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Ali und Aras – Flucht nach Europa

Die Autonome Region Kurdistan im Norden des Iraks, kurz Kurdistan, lädt abenteuerlustige Globetrotter zum Urlaub ein. Die Region entwickelt sich gut und in der Hauptstadt Erbil wurden in den Vergangenen Jahren 1.000 Wohneinheiten pro Woche gebaut, um den Zuzug zu bewältigen. Es gibt quasi keine Taschendiebe, Glaubensfreiheit und sehr viele sehr freundliche Menschen. Die Hauptstadt Erbil ist seit mehr als 6.000 Jahren durchgehend bewohnt. Als bei uns die Mauer fiel, wurden hier noch Kurden von der irakischen Regierung vergast. Heute kann man sich so schreckliche Zeiten beim Anblick der aufstrebenden Region kaum vorstellen. 

Erbil bei Nacht

Nachts werden Wolkenkratzer durch bunte Lichter hell beleuchtet. Und wenn der Strom mal ausfällt, auch per großem Generator. Selbst Ferraris und Lamborghini sieht man, wenn auch selten, auf der sechsspurigen Autobahn. Eine Erfolgsgeschichte – zumindest, wenn man am Erfolg teilhaben kann. 

Der weite Weg in die ferne EU

Flüchtlingscamp Domiz in Kurdistan-Irak

Doch es gibt immer noch hunderttausende Flüchtlinge, vor allem aus Syrien und dem Rest-Irak, welche in großen Flüchtlingscamps wohnen. Es gibt arme und ungebildete Menschen und einfach solche, die durchs soziale Gitter gefallen sind. Dies wird in Kurdistan von der Familie bereitgestellt, welche sich im Falle des Unfalls, hohem Alter oder ähnlichem um einen kümmert. Ein staatliches System, wie bei uns, gibt es nicht. Es gibt Menschen, die sich abgehängt fühlen und welche, die es tatsächlich sind. Viele von ihnen blicken sehnsüchtig zu uns, in die EU. Ein soziales System für alle. Jahrzehnte lang Frieden, gerade Dank der Nato. 24 Stunden am Tag Strom zu günstigen Preisen, fließendes, sauberes Trinkwasser und Regierungen, welche  alle Teile der Bevölkerung anerkennen und die man dank Rechtsstaat dazu zwingen kann. Die irakische Zentralregierung sieht in weiten Teilen anders aus. Die Menschen in der EU sehen glücklich aus. Sie beschweren sich über ihre Erste-Welt-Probleme, haben aber kaum relevante, existentielle Sorgen. Man muss keine Angst vor Verfolgung, Folter oder den Tod haben. Verständlich, dass man dort Leben möchte.

Wer in die EU möchte, dem bieten sich wenige Wege an. Die Universitätsabschlüsse aus Kurdistan werden nicht oder nur mit viel Aufwand anerkannt. Viele Menschen wurden in ihrem Beruf eingelernt, haben aber keine formale Ausbildung. Sie werden nicht verfolgt – weder privat, noch vom Staat. Und derzeit herrscht in Kurdistan-Irak kein Krieg. 

Viele versuchen es auch heute noch. Früher über Belarus, heute über die Türkei nach Griechenland und dann weiter. Tausende bis Zehntausende Euro kostet so ein Trip. Ein Vermögen. Die Chancen auf ein besseres Leben in Deutschland sind gering. Ohne Verfolgung kein Asyl, ohne anerkannte Ausbildung keinen Job. Die meisten geben auf der Route auf, werden aus Deutschland zurückgeschickt oder sterben auf der Reise. Immer wieder fliegen beim Frühstück die Links zu Artikeln, welche solche Schicksale behandeln, an einem vorbei. Man kennt es. Man klickt weiter. Dramatisch – aber eben für andere, nicht für einen selbst. Bis heute. 

Heute erzählte man mir eine Geschichte, die mich emotional hart getroffen hat. Denn sie betraf keine anonyme Person in irgendeinem Artikel. Sie betraf meine Freunde. Und einer von ihnen ist nun tot. 

Aras und Ali

Ali (links) und Aras (rechts)

Aras und Ali kamen beide aus dem kleinen Ort Khanke in Kurdistan-Irak, idyllisch gelegen am Lake Mossul. Nachdem der islamische Staat den 74. Genozid an den Jesiden im irakischen Ort Shingal verübt hatte, flohen viele überlebende nach Khanke. Vermutlich Hunderttausende kamen durch diese Gegend. Zehntausende wohnten in den offiziellen und „wilden“ Camps. Bis heute ist das jesidische Camp „Sharyia“ sozusagen eine der größten jesidischen Städte der Welt. Aras und Ali waren seit Jahren befreundet und wohnten auch nebeneinander. Ich lernte beide irgendwann nach 2015 kennen. Ich berichtete oft aus der Gegend, da ich mehrmals im Jahr in Kurdistan war. Gerade Aras sah ich regelmäßig. Er arbeitete in der Our Bridge Bildungseinrichtung und war unter anderem Schulbusfahrer. Die Kollegen und Kinder liebten ihn. Er hat immer gute Laune, machte laute Musik im Bus an, warf die kleinen in die Luft und fing sie wieder auf. Wenn wir uns sahen leuchteten seine Augen. Er freut sich und fragte, wie es der Familie und mir geht. Umgekehrt wollte ich immer das Gleiche von ihm wissen. 

Aras mit einem Kind aus dem Camp

Von den Plänen der beiden in die EU zu fliehen, wusste ich im Vorfeld nichts. So etwas erfährt man persönlich vor Ort, nicht über Instagram. Ich war eine Weile nicht da. Ali und er hatten ihre Familien und Freunde da, eine Aufgabe, ein Leben. Von außen betrachtet war alles in Ordnung. Doch beide sahen keine richtige Perspektive. Schulbusfahrer in einer Spendenfinanzierten Bildungseinrichtung ist eine erfüllende Aufgabe – aber jeden Tag ab 16:30 sieht die Welt anders aus. Das Leben zwischen Camp und Dorf und gefühlt jeder Tag ist irgendwie gleich. Währenddessen scheinen die Leute in der EU, in Deutschland, ein besseres Leben zu haben. Alleine wohnen, ein Auto haben, in alle Länder der Welt in den Urlaub fliegen und sonst einfach im Überfluss leben. Beide entschieden, den Weg nach Deutschland auf sich zu nehmen. Sie erwarteten eine beschwerliche Reise und ab dann ein tolles Leben, wie sie es aus den Erzählungen kennen. Hat man so eine Entscheidung erst einmal getroffen, fällt es schwer, diese wieder zu verwerfen.

Braut und Bräutigam

Ali hatte seit vielen Jahren eine Freundin. Diese war bereits in Deutschland. Er versprach ihr: „Sobald ich da bin, werden wir heiraten“. Er kaufte einen Anzug für sich und ein Brautkleid für sie und schickte dieses vorab per Post, um sein Versprechen so zu untermauern. Sie wartete in freudiger Erwartung auf ihn. Ab dem Versprechen der Hochzeit gilt man als Braut und Bräutigam – nach der Hochzeit als Ehefrau und Ehemann.

Sie brauchten ein Visum für die Türkei, welches sie verhältnismäßig einfach erhalten konnten. Ali hatte sein Visum bereits beantragt. Aras folgte zehn Tage später. Ali wartete auf Aras. Beide erhielten das ersehnte Visum. Den Kontakt zu Schleppern hatten sie im Vorfeld erhalten. Es klang aus ihrer Sicht nicht kriminell, nicht schlimm. Eher, wie ein Reisebüro, welches alles für einen plant und organisiert. Mit ein paar Zwischenschritten. Wie alles im Leben wollten sie auch das hier gemeinsam machen. Im August packten sie ihre Sachen. Am Abend zuvor hatten sie gemeinsam neue Rucksäcke für die bevorstehende Reise gekauft.

Der erste Schritt war einfach: Mit dem Bus von Semel, dem Nachbarort von Khanke, nach Istanbul. An der Irakisch-Türkischen Grenze mussten sie 14 Stunden warten. Dann ging es weiter. In Istanbul angekommen wurden sie in der vorbereiteten Wohnung untergebracht. Nach nur zwei Tagen ging es los Richtung Griechenland. Doch dieser Teil der Reise sollte nicht so trivial werden, wie es ihnen vorher erklärt worden war. Eine kleine Wanderung, vielleicht braucht man einen zweiten Versuch. Dann ist man in der EU. Doch es kam anders. Vor der Grenze wurden Sie von der Grenzpolizei aufgegriffen, geschlagen und zurückgedrängt. All ihr Hab und Gut wurde ihnen gestohlen. Neben Kleidung, Geld und der Powerbank befand sich in Alis Rucksack etwas viel wichtigeres: Sein lebenswichtiges Insulin. Er war Diabetiker. Er bekam seinen Rucksack nicht zurück und konnte die nächste Apotheke nicht schnell genug erreichen. Sein Körper konnte den Blutzucker ohne das Medikament nicht regulieren. Sein Zustand verschlechterte sich sofort. Er wurde bewusstlos, Hilfe wurde gerufen, doch er fiel ins Koma und kam in ein Krankenhaus. Doch für eine Rettung war es zu spät. Ali starb am 31. August 2023 in einem türkischen Krankenhaus. Er wurde 23 Jahre alt. An seiner Seite sein Freund Aras. Ali hat niemandem etwas getan, war ein guter Mensch, wollte einfach einen Alltag haben, welcher für uns normal ist. Diesen Wunsch bezahlte er mit seinem Leben.

Alis Beerdigung in Khanke

Die anderen rieten Aras, seinen Weg alleine fortzusetzen. Es einfach nochmals zu versuchen. Aras wollte nicht. Er hatte gerade seinen besten Freund verloren. Er hatte andere Sorgen als seinen Alltag: „Nein. Ali hat auf mich und mein Visum gewartet. Ich werde alleine nicht gehen und komme auch zurück.“ Aras begleitete seinen Freund zurück in die Heimat, nach Khanke. Gestern, am 04. September 2023, wurde Ali in Khanke beerdigt. Heute war ich dort. 

Seine Freundin reiste sofort aus Deutschland an, um das Versprechen der Hochzeit einzulösen. Sie brachte zwei goldene Ringe mit. Ihren Ring trug sie, den anderen steckte sie dem verstorbenen Bräutigam an, der nie Ehemann werden durfte.

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