Mossul: Ein dystopisches Stilleben
Mossul liegt nur eine Autostunde entfernt von Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Iraks. In Erbil hat der Freizeitpark Majidi-Land geöffnet, Familien sitzen mit einem Eis in der Hand vor einer Shoppingmall, auf dem Basar wird gefeilscht, wie vor tausenden von Jahren. Erbil ist seit mehr als sechstausend Jahren durchgehend bewohnt, auf die Kultur des friedlichen Zusammenlebens legt man hier viel wert.
Richtung Mossul
Wir fahren Richtung Westen, durch kleiner werdende Orte die oft nur aus ein paar Straßen rechts und links der Durchgangsstraße bestehen. Um die großen Städte herum und auf den Überlandstraßen gibt es militärisch besetzte Checkpoints. Bei diesen wird etwa so kontrolliert, wie früher auf den innereuropäischen Grenzen: Was unauffällig aussieht wird durchgewunken, wenn man sich nicht sicher ist, wird nachgefragt und kontrolliert. Hier kontrollieren die Peschmerga, die Armee der Autonomen Region Kurdistans. Sie sind Teil der irakischen Streikkräfte und werden seit 2014 auch von der türkischen Armee ausgebildet und ausgerüstet.
Auf den Checkpoints weht die kurdische Flagge. Die Peschmerga sind regelmäßig überraschend gut gelaunt: „Mein Freund! Der Freizeitpark ist dahinten! Sicher, dass du in die richtige Richtung fährst?„. Nachdem wir bestätigen auf dem richten Weg zu sein runzelt er die Stirn „OK, aber seid vorsichtig! Und meldet euch, wenn ihr zurück kommt! Dann kann ich ruhiger schlafen„. Früher wusste ich mit solchen Gesprächen nicht viel anzufangen. Doch nach Jahren in der Region habe ich gelernt, dass es ernst gemeint ist. Es soll kein Spaß sein, keine Floskel. Es ist höflich, auf dem Rückweg kurz anzuhalten und Bescheid zu sagen. Ein ausländischer Journalist in der Gegend fällt auf und die Leute machen sich Sorgen. Um mich und um ihren Ruf als sichere Gegend. In Deutschland denken viele Menschen beim Wort „Irak“ automatisch an Bomben und Krieg. Hier in der Region kennt man den Unterschied zwischen dem gefährlichen „Irak“ und dem sicheren „Kurdistan“. Und die Grenze verläuft zwischen Erbil und Mossul.
Die „Grenze“
Der Checkpoint nach Mossul ist wie eine normale Grenze aufgebaut: Auf der einen Seite der Checkpoint der Peschmerga, auf der anderen Seite … ja, wer eigentlich? Das herauszufinden ist einer der Gründe für diese Fahrt. Seit Jahren können keine westlichen Journalisten mehr in die Stadt. Die NGOs aus meinem Umfeld können seit Monaten nicht mehr rein. Mossul wurde von der Hashd-Al-Shabii übernommen. Einer Art heterogenen schiitischen Miliz, welche aus rund 70.000 Soldaten in fünf bis zehn Gruppen mit überlappenden, aber verschiedenen Interessen besteht. So kommt es immer wieder vor, dass sich einzelne Gruppen innerhalb der „Hashd“ gegenseitig angreifen.
Die irakische Armee wollte den Zugang zu Mossul, scheiterte aber in den Verhandlungen. Eine der Milizen hatte mir 2016 in Chanaqin Probleme bereitet – um mich dann problemlos durch ihr Gebiet fahren zu lassen. Es kommt auf die Tageslaune und die jeweilige Person an. Es kann sehr gut oder sehr schlecht laufen. Sie stehen unter der verlängerten Kontrolle der iranischen Regierung und arbeiten mit syrischen und libanesischen schiitischen Gruppen zusammen. Der iranische Kommandant aller Einheiten im Ausland, Qasem Soleimani, war wenige Tage bevor ich nach Mossul fuhr in Baghdad durch eine amerikanische Drohne getötet worden.
Das Thema ist aber noch komplizierter, da auch die vom Iran gegründete Badr-Organisation teil der Hashd ist. Und sie verwalten wiederum Teile der irakischen Armee und Teile der irakischen Polizei, da sie hunderte Mitglieder in den Ministerien, bis hin zum Äquivalent von Staatssekretären, positioniert haben. Am Checkpoint könnten also irakische Polizisten, irakische Armee oder verschiedene schiitische Milizen stehen.
Zwischen beiden Checkpoints sind etwa hundert Meter Niemandsland. Hier findet der kleine Grenzverkehr statt. Ware, wie Fensterrahmen, Teppiche und große Kartons werden von einem Pickup zum anderen übergeben. Taxifahrer der einen Seite übergeben Gäste an Taxis auf der anderen Seite. Das Ganze auf eine schmalen, kaputten Asphaltstraße mit großen Schlaglöchern. Daneben ist ein matschiger Seitenstreifen, der sich zum Ende hin immer tiefer neigt. Auf dem Checkpoint weht eine irakische Flagge, was nur bedingt hilfreich ist. Diese zeigt auch an, dass man Kurdistan verlässt. Sie zeigt nicht unbedingt an, wer aktuell den Checkpoint besetzt. Daneben wird eine Flagge der shiitisischen Milizen sichtbar.
Als ich dran bin, mustert mich der der zuständige Soldat kritisch, fragt nach den notwendigen Genehmigungen für den „Grenzübertritt“ in seine Gegend und fragt, was ich auf der anderen Seite will. Sein Vorgesetzter und dessen Vorgesetzter kommen. Sie erklären mir: „Mossul ist sicher. Dafür sorgen wir ja. Aber der Verkehr ist chaotisch. Ich glaube es ist besser, wenn wir dich fahren. Dann kannst du in Ruhe Fotos machen„. In so Situationen ist es immer schwierig abzuwägen, was hinter der Aussage steckt. Bieten sie sich gerade wirklich als Fremdenführer an? Oder steckt etwas anderes dahinter? Und warum kamen die (journalistischen) Kollegen dann nicht rein? Also wechseln meine Begleitung und ich das Fahrzeug. Die schusssicheren Westen werden mit einem mitleidigen Lachen kommentiert: „Die braucht ihr nicht, aber nehmt sie ruhig mit„. Den Autoschlüssel soll ich am Auto lassen. Aus westlicher Sicht ist das irritierend, hier macht man das aber selbst in einigen Parkhäusern. So kann jemand anderes das Auto bewegen, wenn es im Weg steht. Gestohlen wurde mir dabei noch nie etwas.
Ein dystopisches Stilleben
In Mossul hatte ich kein konkretes Ziel. Ich wollte das Leben auf der Straße mitbekommen, den Zustand der Stadt und der Brücken sehen, einfach ein Gefühl dafür bekommen, was hier los ist. Das letze Mal war ich 2014 hier und da nur in einem Vorort.
Wir fahren vorbei an eingestürzten Häusern, an Trümmerbergen, Bombenkratern und von Explosionen verbogenen Autos. Innerhalb einer Stunde ist es so, als sei man auf einem anderen Planeten gelandet. Eine Frau mit Kind läuft vorbei und starrt mich an. Männer im Taxi winken verlegen, die Verkehrspolizei guckt mir lange hinterher. Sie können mit mir ebensowenig anfangen, wie ich mit der ganzen Situation. Aber ich muss mich auf die Eindrücke konzentrieren und überlegen, was ich hier eigentlich will. An einer Stelle ist eine große Fläche voller Trümmer um die herum etwas aufgeräumt wurde. Wir halten an und blicken auf einen weiteren Stahlbetonberg. „Das war das Büro des Bürgermeisters,“ erklärt ein Einheimischer. Seine Stimme ist dabei weder traurig noch fröhlich. Es ist einfach eine Information – Alltag für ihn.
Die älteren Menschen, die hier leben, kennen noch die Zeit unter Saddam, dann unter der US-Besetzung, anschließend unter der neuen irakischen Regierung, kurz unterm IS und jetzt unter der Hashd. Immer wurde die Stadt aufgebaut und wieder zerstört, immer gab es Kämpfe, immer starben Leute, die man kannte – Alltag. Freiheit, wie wir sie kennen, gab es für diese Menschen nie. Sie haben sich auf ihre Weise damit arrangiert. Es haben wieder kleine Geschäfte auf, Menschen leben in den Ruinen. Nicht viele, aber es gibt Bewegung auf der Straße.
An Wiederaufbau ist nicht zu denken. Die irakische Regierung wäre zuständig, hat aber keine Kontrolle mehr über das Gebiet. Die Hashd braucht die Stadt, um die von ihnen kontrollierten Gebiete zu verbinden und will relative Sicherheit in der Stadt, baut aber nichts wieder auf. Einige Leute haben begonnen selber etwas aufzubauen. Sie besorgen sich über den kleinen Grenzübergang Material oder suchen es sich in den Trümmerbergen zusammen.
Sie sind höflich, aber zurückhaltend. Mit einem Fremden sprechen kann Ärger geben, wenn es der falsche Fremde war. Unhöflich sein verbietet ihre Kultur eigentlich. Also lächeln sie höflich und gehen weiter. Etwa fünfzig Meter weiter steht eine Gruppe Kindern und beobachtet uns. Für sie ist es vermutlich am interessantesten, was heute passiert. In der Ferne hört man einen kleinen Flugzeugmotor – eine Drohne. Meist beobachten sie nur. Selten fliegt von irgendwo eine Rakete. Alle blicken kurz hoch. „America“ rufen die Kinder und zeigen zum Himmel.
Ich frage mich, wie das Leben der Kinder in fünf, zehn, zwanzig Jahren aussieht. Werden sie vor diesen Trümmerbergen stehen und es als eine Chance begreifen, ihren Lebensweg selber zu zeichnen, das Land gemeinsam aufzubauen und friedlich zusammen zu leben? Oder resignieren sie, weil sie nie ihre Stadt verlassen haben, sie von der Welt vergessen wurden und sich nicht einmal jemand zuständig fühlt, ihnen neue Fenster zu schicken? Wenn man sich diese Stadt ansieht, die sinnbildlich für weite Teile des Iraks steht denkt man unweigerlich: Was soll hier noch passieren? Was ist die Exit-Strategie für die derzeitige Situation? Wer ist zuständig? Und warum finden wir es in Deutschland völlig normal, dass die Welt hier, vier Flugstunden von München, so kaputt ist?
Baghdadis Moschee
„Das ist eine Moschee von Baghdadi [dem langjährigen Leiter des IS]. Gegenüber saß sein Sicherheitsdienst.“ sagt der Begleiter und zeigt auf eine abgesperrte Straße, die eine Moschee auf der einen Seite und Wohnhäuser auf der anderen hat. Gerüchte besagen, dass das Haus vermint ist, um Plünderungen zu verhindern. Aber die Informationslage ist eher dünn. Ein älterer Mann, der auf der anderen Straßenseite arbeitet, schüttelt den Kopf. „Keine Minen! Nur Gerüchte! Alles sicher!“ und zeigt mir den Daumen hoch. Wir können die abgesperrte Straße passieren und in das einsturzgefährdete Gebäude gehen. Vor vier Jahren gab es hier einen Luftschlag, Teilwiese hängen die Treppen nur noch an den Metallbewehrungen.
Es gibt keine Türen und Fenster mehr. In dem, was ich für den Eingang halte, liegt Schutt und Dreck. Dahinter steht eine Couch quer, zum Eingang gerichtet. Wenn man dort sitzt, hat man den Durchgang zur Straße im Blick. Die Couch ist halbwegs sauber, sieht genutzt aus. Normalerweise ist dieses Gebäude nicht zugänglich und die Wachen sitzen dort, wird mir erklärt.
Je höher man steigt, desto kaputter werden die Treppen. Auf das eingestürzte Dach kann man nur klettern. Ein Teil des Daches hängt bis in die obere Etage runter, was den Weg einfacher macht. Nicht sehr vertrauenerweckend, aber es geht. Vom Dach aus kann man auf die zerstörte Moschee blicken. In der anderen Richtung in einen Hinterhof, in dem drei verbogene und verrostete Auto-Wracks liegen. Das sollten fahrende Bomben für Selbstmordattentäter werden. Ich blicke in hunderte oder tausende dunkle Fenster in der gesamten Umgebung. Vermutlich der einzige westliche Mensch weit und breit. Mir fällt ein, dass meine schusssichere Weste noch unten im Auto liegt. Aber ich wollte möglichst wenig auffallen – sofern das hier überhaupt geht. Der Blick in den zerstörten Hof ist wie der Blick auf ein dystopisches Stilleben. Im Gebäude selber liegen noch verpackte, selbstgedruckte und gebrannte DVDs von Hollywoodfilmen, einige VHS-Kassetten und ein ganzer Raum voll Nähmaschinen. Davor liegen Schaufensterpuppen. Vermutlich befand sich in den Räumen vorher eine Schneiderei.
An einem Fenster sitzt ein Teddy. Der Teddy im zerstörten Haus erinnert mich an das Bild einer Puppe, die in Chernobyl einsam am Fenster sitzt. Unweigerlich geht mir die Frage durch den Kopf, was mit den Kindern geschehen ist. Beim Luftschlag getötet? Vom IS getötet? Bei der Befreiung Mossuls getötet? Oder Glück gehabt? Hat es noch eine Familie? Dinge, die man sich nicht fragen sollte, wenn man die Antwort nicht wissen will.
Auch der Rest der Stadt ist irgendwie in Bewegung, aber nicht lebendig. Es liegen immerhin nicht mehr überall Tote rum. Es gibt Strom. Es gibt Essen. Aber vor allem gibt es Leid.
Zurück, bevor es dunkel wird
Mein Begleiter schlägt vor, dass wir zurück fahren, bevor es dunkel wird. Dann kann es „schwieriger“ werden – was auch immer das im Detail heißen soll. Er bringt mich zurück ins Niemandsland zwischen den Checkpoints, wo ich das Fahrzeug wechsele. Es steht woanders, ist aber noch da. Die Hashd Leute verabschieden sich per Handschlag und wünschen mir eine gute Fahrt.
Dreißig Minuten später passiere ich den Checkpoint der Peschmerga, an dem ich mich wieder melden sollte. Die Soldaten kommen und fragen: „Wie sieht es dort aus? Kommen die Leute zurück? Gibt es genug Essen?“. Sie machen sich Sorge um die, die auf er anderen Seite leben.
Eine Stunde später sehe ich die Fotos durch – bei Nutella-Banana-Pencake in einem Cafe in Erbil. In zwei Tagen geh es zurück nach Berlin. Zurück in eine ganz andere Welt die so nah und doch so fern ist.
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