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Kharkiv: Cappuccino nahe der Front

Es gibt Frühstück! Alles, was das Herz begehrt und guten Kaffee. Das Café ist gut gefüllt. Das Personal ist schnell und professionell und jongliert problemlos mit drei Sprachen. Die Sonne scheint, Bombenwetter! Ein paar junge Männer sitzen in Shorts da, Frauen im Kleid und ein paar Männer mit schusssicheren Westen und Sturmgewehr daneben. Vor drei Tagen ist nebenan eine Shoppingmall bombardiert worden. Heute gibt es Pancakes. Das ist weder lustig noch reißerisch gemeint. Es ist einfach die Lebenswirklichkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer in Kharkiw, wenige Kilometer von russischen Terroristen, welche ihr Leben auslöschen wollen. 

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Cafe in Kharkiv (Symbolbild)

„Bombenwetter“ bezeichnet an sich genau das, was das Wort sagt: Wolkenfreier Himmel, der es im Zweiten Weltkrieg den Bombern ermöglicht hat, die Ziele gut zu finden. Ein Wort, welches seine Bedeutung im Laufe der Zeit verändert hat. Wie „Blockbuster“. Heute bekannt als Synonym für einen Kinofilm, der so gut ist, dass niemand mehr auf der Straße ist. Alle sind im Kino. Im Zweiten Weltkrieg bezeichnete man damit noch eine Bombe, die einen ganzen Häuserblock inklusive der Leute auf der Straße wegreißen konnte. Fährt man durch eine Stadt wie Kharkiv, kommt einem das in den Sinn. Bei Sonnenschein, wenn man ein Kino sieht, wenn man die Menschen sieht.

Menschen im Café

Ich war bereits vor zwei Jahren hier. Im Keller eines Hotels, zusammen mit anderen, während draußen Raketen einschlugen. Ich kannte die Stadt komplett leer, später als Gastgeber für eine Museumskonferenz und heute in diesem etwas unklaren Zustand. 

„Wie lang ist aktuell die Vorwarnzeit?“, frage ich die Leute am Nachbartisch. Die Lachen. „Etwa so“, sagt er und macht ein zwei Sekunden langes Sirenengeräusch, gefolgt von einer Explosion. Seine Freundin ergänzt: „Vielleicht eine Minute. Also, wenn du joggen gehst, renn los. Ansonsten … warte einfach.“ Weder sie noch ich habe unsere Schutzweste an. Vermutlich haben sie gar keine. Aber den ganzen Tag mit Weste und Helm herumrennen, im Sommer, im Café? Auch nicht wirklich meine Idee von einem sonnigen Tag. Wenn es knallt, dann knallt es. 

Es sind auch noch Kinder in der Stadt. Wenige. Oft sind die Eltern Polizisten oder beim Rettungsdienst und wollen nicht weg. Auch ein Kind nimmt die Gefahr entweder nicht ernst oder überspielt sie. Die Mutter, eine Ärztin, übersetzt: „Er sagt: Er wirft einfach die Arme in die Luft und rennt dann schreiend im Zickzack weg. Er sagt, das hilft auch nicht, aber sieht wenigstens lustig aus.“ Die Mutter versucht gar nicht erst, das zu bewerten oder dem Kind etwas anderes zu empfehlen. Sie ist froh, dass das Kind seinen Blödsinn treiben kann und alle drum rum lachen. 

Frage nach Scholz

Einige junge Männer sehen, dass ich aus Deutschland bin und fragen: „Warum ist euer Präsident so ein Arschloch? … also … verstehe mich nicht falsch. Du bist ja hier und siehst dir das an. Aber warum schickt ihr keine Taurus? Oder mehr Artillerie? Wir verrecken hier. Wir hatten drei Beerdigungen. GESTERN!“ Ich habe keine Antwort parat – auch wenn ich verstehe, dass sie Scholz und nicht Steinmeier meinen. Scholz begründet das Zusehen bei der Ermordung der Ukraine ja immer damit, dass er so Frieden wahren würde. Der Logik kann ich nicht folgen. Ich habe Bucha und Yahidne gesehen. Scholz und wir definieren das Wort Frieden wohl unterschiedlich. Ich versuche ihnen zu erklären, dass den meisten Deutschen ihr Gehalt wichtig ist, Work-Life-Balance, Bier und Fußball. Und dann kommen nach und nach Themen wie ihr Auto, der Dackel. Und wenn dann noch Platz ist, kann man ein wenig über Israel hetzen und vielleicht an die Ukraine denken. Man kann es nicht netter erklären. Sie blicken mich verständnislos an. Ich habe leider keine positive Antwort und mag mich an dem Eigenlob nicht beteiligen. 

Das Thema ist an sich ihr Dringensdes, aber wir werden das beim Frühstück nicht lösen können. Also fragen sie, ob ich schon mal da war. Ob ich bei allem Spaß die Gefahr verstehe, ob ich weiß, wo der Schutzraum ist. Ja, bedauerlicherweise kenne ich die Gefahr zu gut. Und wenn alle rennen, renne ich halt hinterher. Größtenteils klappt das gut. Wenn sich alle hinwerfen, tut man das auch. Den Knall abwarten, die Druckwelle, die Schreie, die Ruhe danach und dann die klingelnden Telefone überall. Oft Anrufe, die niemand mehr annehmen wird. 

Kinder evakuieren

Es ist schon verrückt, was man in solchen Gegenden lernt und worauf man unweigerlich achtet. Das Café hat eine Glasfront. Wenn eine Druckwelle die erfasst, hat man mehr Schnittverletzungen, als man versorgen kann. Wenn es knallt, muss sich jemand die Kinder schnappen und losrennen. Auch das ist in der Praxis viel schwieriger als in der Theorie. Mir fällt die Evakuierungskleidung für Kinder ein, die man hier manchmal sieht. 

Evakuierungskleidung für Kinder
Evakuierungskleidung für Kinder

Erwachsene haben eine normale Schutzweste und Helm an. Wenn Kinder nicht mehr mit dem Zug herauskommen, sondern unter Beschuss evakuiert werden müssen, bekommen sie Schutzkleidung in Signalfarben. Die düstere Logik dahinter: Das Kind muss von jemandem evakuiert werden, da es nicht selbst entscheiden kann, wo es sicher ist. Verunfallt das Evakuierungsfahrzeug oder wird der Evakuierungshelfer erschossen, könnte ein gut getarntes Kind zurückgelassen werden. Ist es aber gut zu sehen, wird es der nächste schnappen und in Sicherheit bringen. 

Ich frage die Gruppe, ob sie Kinder haben. Alle sehen betroffen weg und sagen: Ja. Sie haben alle Kinder. Ihr Freund Oleg hatte Kinder. Ich frage sie nach Evakuierungskleidung. Alle haben für die Kinder eine auffällige Mütze, eine Weste oder Ähnliches. Dinge, die man eigentlich Kindergartenkindern anzieht, damit sie im Straßenverkehr auffallen. „Wenn es Alarm gibt, schreibt man den Namen des Kindes auf das Kind. Falls es gefunden wird, kann man es wenigstens zuordnen“, erklärt einer. Sie zeigen mir auch das Foto eines Achtjährigen, welcher kurz vorher an der bombardierten Shoppingmall eine Speichelprobe abgeben musste. Seine DNS wird mit den verkohlten Leichen verglichen, um seinen Vater zu finden. Wie erklärt man das einem Kind? „Da gibts nichts zu erklären. Der wusste schon, worum es geht“, sagt einer der Männer. 

Kind beim Abgeben einer Speichelprobe
Kind beim Abgeben einer Speichelprobe (Quelle)

Und trotz aller Angriffe wurde Kharkiv, nur zwanzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, nicht von Russland eingenommen. Die Hälfte der Bevölkerung ist inzwischen wieder in der Stadt. Alles hat auf. Sogar die großen Malls. 

Wie kann man so leben? Wieso hier? Wieso in einem schönen Café? Weil Russland genau dieses Leben, die ukrainische Kultur und alle Menschen vernichten will. Aber es klappt nicht. Die Ukrainerinnen und Ukrainer machen einfach weiter. So wie in diesem Café. Mit Cappuccino und Pancakes, nur wenige Kilometer von der Front entfernt. 

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