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Putin und die Ukraine – ein Bluff?

SS-20 Nukleare Mittelstreckenrakete (cc-by-sa: George Chernilevsky)

Von Deutschland aus ist die Ukraine nicht weiter entfernt als Spanien. Dennoch liegt die Ukraine in der Wahrnehmung der meisten EU-Bürger weit weg. Die ehemalige Sowjetrepublik war in den 90er Jahren die drittgrößte Atommacht der Welt. Die Ukraine hatte einen beachtlichen Teil des sowjetischen Arsenals geerbt und nicht wenige Teile für diese Raketen produziert. Zunächst nahmen die westlichen Nachrichtendienste an, dass die Ukraine die Waffen sowieso nicht nutzen könne. Das Ende der Geschichte war ja angeblich eingeleitet worden: Der Kalte Krieg sei vorbei. Doch bald begannen die ukrainischen Ingenieure die Sicherheitsmechanismen auszuhebeln und die Raketen für den Einsatz gegen nähere Ziele umzurüsten. Um die Zahl der Nuklearmächte gering zu halten, bot man der Ukraine im Budapester Memorandum an, freiwillig auf ihre Atomwaffen zu verzichten. Um im Falle eines dritten Weltkrieges nicht alleine dazustehen, sicherten die USA, Russland und Großbritannien zu, der Ukraine in einem solchen Falle bei der Verteidigung zu helfen. Als Russland die Ukraine Angriff, die Krim übernahm und im Donbas einen bis heute andauernden (Bürger)Krieg unterstützte, half niemand. Man flüchtete sich in Details des Vertrages und erklärte, dass all dies nicht von der getroffenen Vereinbarung gedeckt sei. Einer der Gründe, warum heute kein Staat mehr freiwillig auf Atomwaffen verzichten möchte. 

Den Westen ärgern

Auf der einen Seite ist der Westen mit dem Handeln der russischen Regierung unzufrieden, allerdings nicht genug, um wirklich etwas zu unternehmen. Auf der anderen Seite weiß Putin genau, wo die Schwachstellen der westlichen Politik liegen und kann gut einschätzen, wie seine Wählerinnen und Wähler auf sein Handeln reagieren. In den vergangene Jahrzehnten richtete er sein Handeln stets nach den innenpolitischen Erfolgsaussichten aus. Alles war kalkuliert, fast alles lief, wie er es sich vorgestellt hat. Für westliche Politiker dagegen ist die wichtigste Metrik die strategische Sonntagsfrage. Die Frage, wie viel Prozent der Wahlberechtigten noch hinter den einzelnen Personen oder der Partei stehen, lenken große Teile der politischen Entscheidungen. Unsere Politiker versuchen also, möglichst viele große Gruppen zu befriedigen. Putin hingegen muss nur Zwietracht in den westeuropäischen Staaten streuen, die Politikerinnen und Politiker dort provozieren und kann dann seine politischen Gegner wie den Bären am Nasenring durch die Manege ziehen. Er hat also den einfacheren Stand. 

Will Putin bluffen oder angreifen?

Bei meinen Recherchen im April erklärten mir Quellen in der russischen Armee noch, dass sie von einem russischen Angriff auf den Osten der Ukraine ausgehen. Inzwischen sind sie sich nicht mehr sicher – ihre ukrainischen Gegenspieler aber auch nicht. „Da passiert jetzt erst mal gar nichts. In dreißig Jahren hat Putin nichts gemacht, was ihm innenpolitisch schadet. Da geht es aber nicht nur um die Prozente bei der Wahl, die legt er sowieso selber fest. Aber die Wirtschaft und die Außenpolitik sind auch für ihn wichtig. Egal, wie man es dreht und wendet. Militärisch könnte er sicher durch den Donbas bis nach Kiev, vermutlich auch bis Warschau, marschieren, bevor ihn jemand stoppt. Oder Europa mit Atombomben zerlegen. Aber alles nur militärisch zu sehen, ist zu kurz gegriffen. Davon hätte er ja am Ende nichts. Er braucht Handelspartner und er braucht politische Macht. So eine Aktion würde ihn politisch im Westen killen. Und damit wirtschaftlich und auch innenpolitisch. Wie sollte er so einen Sieg finanzieren? Er wäre in fünf und Russland in zehn Jahren, wirtschaftlich am Ende. Soweit plant er das auch. Was Putin tatsächlich macht ist nerven. Gerne über Eck“, meint ein Berater der ukrainischen Regierung. 

Analysten sind sich uneinig

Ähnlich sieht es auch George Friedmann, welcher in der Vergangenheit oft mit seinen Einschätzungen richtig lag. Er sieht jedoch neben den bereits genannten Problemen auch militärische. „(…) Da davon auszugehen ist, dass der Kampf mit abnehmender Bewegung zunimmt, würde eine Phase massive Mengen an Kraftstoff, Öl und Schmiermitteln erfordern. Die zweite Phase würde große Mengen an Munition aller Art erfordern. Die Wahrscheinlichkeit von unkoordinierten Pausen im Vormarsch ist hoch (…) Das zweite Problem ist, dass es zu einem komplizierten Mehrfrontenkrieg führen würde (…) Die Russen haben seit dem Zweiten Weltkrieg keinen solchen Kampf mehr mit mehreren Divisionen geführt.“ Auf dem Papier mag die Armee also stark sein, aber sie hat lange keinen Krieg geführt, den sie für aussichtslos hielten“). Die Piloten konnten in Syrien trainieren, die Wagner-Söldner waren auch viel im Einsatz. Doch am Ende reicht es nicht, einen Stapel Puzzleteile zu haben. Sie müssen auch richtig zusammengefügt werden und eine sinnvolle Einheit ergeben. 

Migranten und Geflüchtete in Belarus

Aus Belarus zurückgekehrte Kurden in Erbil

Was Russland derzeit unternehmen kann, ist den Westen stören. Am 23. Mai 2021 wurde der Ryanair-Flug FR4978 von Athen (Griechenland) nach Vilnius (Litauen) im belarussischen Luftraum abgefangen, von einem MiG-29 Kampfflugzeug begleitet und zur Landung in Minsk gezwungen. Dort wurde ein belarussischer Dissident, welcher sich an Bord befand, festgenommen und später gefoltert. Es folgten zahlreiche Sanktionen des Westens gegen Belarus, welches hier mit Zustimmung Russlands gehandelt haben dürfte. Russland kompensiert den wirtschaftlichen Schaden in Belarus. Um nun einen Faustpfand gegen diese Sanktionen zu haben, wurden Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten nach Belarus geflogen, mit dem Versprechen, sie nach Deutschland zu bringen. Viele Menschen waren verzweifelt und naiv genug, den Bauernfängern zu glauben. Die belarussischen Sicherheitskräfte trieben sie immer wieder an die polnische Grenze, an welcher sie polnische Sicherheitskräfte erwarteten und zurückdrängten. Immer mehr Geflüchtete gaben auf und reisten in ihre Heimat zurück, einige schafften es, wieder andere starben an den Strapazen der Flucht, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten.

Deutschland unter Druck setzen

In Deutschland führten diese Aktionen zum gewünschten Ergebnis: Auf der einen Seite wollen Rechte ein stärkeres Vorgehen gegen die ankommenden Menschen, auf der anderen Seite werden die illegalen „Pushbacks“, also das Zurückdrängen der Menschen, nachdem sie bereits in der EU waren, verurteilt. Es entstehen grausame Bilder von hungernden Menschen, die vom Wasserwerfer durchnässt ohne Schutz im Wald schlafen. Und dieser PR-Stunt kostet Putin nichts. Aber Putin kann dem Westen so Verhandlungen anbieten: Er kann mit seinem Einfluss dafür sorgen, dass keine Migranten mehr zur Grenze gefahren werden und dafür möchte er Zugeständnisse seitens der EU. 

Auf der anderen Seite hängen Teile der EU vom russischen Gas ab. Die fertiggestellte Pipeline NordStream 2 soll das Gas direkt in die EU bringen – vorbei an den ehemaligen Sowjetrepubliken. Gerade für die Ukraine und Polen waren die Pipelines bisher gute Einnahmequellen. Deutschland importiert rund ein Drittel seines Erdgases aus Russland – mehr als aus jedem anderen Land. Man kann nicht einfach und kurzfristig auf andere Quellen umsteigen. Auch das wissen alle Beteiligten. Putin kann diesen Faustpfand also permanent nutzen. Ob das Gas dabei durch NordStream 2 oder eine andere Pipeline kommt, ist für uns als Nutzer relativ egal. Aber für die Staaten entscheidend, durch welche das Gas bisher geleitet wird. 

Ein anderes Druckmittel, welches in der Öffentlichkeit weniger bekannt ist, ist die Düngerlieferung. Russland hat die Lieferungen nach Deutschland reduziert. Dadurch ist der Preis für Kalkammonsalpeter (KAS), einem Stickstoffdünger, in nur einem Jahr von rund 200,-€ pro Tonne auf rund 600,-€ pro Tonne gestiegen. Dies dürfte im kommenden Jahr größere Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben. 

Das Leben geht weiter

Bar in Kiev

Doch vor Ort in Kiev scheinen die jungen Leute eher resigniert als besorgt. Die Details des Konfliktes interessieren sie nicht. Der Krieg im Donbas ist fast 1.000 km weit weg. „Ich bin jetzt 22, der Krieg läuft, seitdem ich 16 bin. Und davor hatten wir auch Probleme mit den Russen. Auf der anderen Seite importieren wir extrem viel von ihnen. Selbst hier in Kiev haben russische Oligarchen Häuser. Wir können nichts mit den Russen anfangen, aber ohne sie haben wir auch Probleme. Und der Donbas? Ja. Keine Ahnung. Das ist wie im Film, wenn ein Asteroid auf die Erde zufliegt: Klar sehen wir den. Klar knallt es vielleicht. Aber wir können hier eh nichts machen. Also warum Zeit damit verschwenden? Wenn ich mich darum kümmern würde, dann hätte ich seit sieben Jahren dicke Falten auf der Stirn. Sonst hätte sich nichts geändert. Und uns hilft eh niemand. Nichtmal unsere korrupte Regierung“, erklärt mir Anastasia, eine Studentin aus Zhytomyr, welche nun in Kiev wohnt. Ihre Freunde sehen es ähnlich. Irgendwie bekommen alle das Thema mit, aber die größeren Probleme sind die täglichen Rechnungen und überfüllte, zugige Apartments. Wer regiert, während sie kein Geld haben, um am schönen Leben teilzunehmen, ist einfach zweitrangig. 

Donbas – nahe der Front

Gepanzertes ukrainisches Militärfahrzeug im Oblast Donetsk
Gepanzertes ukrainisches Militärfahrzeug im Oblast Donetsk

Das Leben auf den Straßen sieht völlig normal aus. Sowohl in der westlich orientierten Hauptstadt Kiev, als auch in Kramatursk im Donbas. Viele der Gebäude stammen noch aus der Sowjetzeit. Schlechte Bausubstanz, kaputte Treppen, Löcher in der Straße. Aber in diesen kaputten Gebäuden findet man auch „California Sushi“, französische Cafés oder teure Modegeschäfte. Teilweise läuft man durch Treppenhäusern, welche an die Fotos aus der Nachkriegszeit erinnern, um dann die Tür zu öffnen und ein modernes Apartment zu betreten. Wer es sich leisten kann, der schafft sich ein schönes Leben in den eigenen vier Wänden, im Büro, den neuen Shoppingmalls und mit teuren Autos. Doch vieles, was der Staat verwaltet, scheint vor fünfzig Jahren stehengeblieben zu sein. 

Im Oblast Donbas sieht es genau so aus: Moderne Autohädler stehen neben sovjetischen Wohnblöcken. In der Stadt Kramatursk wurde in den 80er Jahren versehentlich eine radioaktive Kapsel in einem Plattenbau verbaut , was erst nach neun Jahren auffiel. Seit 2014 kämpfen im Osten des Oblast die von Russland geführten „Seperatisten“ gegen die ukrainische Armee. Im Westen des Oblast herrscht relativer Frieden, auch wenn dort vereinzelt Granaten einschlugen. Die Hotels und Restaurants wirken verwaist. Überall arbeiten Menschen, doch die Gäste fehlen. Dass die Gegend noch nie besonders touristisch erschlossen war, merkt man auch daran, dass kaum jemand Englisch spricht. 

Der Krieg, der die Ukraine und den Oblast teilt, ist auch in der letzten Stadt ein unbeliebtes Thema. Ob ein Angriff bevor steht oder nicht, ob es derzeit Probleme gibt oder nicht: Die meisten Menschen geben ausweichende Antworten. Zu groß ist die Sorge, eine falsche Antwort zu geben. Man weiß nie, welche politische Einstellung das Gegenüber hat. Doch die meisten erklären nach einem kurzen Gespräch, dass sie sich keine akuten Sorgen machen. Es sei Säbelrasseln, sonst wäre schon lange etwas passiert. Dennoch drückt die permanente Präsenz der russischen Truppen auf die Stimmung, die Wirtschaft und die Zukunftsperspektiven. Junge Leute ziehen weg. „Das war aber auch früher schon ähnlich, nur blieben sie in der Nähe“, erklärt Anna, eine Geschäftsfrau. „Sie sind westlicher orientiert, wollen Nachtclubs und Bars haben und was erleben. Nur zieht es jetzt niemanden mehr nach Donezk, sondern alle direkt nach Kiev.“ Auch sie hat wenig Sorge vor einem Angriff. Sie stört eher, dass sie nicht mehr wie früher ihre Eltern besuchen kann. „Die wohnen in einem Dorf an der Front. Ihnen selber ist bisher nichts passiert, aber ich kann nicht mehr so einfach hin und her fahren, und sie wollen dort nicht wegziehen.“

Ein Unternehmer erklärt, dass sein Geschäft immer schlechter wurde: „In zehn Jahren ist die Wirtschaftsleistung hier um rund 80 Prozent gefallen. Egal, was man macht, da kann man nichts mehr verdienen und den jungen Leuten keine Zukunft geben. Ich habe die Russen hier vor acht Jahren erlebt. Die will man nicht haben. Ob sie wieder kommen? Ich glaube es nicht. Aber Putin ist verrückt – ich würde auch nicht dagegen wetten wollen.“

Am Ende bleibt die Frage, wer recht hat. Die große Anzahl von Analysten, die den Truppenaufmarsch für einen großen Bluff halten? Dafür spricht vieles. Oder die Minderheit, der zu Wenige zuhören, die einen Angriff im Januar voraussagt? Ein älterer Herr sieht es pragmatisch: „Ich habe schon ein paar Mal die Flagge vorm Haus ändern müssen. Aber irgendwie gehts doch immer weiter. Wir warten einfach ab und sehen, was kommt.“

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