über touristische Fragen beraten, soll daher meine Erfahrung teilen. Mit der NS-Zeit ist das Ganze nur bedingt zu vergleichen, da diese lange zurück liegt, allgemein als der Terrorismus gesehen wird, der er war, und relativ gut aufgeklärt und erklärt ist. Die Lage in der Ukraine ist anders.

Die Linke fordert in Deutschland immer noch die Abschaffung der Nato und möchte Russland in die deutsche Sicherheit einbeziehen, während andere Gruppen einfach kein Problem mit dem anhaltenden Völkermord haben.

Auch sind die Emotionen bei einem laufenden oder kürzlich vergangenen Konflikt anders. Die am ehesten vergleichbaren Kunst- und Museumsprojekte, welche mir einfallen, sind die aus Kurdistan, die den Kampf gegen das Saddam-Regime sowie gegen den Islamischen Staat behandeln.

Es gibt mit dem Halabja-Monument einen Erinnerungsort an die irakischen Massenvernichtungswaffen, die Saddam gegen die Kurden einsetzte. Dort werden Touristen von Überlebenden der Angriffe durch die Ausstellung geführt. Im „Amna Suraka“, dem „Roten Haus“ wird mit lebensgroßen Figuren am authentischen Ort erklärt, wie Regimegegner gefoltert wurden. Das aktuellste Projekt ist das „Museum der Märtyrer des Krieges gegen den IS“. Hier gibt es szenische Darstellungen mit Puppen, viele Social-Media-Videos, aber auch klassische Artefakte, wie Stempel und Flaggen der IS-Verwaltung. All diese Formate wurden mit Blick auf die Zielgruppe geschaffen – so wie auch in meinem Museum im Berlin Story Bunker. 

Szenische Darstellung von Folter im Amna Suraka in Sulaymaniyah, Kurdistan

Von diesen berichte ich auch, wie ich vor der Planung der Ausstellung selber Touristengruppen führte, um ein Gefühl für deren Wissensstand zu bekommen. Aus Sicht der musealen deutschen Experten eine wertlose oder gar falsche Arbeit, wie ich damals erfahren durfte. Doch es war interessant. Die häufigstem Fragen damals waren „Ist Hitler wirklich tot?“ Und „gibt es seinen Bunker noch?“. Die antworten „Ja, er ist tot“ und „Nein, den gibt’s nicht mehr“ lassen sich in einer Minute googeln und sind X-mal wissenschaftlich belegt. Das hindert Leute nicht daran, diese blöden Fragen zu stellen.

Aber sind sie so blöde, wenn viele diese Fragen stellen? Und wenn sie mich das fragen, mich als den Experten sehen, dann muss ich ihnen diese Fragen halt ruhig und ordentlich beantworten. Daher beginnt die Ausstellung auch mit einer Zeitachse, welche zeigt: Erst gab es die Könige und Kaiser, dann Hitler, dann die Mauer und den Kalten Krieg. Mag einfach klingen, ist aber nicht allen klar.

Auf dem gleichen Niveau ist ein Kommentar zum Ukraine-Krieg, der mir immer wieder durch den Kopf geht. Als in der Schlacht um Kyiv eine Brücke im Vorort Irpin zerstört wurde, gingen Bilder um die Welt in denen Familien zu sehen waren, welche über Trümmer und Holzbretter im Fluss in Sicherheit liefen. Ein bekannter sah die Bilder und sagte: „Ja schrecklich. Aber wer ist denn so blöd und nimmt seine Kinder mit an die Front?“. Als ich diese Geschichte in der Runde in Kharkiv erzählen fängt ein Teil laut an zu lachen, während ein anderer Teil mich einfach entsetzt anstarrt.

Ja – Menschen sind so blöd. Man kann es nicht anders sagen. Aber dieses Wissen ist entscheidend, um es genau diesen Menschen später zu erklären. Auch eine Frage, die ich oft gestellt bekomme: „Warum geht ihr bei Luftangriffen nicht in den Bunker?“ Nun, weil es keine gibt. Die entstehen nicht, nur weil ein Krieg beginnt. „Aber hätte die Ukraine nicht welche bauen können?“ kommt dann oft als Nachfrage. Meine Gegenfrage, warum wir dann nicht Bunker in Deutschland bauen, stößt oft auf Unverständnis: „Na … weil wir ja keinen Krieg haben…!?“

CNN berichtet von der zerstörten Brücke in Irpin bei Kyiv

Doch das ist nur ein Aspekt der ganzen Arbeit, ein theoretischer. Meine Hinweise werden irgendwann, vermutlich in Jahren, in Teile der Planung einfließen. Derzeit geht es um ganz andere Dinge: Wer plant was? Und was möchte man planen?

Aktuell verarbeiten Künstlerinnen und Künstler ihre Eindrücke, viele Gruppen sammeln Zeitzeugenberichte und Artefakte, andere archivieren Social-Media-Inhalte, bevor diese irgendwann verschwinden. An vielen Stellen geschieht dies, selten ist es untereinander koordiniert. 

Eine andere Frage ist: Aus welchem Topf werden welche der Arbeiten finanziert? Wer kann wie freigestellt werden? Wer hat welche Fähigkeiten und Kapazitäten? Im Bezug auf ein kommendes Museum: Offener Wettbewerb oder geschlossen, von einer Expertenkommission?

Alles sehr komplexe Themen voller Fachbegriffe, welche der Simultandolmetscher ohne Probleme übersetzt, inklusive aller Kommentare und Wortwitze. Er übersetze schon in der Sowjetunion und spricht ein so sauberes Deutsch, dass ich ihn vorher für einen deutschen Teilnehmer hielt.

Zerstörtes Wohnhaus in Kharkiv

Doch eine zentrale Frage ist kompliziert: Schäden renovieren oder erhalten? Ich meine, man muss einzelne zerstörte Objekte oder Gebäude erhalten, um den Schrecken des Krieges vermitteln zu können. Andere wollen dies aus Sorge vor einer Re-Traumatisierung nicht, was natürlich ebenfalls ein valides Argument ist.

Die anwesende Managerin des Kongress-Hotels hat einen viel pragmatischeren Ansatz: In einem Viersterne Hotel kann man keine kaputten Türen und Scheiben haben. Das versteht niemand. An anderer Stelle könnte es gehen. Bei zerstören Wohnhäusern, welche nur noch ein Krater sind, ist es ähnlich kompliziert. Wenn man den Krater einer S-300 Rakete sieht, versteht man die Gewalt. Es gibt meist nur noch Grundmauern und einen Krater, in dem man komplett stehen kann. Das vermittelt einem Besucher das Grauen.

Aber die Nachbarn haben dort Freunde verloren – sollen die jeden Tag daran erinnert werden? 

Ausgebombter Dachstuhl in Kharkiv

Reihum tragen alle zur Diskussion bei, die Blickwinkel variieren stark: Privates Museum, öffentliches Museum, Stadtverwaltung, Hotel, Touristisch, Museal, Künstlerisch. Man merkt sehr, dass dies ein erstes Meeting ist, bei dem die Themen oft noch nicht gut verknüpft sind, sich Lücken zwischen den einzelnen Bereichen auftun oder einfach zwei ganz verschiedene Teile der gleichen Diskussion parallel laufen, sich aber nicht wirklich treffen.

Welches Narrativ möchte man prägen? Das der Ukraine als Opfer des Überfalls? Oder das der Ukrainerinnen und Ukrainer als kämpfende Helden? „Wenn du stehen bleibst, wirst du zum Opfer. Wenn du dich umdrehst und Kämpfst zum Helden. Und wir sind Helden!“ erklärt einer der Anwesenden, der den gesamten Krieg in Kharkiv verbracht hat. Die meisten Stimmen zu. Ein Künstler merkt aber an, dass er im Kern zustimmt, es im Details aber weitere Schattierungen gäbe, die man nicht vergessen dürfe. Was ist zum Beispiel mit der Müllabfuhr? „Es gibt Glückliche Momente, die man nachher kaum erklären kann. Als die Müllabfuhr das erste mal seit Wochen kam, haben wir applaudiert und uns gefreut. Die haben nicht gekämpft – aber sie sind geblieben!“

Treffen der Vertreter aus den musealen, künstlerischen und touristischen Bereichen

Ich war bereits vor einem Jahr in diesem Hotel, im April 2022, als Kharkiv noch permanent bombardiert wurde. Im Keller erhielten wir in der Mitarbeiterkantine Essen, dort gab es auch Duschen, alle Lichter waren ausgeschaltet oder gedämmt; Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Familien und Tieren waren hier untergekommen. Und viele Journalistinnen und Journalisten. Nun ist die Lage anders, doch die Hotelchefin lädt mich zu einer Führung ein und zu einem Besuch der Kantine. Dort treffe ich auf Mitarbeiterinnen, welche den gesamten Krieg lang hier waren. Mit ihnen hatte ich also schon vor einem Jahr hier etwas gegessen. 

Anschließend fährt unsere ganze Gruppe in den Vorort Saltivka, in dem viele zerstörte Gebäude stehen. Eines fällt besonders auf. Rund fünfzehn Etagen hoch, von einer Rakete oder Artillerie getroffen. Teile des Gebäudes sind bis zum Boden eingestürzt, einige Wohnungen sind abgerissen, der Fahrstuhlschacht liegt frei. In einer Wohnung weit oben hängt noch eine Jacke an der Garderobe und weht im Wind.

Wie muss es sein, als Nachbar gegenüber zu wohnen und jeden Tag diese Jacke zu sehen, die an einen Nachbarn erinnert, der dort gewohnt hat? Eine schreckliche Vorstellung. Die umliegenden Häuser sind teilweise bewohnt oder werden gerade repariert. Zwischen den Häusern steht ein Klettergerüst.

Zerstörtes Hochhaus in Kharkiv

„Da Haus würden wir gerne erhalten“, erklärt Julia, eine der Teilnehmerinnen. „Aber die ehemaligen Bewohner wollen es nicht. Sie halten den Anblick nicht aus, was man verstehen kann,“ fährt sie fort. Dieses Haus fasst den Grund unseres Treffens hier gut zusammen. Abreißen oder erhalten? Zu einem Kunstprojekt machen? Wieder aufbauen? Und wen bezieht man in die Entscheidungsfindung ein, wen nicht?

„Viele Fragen, die man in dieser Runde in der Kürze der Zeit nicht beantworten kann. Aber wir haben einen Anfang gemacht und arbeiten jetzt alle diese Punkte ab“, erklärt Mariana, welche uns eingeladen hat.

Luftalarm in Teilen der Ukraine

Am Nachmittag machen wir uns auf den Weg zurück nach Kyiv. Kurz nach der Abfahrt meldet mein Handy „Luftalarm in Kharkiv – Suchen Sie sofort den nächsten Schutzraum auf“. Am Ende schlugen sechs Raketen in Kharkiv ein. Also frage ich bei den anderen, die in Kharkiv leben, nach, ob sie in Ordnung sind: Glück im Unglück – es gab einigen Sachschaden aber keine Toten.

Chat-Nachrichten nach dem Raketenangriff

Während ich den Weg nach Kyiv fortsetze, erreicht mich die Nachricht der Leute aus Kharkiv, dass sie losgehen, Artefakte sammeln, Zeitzeugenberichte auf Video einfangen. Die Unzerstörbarkeit der Menschen hier beeindruckt mich immer und immer wieder. Russland wollte die Menschen, ihre Kultur, ihre Erinnerung vernichten. Ganz offensichtlich haben sie es nicht geschafft.  

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