Mitten in der Nacht setzt der Flieger im dichten Nebel neben Kampfhubschraubern, Spionageflugzeugen und unter den wachsamen Augen der Nachrichtendienste auf. Noch bevor die Türen auf sind, kommen Fahrzeuge übers Rollfeld aufs Flugzeug zu. Leute springen hektisch heraus und brüllen herum. Im Terminal stehen schwerbewaffnete Soldaten einer Spezialeinheit. An der Tür warten die abgedunkelten Geländewagen. Mit hohem Tempo runter vom Flughafengelände, vorbei an einem gepanzerten LKW (MRAP), welcher die Zufahrt sichert. Es riecht nach Abenteuer im Norden des Irak. Oder nicht?
Nein, eigentlich nicht. Aber so könnte es wirken, wenn man das erste Mal in einer solchen Gegend ist. Wenn man schon häufiger hier war, nimmt man die Landung in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak, anders wahr: Im Nebel landeten wir neben dem alten Rollfeld, welches die Amerikaner als Parkplatz nutzen. Die Bodencrew beeilt sich, um die Koffer auszuladen und die Soldaten am Gate begrüßen einen mit einem fröhlichen „Willkommen in Kurdistan!“, und helfen einem, das Gepäck vom Band zu bekommen. Draussen stehen die üblichen großen Taxis mit ihren verrückten Fahrern. Und beim Verlassen des Flughafens denkt man sich „Oh, der kaputte MRAP parkt hier auch schon seit Jahren“. Es riecht nach Baklava und Tee in Kurdistan!
Starke US-Militär-Präsenz im irakischen Luftraum
Am 03. Januar 2020 wurde der iranische Offizier Qasem Soleimani in Baghdad durch US-Kräfte getötet. Er war für die Führung der pro-iranischen Gruppen und Milizen im Ausland verantwortlich. Da sich der Jahrestag seiner Ermordung nähert, befürchtet man weltweit Anschläge auf US-Einrichtungen. Seit Tagen gibt es ein Säbelrasseln auf iranischer und US-amerikanischer Seite.
In den vergangenen Tagen wurde von erhöhter US-Militär-Präsenz im irakischen Luftraum berichtet. Experten und selbsternannte Experten in den westlichen Ländern sind sich uneins, ob es eine normale Menge an Flugzeugen oder ob es beachtenswert ist. Aus der Ferne ist das Ganze schwer zu sagen. Zwar gibt es heute etliche Webseiten, über die man in Echtzeit Flugzeuge verfolgen kann, doch diese haben große Lücken. Das System der Webseiten ist denkbar einfach: Flugzeuge senden, sozusagen freiwillig, einige Daten: Ihre Kennung, Flughöhe, Richtung, Geschwindigkeit, Position und einiges mehr. Dies kann man heutzutage mit Geräten für 50,00 € empfangen und auswerten.
Wenn genug Leute auf dem Boden solche Daten ermitteln und teilen, ergibt sich ein ziemlich gutes globales Bild. Doch an der irakisch-türkisch-syrischen Grenze klafft ein Loch. Hier scheint niemand einen Empfänger zu betreiben. Zusätzlich filtern viele der Webseiten freiwillig einige Maschinen raus. Vor allem Militär oder kleinere Privatmaschinen. Als Indikator reicht es also, für eine solide Recherche jedoch nicht.
Auch in Krisen- und Kriegsgebieten haben die meisten Flugzeuge ihre Transponder an und senden diese Informationen. Dass sie dort sind, ist kein Geheimnis und auf dem Radar sind sie so oder so zu sehen. An Tarnkappenflugzeuge werden sogar zusätzliche Reflektoren montiert, um diese abseits des Einsatzes besser auf dem Radar erkennen zu können.
Doch wie ist die Lage in Kurdistan-Irak? Überall Bombenkrater, Menschen auf Eseln und dazwischen ein paar Zelte? Eher nicht. In den großen Städten gibt es Shoppingmalls, Cafés, Freizeitparks und vieles mehr. Aber es gibt auch die alten Gebäude, wie die Zitadelle in Erbil, welche seit mehr als sechstausend Jahren durchgehend bewohnt ist. Dazwischen git es Museen über den Kampf gegen Saddam, den Kampf gegen den IS, über das Handwerk, die assyrische Gesellschaft und vieles mehr. Die Gesellschaft ist offen, freundlich und freut sich über das, was sie sich in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat.
Auf rund fünf Millionen Einwohner der Kurdischen Region im Norden des Irak kamen in den vergangenen Jahren zwei Millionen Flüchtlinge. Eine Million aus Syrien, eine Million aus dem Rest-Irak. Zwischen Irakistan und Kurdistan verläuft eine Art Inlandsgrenze. Es gelten andere Visa, es wird eine andere Sprache gesprochen, es gibt eine andere Polizei und ein anderes Militär. Politisch hat jeder Bereich sein eigenes Parlament und seine eigene Regierung. Gesetze aus dem Irak, wie zum Beispiel das Verbot von Alkohol und Miniröcken, gelten in Kurdistan nicht.
Und Corona?
„Corona? Das überlebt in unserer Luft gar nicht“, sagt ein Mann auf der Straße und lacht. Draussen haben die wenigsten Masken auf, in den größeren Geschäften und Malls 60-75 % der Leute. Es wird vermutet, dass Kurdistan flächendeckend von Corona Durchseucht worden ist. Viele berichten von Fällen innerhalb der Familie. Die Dunkelziffer kann man nichtmal schätzen. Auch die Zahl der Toten wird nicht zentral erfasst. Wenn auf einem Dorf auf dem Land jemand stirbt, wird es oft gar nicht erfasst. Die Familie weiss es ja – warum einen Beamten, der den Verstorbenen gar nicht kennt, informieren? Aber es wird viel Temperatur gemessen und desinfiziert: In Hotels, den Konsulaten und größeren Geschäften muss man sich unter Aufsicht die Hände desinfizieren und die Temperatur messen lassen. Ob das alleine hilft? Unklar.
Kinder. Überall Kinder.
Man merkt auch schnell, welchen hohen Stellenwert Kinder in dieser Gesellschaft haben. In der traurigen Geschichte Kurdistans gab es viele Waisenkinder, die schnell verteilt werden mussten. Meist kamen sie bei Verwandten unter. Als der IS in jüngerer Vergangenheit ganze Dörfer auslöschte, blieben oft einzelne Kinder ohne irgendwelche entfernten Verwandten zurück. Diese wurden teilweise von den Soldaten oder Offizieren des Nachrichtendienstes aufgenommen, die sie befreiten.
Noch 2017 traf ich einen Kommandanten des Nachrichtendienstes, der gerade sieben Kinder aufgelesen hatte, die obdachlos und ohne Verwandte waren und teilweise nichtmal ihre richtigen Namen kannten, weil sie zu jung waren, als sie vom IS entführt wurden. Er war auf dem Weg nach Hause und sagte „Oh das gibt wieder Ärger. Meine Frau sagt auch, dass wir helfen müssen. Aber wieder mit sieben Kindern kommen? Es ist schwer. Wir haben drei eigene und drei, die wir aufgenommen haben.“ Sechs Kinder – drei, die man ohne Vorbereitung bekommen hat. In Deutschland unvorstellbar. Und nun noch sieben dazu, aber nur temporär.
Nur eines der sieben nun geretteten Kinder blieb bei ihnen. Also hatten sie nun sieben. Die sechs anderen wurden im Kollegenkreis verteilt. Die Reaktionen dort waren ähnlich: Zuerst kommt die Verpflichtung zu helfen, dann die Frage wie. Einer seiner Kollegen war 21 Jahre alt, seit sechs Monaten verheiratet. Er nahm zwei Kinder auf. Die Erwartung hier ist aber, dass man zusätzlich eigene hat. Heute hat er zwei eigene und die zwei geretteten. Geld gibt es dafür nicht. Man muss selber durch kommen. Aber die Community hilft. Alle haben das gleiche Problem. Und gerade die Soldaten wissen: Es könnte auch mal ihre Kinder treffen.
Trifft man diese Kinder ein Jahr später, so rennen sie fröhlich herum, versuchen Hunde anzumalen oder jagen Ziegen übers Feld. Normale, verrückte Kindheit hier. Keine äußerlichen Anzeichen von Problemen. Auch in der Öffentlichkeit rennen oft viele Kinder herum. Niemand fühlt sich gestört, irgendwer achtet schon drauf. Wenn ein Kind hinfällt, hebt es jemand auf und tröstet es, egal ob es das eigene ist, oder nicht. Ein sehr herzlicher Umgang miteinander. Die Kinder in den großen Städten sind Ausländer gewöhnt: Soldaten, Erdölunternehmer, NGOs, wenige Touristen. Dennoch kann man ungewollt zur Attraktion werden. Gerade blonde Frauen werden immer wieder fasziniert von den Kindern angestarrt. Ein Mädchen erklärte mir: Klar kenne sie blondierte Frauen. Aber echte blonde Haare hat doch sonst nur die Eisprinzessin aus dem Disneyfilm Frozen. Sie konnte also sozusagen ihren Star treffen.
Gestern Abend, nach der morgendlichen Landung und nach drei Stunden Schlaf, war ich das Objekt der Begierde zweier Kinder. Sie standen im höflichen Abstand von knapp einem Meter neben mir und starrten mich an. Dann begannen sie zu kommentieren, was ich tue und warum wohl. Schließlich entschlossen sie sich, das Handy der Mutter zu holen, um mich ordentlich dokumentieren zu können. Die Mutter entschuldigte sich und wollte die Kinder mitnehmen. Ich erklärte ihr, dass mir das relativ egal sei.
Also einigten sie sich drauf, dass jeder einen Freund anrufen und mich zeigen darf, dass sie mich dann aber in Ruhe Baklava essen lassen. Sie waren aufgeregt und wollten den Onkel anrufen, ich sähe aus, wie dessen Freund. Rote Haare gibt es hier tatsächlich immer wieder, oft bei Jesiden (einer alten Religion in der Region). Ich erwartete also ein lustiges Gespräch mit einem wackeligen Handy und einem Mann am anderen Ende, der auch nicht recht weiss, was er mit der Situation anfangen soll. Doch es kam ganz anders.
Der Mann am anderen Ende sah sehr überrascht aus und musterte mich. Dann kamen ihm fast die Tränen und er begann hastig zu erzählen: „Wir kennen uns! Hier! Ich habe das Foto von uns immer noch! Mossul 2014!“ – Ich kannte das Foto nicht, aber ja: Es zeigte ihn und mich im Gespräch. In der Wüste, im Nichts. Dahinter ein Bagger und ein Laster, von dem verpackte Zelte abgeladen wurden. Aber ich wusste sofort, worum es ging: Das Auffanglager der französischen NGO Acted, welches sofort aufgebaut wurde, nachdem der IS Mossul überfallen hatte. Bevor die großen NGOs ihre Maschinerien in Bewegung gesetzt hatten, kamen die Kleinen. Schon 24 Stunden nach dem Überfall auf Mossul waren die ersten christlichen NGOs aus Frankreich auf dem Boden. Dann folgten nach und nach alle anderen. Das Camp wurde quasi aus dem Wüstenboden gestampft. Aus dem Nichts im Nichts. An einem Ende verlegten Leute Schläuche und schlossen diese an die Kanalisation an. Am anderen Ende kletterte jemand ungesichert auf einem Strommast um einen Abzweig zu legen. Permanent kamen Leute an. Zu Fuß, im Auto, auf Baggern oder Lastern.
Und mitten drin war dieser Mann, den ich nun wiedersah. Er berichtete mir damals, was gerade in Mossul vorgefallen war und wie er gerade noch mit seiner engsten Familie raus kam. Ich war vielleicht eine Stunde in diesem Camp, weil wir dann weiter Richtung Mossul fuhren, bis wir im letzten Vorort ankamen, den der IS noch nicht eingenommen hatte. Doch wie mein Besuch auf ihn wirkte, wusste ich bisher nicht. Ich war der erste Journalist, den die Leute dort nach ihrer Flucht trafen. Der IS hatte Mossul noch nicht ganz eingenommen. Ihre Reaktion war: „Wenn jetzt schon die Freelancer aus Deutschland da sind, dann sind auch alle anderen da! Die Welt sieht es! Wir bekommen Hilfe!“. Das gab ihnen Hoffnung.
Doch die Realität war eine andere. Zunächst half die türkische Armee der kurdischen Armee (den Peschmerga). Binnen Wochen kamen sie mit Waffen, Munition und Ausbildern. Später erlaubte die türkische Regierung den Peschmerga aus Kurdistan-Irak über das türkische Staatsgebiet in das kurdische Gebiet in Syrien zu verlegen. Dort halfen sie der dortigen YPG (kurdische Volksbefreiungseinheiten, die auch gegen Assad gekämpft haben), die Stadt Kobani gegen den IS zu verteidigen. Kurz drauf halfen die Amerikaner den irakischen Kurden und wurden dafür schwer kritisiert. Anschließend folgten die deutschen Waffen. Die Israelis haben ihre Hilfe einfach nicht publik gemacht. Die Kampfjets aus diversen EU-Ländern wurden auch nicht besonders thematisiert. Aber die große Hilfe der Welt bleib aus. Wie das kurdische Sprichwort sagt: Wir haben keine Freunde, ausser die Berge.
Der Mann am anderen Ende war so überrascht wie ich. Keiner hatte erwartet, je wieder vom anderen zu hören. Und die Kinder haben es möglich gemacht. Hätte ich sie direkt zu Beginn genervt weggeschickt, hätte ich seine weitere Geschichte nie gehört.
Kurdische Nächte
Wenn es dunkel wird, kommt Bewegung in die US-Airbase in Erbil. Doch nicht nur von dort starten US-Flugzeuge, auch vom fernen Qatar aus. Alleine an diesem Abend waren es mehr als ein Dutzend. Ein Gespräch mit den amerikanischen Sicherheitskräften sollte aufschlussreich sein. Am Abend saßen wir vor einem ausgemusterten US-Schulbus, welcher als The Bus Cafe seinen Dienst tut. In Sichtweite: Die Airbase und einige Flugzeuge. „Und wieder ne Beechie! Da haben wir inzwischen echt viele von. Die sind nicht so teuer.“, sagt die Dame gegenüber. Gemeint sind die Aufklärungsflugzeuge auf Basis der Beechcraft King Air. Eine kleine Propellermaschine voller Antennen. An sich eine fliegende Antenne, deren Informationen dann an anderer Stelle ausgewertet werden. Sie können die Kommunikation am Boden überwachen, bis hin zu Handfunkgeräten. Fünf Stück starteten im Laufe der Nacht. Deutlich mehr als normal. „Warum habt ihr dann noch die anderen in der Luft?“, frage ich. Die Antwort ist simpel: „Größere Antennen, mehr Rechenpower und manchmal mit Besatzung, die direkt im Flugzeug eingreifen kann“.
Weil die fünf Kleinen an diesem Abend nicht reichen, gesellen sich zwei Bombardier E-11A dazu. Spezialflugzeuge auf Basis von Privatjets. Doch auch die reichten nicht und so erschien ein achtes Spionageflugzeug am Himmel: Eine Boing RC135W Rivet Joint. So groß wie ein normaler Airliner. Seit fünfzig Jahren in verschiedenen Varianten im Einsatz. Teuer zu bauen, teuer im Einsatz. Das holt man nur raus, wenn es nötig ist. Aus Qatar starten mehrere Tanker, welche ihre Runde über dem Irak fliegen, einige bis in den Norden in Erbil. Man sieht und hört sie vom Boden aus nicht. Dafür sind sie zu hoch. Dafür sehen und hören wir die niederländischen und amerikanischen Hubschrauber. Diese sind jedoch keine Besonderheit. Teilweise unterstützen sie die kurdischen Kräfte und fliegen zu Einsätzen, teilweise versorgen sie ihre Posten weit draussen.
Es gab Gerüchte, die Amerikaner hätten vor kurzem eine Höhle mit IS Terroristen bei Makhmour, nur eine Autostunde weiter, geräumt. „Ich glaube, diese Information liegt ausserhalb deiner Gehaltsklasse“ sagt mein Gegenüber. Eine in den USA gebräuchliche Formulierung für „Das geht nur die Leute über dir etwas an“. Ich bekomme nur Fragen zu dem beantwortet, was ich selber gesehen habe und bei dem ich spezifisch genug fragen kann.
Weiter im Norden, an der türkischen Grenze, erscheinen Drohnen auf dem Radar. „Das sind die Türken. Jagen wieder die PKK mit ihren TB2-Drohnen. Dafür dürfen sie die Grenze passieren, müssen sich aber von den irakischen Kurden fern halten.“
Langsam geht die Nacht zu Ende. Die Flieger verschwinden wieder vom Schirm und die Morgenkette erscheint. Eine nicht enden wollende Schlange von Airlinern, welche von oder nach Doha und Dubai fliegen.
Ein Tag in Kurdistan – immer wieder ein Erlebnis.
Das Rechercheergebnis dieser Reise können Sie hier nachlesen.