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Kurdische Flüchtlinge in Belarus

An der EU-Außengrenze zu Belarus sitzen Tausende Flüchtlinge im Winter im Niemandsland fest. Viele von ihnen sind Kurden aus dem Irak und Syrien, welche aus machtpolitischem Kalkül heraus in diese Situation gelockt wurden. Doch wer flieht warum über diese Route?

Flüchtlingscamp Domiz in Kurdistan (Irak)

Der Ryanair-Zwischenfall

Am 23. Mai 2021 wurde der Ryanair-Flug FR4978 von Athen (Griechenland) nach Vilnius (Litauen) im belarussischen Luftraum abgefangen, von einem MiG-29 Kampfflugzeug begleitet und zur Landung in Minsk gezwungen. Dort wurde ein belarussischer Dissident, welcher sich an Bord befand, festgenommen und später gefoltert. Es folgten viele Sanktionen des Westens gegen Belarus, welches hier mit Zustimmung Russlands gehandelt haben dürfte.

Um dem Ansehen der EU zu schaden, begann Belarus bald subventionierte Flüge aus Krisen- und Kriegsgebieten in ihr Land anzubieten. Zusätzlich wurde und wird es Schleppern ermöglicht, Flüchtende aus den Gebieten an die polnische Grenze zu bringen. Das Ziel ist, medienwirksame Bilder von der Zurückweisung zu erzeugen oder Unmut in der EU-Bevölkerung über die Flüchtenden zu erzeugen. Beides funktioniert nur, wenn die Personen an der Grenze zurückgewiesen werden und wenn es in der EU Menschen gibt, welche Flüchtende ablehnen. Der belarussische Plan ging auf, die Bilder verbreiten sich in den Medien, der Unmut in Teilen der Bevölkerung wächst. 

Kurdistan ist nicht gleich Kurdistan

Die Situation in den verschiedenen kurdischen Gebieten ist sehr unterschiedlich. Es gibt die staatlich unterdrückten Kurden in der Türkei und dem Iran, sozialistische, selbstverwaltete kurdische Gebiete in Nord-Ost Syrien (auch „Rojava“ genannt) und die autonomen, demokratisch-kapitalistischen kurdischen Gebiete im Norden des Irak. Dass iranische und türkische Kurden fliehen wollen, ist oft nachvollziehbar. In den kurdischen Gebieten in Syrien gibt es weiterhin viele Probleme, welche auf die schlechte wirtschaftliche Situation und den abklingenden Krieg gegen den IS zurückzuführen waren, nun kommen Angriffe durch die türkische Armee und deren Söldner hinzu. Das Verhältnis zum Diktator Assad ist alles andere als stabil.

Dass viele Menschen hier keine Zukunft sehen, ist ebenfalls naheliegend. Viele der syrischen Kurden flohen in den vergangenen Jahren nach Kurdistan-Irak. Dort gibt es eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament sowie eigene Sicherheitskräfte, welche unabhängig vom Rest des Irak agieren. Es gibt Strom, Internet, Shoppingmalls und Freizeitparks. Die Großstädte erinnern an Europa, auch wenn es weiterhin viele Probleme in der Region gibt. Warum sollte man also von hier fliehen? 

Warum aus Kurdistan-Irak fliehen

Erbil, Hauptstadt von Kurdistan (Irak)

Auf dem überfüllten Parkplatz lässt man den Schlüssel einfach am Auto, damit der Zugeparkte den Wagen wegfahren kann. Wenn man Trinkgeld gibt kommt es immer wieder vor, dass einem der Kellner folgt und sagt „Sie haben Ihr Geld vergessen!“. Auf dem Markt gibt es von frischen Feigen bis zum iPhone 13 alles, was man brauchen könnte. 

Aber es gibt kein soziales System, wie bei uns. Die Infrastruktur ist noch zu schwach und die Wirtschaft hängt maßgeblich von Öl ab. Ein Großteil der Bevölkerung arbeitet im öffentlichen Dienst oder ist von staatlichen Verträgen abhängig. Fällt man aus diesem System heraus oder hat man keine Unterstützung in der Familie, kann man sehr viel schneller arm und einsam werden. Zusätzlich gibt es viele Menschen aus anderen Gegenden, welche dort keine Perspektive sehen. Sie haben keinen Anteil an dieser aufstrebenden Region, in welche Kurden aus allen Teilen der Welt zurückkehren, um sich hier ein gutes Leben aufzubauen. 

Genau diese Menschen, welche sich abgehängt fühlen, werden in gezielten Medienkampagnen angesprochen. Ihnen wird sozusagen eine „einfache“ Fahrt ins Paradies angepriesen. Um diesen Kampagnen zu folgen, muss man naiv oder verzweifelt genug sein, um das glauben zu wollen. 

Die Bundesregierung hatte seit langem gute Verbindungen zur kurdischen Regionalregierung und könnte diesen Einfluss für viel Positives nutzen. Jedoch hat man sich nach und nach von der Regionalregierung abgewandt, ohne davon einen Vorteil zu haben.

Menschen vor Ort

Kinder im Flüchtlinsgcamp

Wir reisten nach Kurdistan-Irak, um vor Ort mit Menschen über ihre Gründe zu sprechen. Sowohl in den Großstädten Duhok, Erbil und Sulaymaniyah, als auch in den großen Flüchtlingscamps in Khanke und Domiz waren die aktuellen subventionierten Angebote ein Thema.

Ahmad, ein syrischer Kurde, erklärt: „Natürlich ist das Leben im Camp nicht toll. Mein Kind ist fünf, es kennt nichts anderes. Wir gucken hier abends auch amerikanische und europäische Sitcoms – zum Spaß und um Englisch zu lernen. Und so ein Leben hätten wir alle gerne. Freunde von mir waren 2015 in Deutschland. Sie sagen, dass es ein tolles Land ist und sie von wundervollen Menschen aufgenommen wurden. Aber sie mussten die ersten Wochen in einer Turnhalle schlafen. Sie sind große Häuser gewohnt. Die Wohnungen in Deutschland sind klein, manchmal wohnt eine ganze Familie auf 70 qm – und nur, wenn man eine gute Arbeit hat. Sie durften aber nicht arbeiten. Der Alltag war nicht der aus den Sitcoms. Sie saßen herum, hatten Langeweile und mussten schließlich zurück, weil sie nicht beweisen konnten, dass sie hier verfolgt werden.“ – Ahmad wirkt dabei erschöpft und lustlos.

Er sagt, er hat die Geschichte oft Journalisten erzählt. Da er gut Englisch spricht, wird er immer vorgeschoben. Aber egal, wie oft er die Geschichte erzählt, es ändert sich nichts für ihn und er sieht keinen richtigen Ausweg. „Sieh dich um: Ich habe mein eigenes Einzimmerhaus, Strom, Essen, Internet und ich kann zum Arzt gehen. Das ist toll. Aber ich habe keine Perspektive. So wie die anderen hier. Ich finde ab und zu einen Job. Der ist anstrengend und schlecht bezahlt. Ich kann in kein anderes Land, weil mir niemand direkt eine Waffe an den Kopf hält. Ich kann verstehen, dass die Leute ein besseres Leben wollen. Das will ich auch. Das wollen alle hier. Aber wo sollen wir hin? Europa will uns auch nicht.“

Zur Sicherheit frage ich nach, ob er das Angebot also nicht wahrnimmt. Er überlegt. „Was habe ich zu verlieren? Im Zweifel schicken sie mich halt zurück. Aber will ich meiner Familie so etwas zumuten? Auch nicht.“ Wir verabschieden uns voneinander. Er gibt mir mit auf den Weg: „Sei froh um deinen Pass – viele da drüben wissen gar nicht zu schätzen, dass der unbezahlbar ist.“

In Erbil traf ich auf eine Schülerin, welche mit mir Englisch üben wollte. Das ist hier nichts ungewöhnliches. Immer wieder sprechen einen auch Eltern an, welche selber kein Englisch sprechen und bitten einen durch zeigen, mit ihren Kindern Englisch zu sprechen. Die Kinder sind meist sehr schüchtern, man wechselt ein paar Worte und zieht weiter. Das Mädchen sagte, dass sie auch bald nach Deutschland wollen. Ihr größerer Bruder kam hinzu und fragte mich nach Deutschland aus. Dann erklärten sie, dass sie den „einfachen Weg“ über Polen nehmen wollen. Auf Rückfrage erklärten sie, dass sie den Weg über Belarus meinen.

„Man kann von Minsk mit dem Bus zur Grenze, dann mit einem Bus bis Berlin. Dann müssen wir uns dort schnell eine Arbeit und eine Wohnung suchen.“ Sie fragten mich, ob das in Deutschland einfach ist. Ich erklärte das Problem mit Asyl, Arbeitsrecht und speziell Wohnungen in Berlin – in anderen Städten kann es einfacher sein. „Dann melden wir uns halt nicht an,“ sagen sie und lachen. Auf eine genauere Erklärung hin können sie sich nicht vorstellen, dass man ohne einen legalen Status und ohne Arbeitserlaubnis keine wirkliche Chance auf Arbeit und vor allem nicht auf eine Wohnung oder eine Zukunft hat. In ihrer Vorstellung wollen sie erst mal nach Deutschland und ein bisschen arbeiten und sich dann um ein Visum kümmern. 

Die Situation in Belarus ist auch in den kurdischen Medien ein Thema. Auch dort wird nicht geschönt, wie die Lage an der Grenze ist.

Die beiden erklären mir, dass sie das gehört haben, aber bei ihnen wird es schon klappen. Was soll man ihnen da noch erklären? Mehr als ihnen viel Glück zu wünschen bleibt einem nicht. 

Die deutsch-irakische Politik 

Lange hat die Bundesregierung mit der kurdischen Regionalregierung sowie der irakischen Zentralregierung parallelen Kontakte gepflegt. Seit rund zehn Jahren steigt der Einfluss des iranischen Regimes auf die irakische Zentralregierung. Die iranischen Milizen sind in weiten Teilen des Landes mächtiger als die irakische Armee. So befindet sich die Großstadt Mossul seit Jahren klar in iranischer Hand.

Dennoch hat sich die Bundesregierung immer mehr zur Zentralregierung hin und von der kurdischen Regionalregierung abgewandt. Zusätzlich gab es in Deutschland antikurdische Medienkampagnen, wie der angebliche Verkauf der deutschen Waffen durch kurdische Peschmerga, welche sich als unwahr herausstellten

Neben den iranisch kontrollierten Hashd-al-Shaabi Milizen gibt es seit Jahren Angriffe durch die PKK auf Kurdistan-Irak. Die PKK zieht sich im Kampf mit der türkischen Armee über die Grenze nach Kurdistan-Irak zurück. Die türkische Armee folgt ihnen, die kurdisch-irakische Zivilbevölkerung muss fliehen.  

All diese Entwicklungen beginnen faule Früchte zu tragen: Teile der Kurden fühlen ich im eigenen Land nicht mehr sicher. Denn es ist kein Land, kein souveräner Staat. Es ist eine Region, welche von der irakischen Zentralregierung unter iranischer Kontrolle abhängig ist. Es macht sich bei ihnen ein Gefühl von Instabilität und Unsicherheit breit. Im Alltag ist man sicher und die Lage ist stabil, aber sie fragen sich, wie lange es so bleibt. Immer, wenn es zu Angriffen auf die Kurden kommt, zieht sich der Westen zurück. Oder er hilft gegen große Zugeständnisse. 

Die Bundesregierung hatte oft die Chance, auf diese Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Man hätte einen Flüchtlingsdeal mit Kurdistan-Irak statt mit der Türkei machen können. Die Nachbarn aus Syrien würden dann statt in den großen Camps in kleine Städten wohnen, die Infrastruktur wäre modernisiert worden, das Leben vor Ort wäre besser und es gäbe weniger Grund weiter zu ziehen. Man hätte in der aktuellen Situation einen engeren Kontakt suchen können, man hätte mehr Solidarität zeigen können, um das aufkommende Problem sofort zu lösen, man hätte mehr Solidarität zeigen können, als iranische Milizen und die irakische Armee 2017 Kurdistan-Irak angriffen.

Stattdessen setzt man auf eine Marionettenregierung im Irak (Bagdad) unter iranischem Einfluss. 

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